You Only Live Twice


Für ihr zweites Künstlerleben hat sich die 6Oer-Jahre-lkone Nancy Sinatra ein Comeback-Album auf den Leib schreiben lassen. Und zwarvon den richtigen Musikern: Morrissey, Sonic Youth, Jon Spencer und Jarvis Cocker.

London, England. Nancy Sinatra und ihr Manager John Dubuque sitzen in der Suite eines Luxushotels. Das Telefon klingelt. Dubuque steht auf, nimmt das Gespräch entgegen, spricht kurz, legt den Hörer zur Seite und wendet sich zu Nancy Sinatra: „Da ist ein Typ namens Morrissey unten in der Lobby, er will dich sprechen.“ Nancy Sinatra fällt die Kinnlade herunter: „Morrissey!!! Er soll raufkommen.“ Ein paar Minuten spater steht der Gast in der Suite, mit einem Stapel LPs und Singles unter dem Arm-alte Nancy-Platten. „Ich wünsche mir seit Jahren, dich endlich einmal zu treffen „, sagt er mit leiser Stimme, „deine Musikist sehr wichtigfür mich “ und reicht die Platten herüber, die Nancy Sinatra alle signieren wird. Das war 1995.

Neun Jahre später sitzt Nancy Sinatra wieder in einem Londoner Hotel und erzählt diese Anekdote. Sie erzählt sie gern, weil sie stolz daraufist, dass die Musik, die sie vor bald 40 Jahren aufgenommen hat, die Zeit überdauert hat, dass diese Musik für prominente Fans wie Morrissey, Jon Spencer, Calexico, Jarvis Cocker und Thurston Moore so wichtig ist, dass sie ein Album mit der 64-Jährigen aufgenommen ha ben. Ein Album, das Nancy für ein paar Wochen wieder in die Schlagzeilen bringen wird.

Auch wenn es dieses Album, NANCY SINATRA, nicht gäbe oder wenn es ein Duettalbum mit Chris de Burgh oder Joe Cocker geworden wäre oder wenn Nancy wieder eines veröffentlicht hätte, das so unterirdisch schlecht wäre wie ihre beiden letzten, ONE MORE TIME und CALIFORNIA GIRL, die ihr heute peinlich sind, – ihr Ruf als Pop-Ikone wäre nicht gefährdet. Auch heute abend findet irgendwo auf der Welt eine Studentenparty statt, auf der, wenn die Stunde vorgerückt ist und der Biervorrat knapp wird, „These Boots Are Made For Walking aus der Anlage schnarrt. Wetten? „Boots“ war ein Riesenhit, der von schlauen Menschen retrospektiv gerne als protofeministische Hymne bezeichnet wird, weil zum ersten Mal ein weißes Mädchen die Unabhängigkeit der Frau in einem Song thematiserte. Ein Mädchen, das im Promofilm zum Song in Minikleid und Stiefeln einem Mann Rache androht, weil er sie betrügt – vor 40 Jahren ein mittleres Skandälchen. Nancy Sinatra mag sich nicht als Erfinderin der Frauenbewegung feiern lassen; sie sagt, es sei „ein Mittelding aus Absicht und Zufall“ gewesen, dass ihr der Stempel der Feministin aufgedrückt wurde. „Meine Mutter hatte fünf Schwestern. Als ich ein kleines Mädchen war, aßen wir an den Sonntagen immer gemeinsam zu Mittag-mit den Ehemännern, Kindern, Cousins, Cousinen und Großeltern. Zwei meiner Tanten beklagten sich darüber, dass sie in ihrem Job gleich viel oder auch mehr leisteten als ihre männlichen Kollegen, dafür aber weniger Lohn erhielten. Das war Dauer-Gesprächsthema. Diese Ungerechtigkeit ist mir mein ganzes Leben im Gedächtnis geblieben. Als die Leute dann meinten, dass ich mich für die Rechte der Frauen einsetze,fand ich das gut. Ich engagiere mich immernoch für Frauenrechte. Und ich glaube, dass ich damit meinen Kindern ein gutes Vorbild bin.“

Aber „Boots“ ist auch ein verdammt guter Song, mit seinem markanten Bassintro. Ein Song, den Nancy auf Teufel-komm-raus und gegen den Willen ihres Songschreiber-Partners Lee Hazlewood aufnehmen will. Der erfindet ständig neue Ausreden: „Der Song hat nur zwei Strophen, er ist noch nicht fertig“. Nancy bleibt hartnäckig, bittet Hazlewood darum, noch eine Strophe zu schreiben, argumentiert: „Der Song enthält soviele Schimpfivörter, er wirkt so gemein, wenn er von einem Mann gesungen wird. Wenn ein Mädchen ihnsingt, wird er sexy und strahlt ein vollkommen anderes Gefühl aus.“ Hazlewood lässt sich dann doch erweichen. „Damals war meine Single ‚So Long Babe‘ herausgekommen.Sie schaffte esgerade so in die Charts, Nummer 98 oder so. Es war sehr wichtig, dass die nächste perfekt wird. Weil die Radiosender darauf warteten. Ich wusste, dass ,Boots‘ ein Hit werden würde. Aber Lee stänkerte sogar noch herum, als wir denSong aufnahmen. Er meinte: ,Das ist die B-Seite‘. Und ich: ,Bist du verrückt?'“ Das Handy klingelt. Nancy kramt in ihrer Handtasche. „Entschuldigung, vielleicht ist es meine Mutter, oder meine Tochter.“ Sie sieht aufs Display und flucht: „Es wird keine Nummer angezeigt. Ich hasse das. Ich möchte wissen, wer mich anruft“, und weist das Gespräch ab. Der unbekannte Anrufer hat sie aus dem Konzept gebracht. Eine gute Gelegenheit, um auf ihr Lieblingsthema zurückzukommen: „Die Leute sagen, Morrissey sei schüchtern. Ich kann schon eine gewisse Schüchternheit bei ihm erkennen, aber ich kenne auch seine mutige, selbstbewusste Seite, die ihn vorantreibt. Ich war damals so aufgeregt, als wir uns trafen. Seitdem sind wir befreundet.“ Und Nachbarn. Sie wohnen zehn (Auto-)Minuten voneinander entfernt in Los Angeles. Man trifft sich zum Kaffee, zum Abendessen. Irgendwann bittet Sinatra Morrissey darum, den Smiths-Song „Bengali In Platforms“ aufnehmen zu dürfen. Er lehnt ab. Sie wird ihn weiter bitten, und er wird weiter „nein “ sagen. Jahre später schickt er eine Demoversion von „Let Me Kiss You“ vorbei. Auf dem Begleitschreiben steht: „Wenn du diesen Song aufnimmst, wirst du wieder in die Charts kommen – zum ersten Mal seit 1972.“ Nancys 30-jährige Tochter AJ Azzarto nimmt Morrisseys Vorlage auf: „Mom, du solltest dir die Musik der Leute anhören, die deine Fans sind, die Leute aus meiner Generation!“ Daraus entwickelt sich die Idee zum Allstar-Album Nancy sinatra. Dabei kennt Mom einige von diesen Leuten, die ihr später die Songs auf den immer noch zierlichen Leib schreiben werden, schon längst: Mit Thurston Moore und Kim Gordon hat sie seit den 9oern Kontakt. „Ich bin großer Sonic-Youth-Fan, ich mag die Dissonanzen und das Verzerrte in ihrer Musik.“ Und Jon Spencer liegt ihr seit Jahren in den Ohren, weil er ein paar Songs mit ihraufhehmen will. Und jetzt liegt ihr die Promoterin in den Ohren, weil die Interview-Zeit überzogen ist – schnell noch ein altes Vinyl-Album signieren lassen, und eine Anmerkung: „Ich finde übrigens Ihre Version von ‚Let Me Kiss You‘ besser als das Original. Aber sagen Sie Morrissey nichts davon.“ Nancy grinst: „Das kann ich ihm ruhig sagen, erfindet das nämlich auch.“