Zu viel Ekstase


CSS hatten viel Spaß, viel Sex und viel Schnaps in den letzten zwei Jahren, aber, verdammt nochmal, sie haben auch gelitten! Mit dem neuen Album donkey wollen die Brasilianer ein neues Kapitel aufschlagen.

Siehst du?“, fragt Lovefoxxx und zieht die Oberlippe hoch, um eine abgebrochene Ecke an ihrem Schneidezahn zu zeigen. Der Aufstieg, der aus einer albernen Horde brasilianischer Kunststudenten eine der populärsten Popgruppen der Welt gemacht hat, ist nicht spurlos an CSS vorübergegangen. „Ich auch! Ich hab mir auch einen Zahn abgebrochen“, sagt Schlagzeuger, Bassist und Songschreiber Adriano Cintra. „In Köln. Ich war betrunken und hab gesagt, Ah! Ich werde meinen Laptop wegpacken.'“ – „Nein, du hast gesagt: ,Ich werde meinen Laptop beißen'“, korrigiert Lovefoxxx. “ Na gut. Ich hab jedenfalls reingebissen und mir den halben Zahn abgebrochen.“

Die endlose Tour, die CSS mehrfach durch Europa, die USA und Asien geführt hat, während ihr Debüt cansei de ser sexy veröffentlicht, wieder- und schließlich noch ein drittes Mal wiederveröffentlicht wurde, war ein einziges zu viel: zu viele Konzerte in zu vielen Städten, zu viel Alkohol, zu viele Interviews und viel zu viel Jetlag. Dazwischen: zu viel Euphorie und zu viel Ekstase, weshalb die Band trotz aller Belastungen nicht die Notbremse ziehen wollte.

„Sehr wahrscheinlich haben alle anderen Mitglieder der Band in diesem Augenblick Sex“, schrieb eine der jungen Frauen 2007 nach einer Show in London mitten in der Nacht in einem MySpace-Bulletin. Das Leben der Hardest Working Band In Showbusiness war ein stetiges Auf und Ab, ein Wechsel aus Rausch und Rehabilitation, aus Höhepunkten und postkoitaler Depression. „Wir hätten mehr Pausen machen sollen“, sagt Lovefoxxx. „Wir haben die ganze Zeit aus dem Koffer gelebt. Wenn wir in London waren, konnte ich bei meinem Freund [Simon von den Klaxons, Anm.d.R.] wohnen, aber die anderen hatten kein Zuhause. Das war irgendwann unfassbar anstrengend.“

CSS haben Konsequenzen gezogen: Bassistin Ira Trevisan ist im April ausgestiegen (sie sagt: sie möchte sich auf ihre Modedesign-Karriere konzentrieren und, um den Planeten zu schonen, weniger fliegen; der Rest der Band sagt: etwas ganz anderes – dazu später mehr), die verbleibenden Mitglieder haben Wohnungen in London bzw. New York (Luiza) angemietet. Vor allem aber haben sie sich von ihrem langjährigen Tourmanager Eduardo Ramos getrennt, den sie für ihre Überanstrengung – und noch so einiges mehr – verantwortlich machen. Im Laufe der letzten Monate hat sich bei Lovefoxxx und Adriano viel Ärger angestaut, dem sie backstage bei Rock am Ring im Gespräch mit dem musikexpress in großem Stil Luft machen. „Wir hatten keine Ahnung, wie das Business funktioniert. Er wurde unser Manager und war mit unserer Bassistin [Ira] zusammen“, sagt Lovefoxxx. „Die haben mit unserem Geld ein Apartment in Paris gemietet. Sie hatte immer teure Designer-Klamotten, und wir hatten kein Geld, uns was zu trinken zu kaufen“, meint Adriano. „Genau! Ich hatte kein Geld, zum Arzt zu gehen!“, fügt Lovefoxxx an, um dem Ganzen noch etwas mehr Dramatik zu verleihen. Die beiden erzählen aufgeregt, fallen sich – fast fröhlich – gegenseitig ins Wort, und als Lovefoxxx das abschließende, inhaltlich durchaus brisante Statement zur Sache abgibt, bricht sie, weil sie ihre allgemeine Lebensfreude auch nicht bei einem ernsten Thema im Zaum halten kann, in heftiges Lachen aus: „Und dann ist er mit unseren Einnahmen aus den Tantiemen verschwunden. Vielleicht hat er das Geld benutzt, um damit Arcade Fire in Brasilien zu veröffentlichen, haha!“

Ganz Und gar nicht amüsant findet diese Anschuldigungen Eduardo Ramos. Als wir den 30-jährigen Ex-Manager in Sao Paulo in dieser Angelegenheit kontaktieren, bittet er zunächst um etwas Bedenkzeit. Als er nach einigen Tagen antwortet, bezeichnet er den Streit mit CSS als „eine der großen Enttäuschungen meines Lebens – was meine Arbeit und meinen Glauben an Menschen und Werte angeht“. Auch er reagiert auf das Thema höchst emotional: „Wenn ich ‚verschwunden‘ bin, wie sie sagen, wie kann es dann sein, dass sie mit meinem Anwalt in Kontakt stehen? Wenn ich ‚verschwunden‘ bin, wie konnten CSS dann an meinem Geburtstag als Respektlosigkeit meiner Familie gegenüber meiner Mutter eine welke Blume in mein Haus schicken? Was verschwunden ist, ist bei CSS ein Minimum an Respekt für Menschenrechte und Moral.“ Ramos, der seit zwölf Jahren im Musikbusiness tätig ist und als „International Director“ des Indielabels Trama in Brasilien Bands wie Arctic Monkeys und Belle & Sebastian veröffentlichte, beteuert mehrfach, alle Zahlen und Abrechnungen für die Band offengelegt zu haben. „CSS verstehen nicht, dass man mit ersten Tourneen einer Band nur großen Verlust macht. Ich hab die [Konzertreisen] komplett mit meinem eigenen Geld finanziert. Und alles wurde durch sieben geteilt – das war der Deal. […] Tatsächlich ist es so, dass sie mir viel Geld schulden. CSS können sagen, was sie wollen -jeder weiß, dass ich die Band groß gemacht habe“, sagt er und fügt ebenfalls um dem Ganzen noch etwas mehr Dramatik zu verleihen – hinzu: „Wenn Lovefoxxx kein Geld hatte, um zum Arzt zu gehen, hätte sie besser mit ihren Finanzen haushalten oder auf einen gesünderen Lebenswandel achten sollen.“

Welche Partei Recht hat – bzw. welche Partei mehr Recht hat – werden Anwälte ausdiskutieren müssen. Was CSS jedenfalls von sich aus gerne eingestehen, ist die Tatsache, dass die endlosen Tourneen durch Clubs, über Festivals und im Vorprogramm von Gwen Stefani „gut für ihre Karriere“ waren. Mit den mitreißenden Auftritten, die mit all dem Konfetti, den Luftballonen und albernen Tanzeinlagen nicht selten zu einer Art chaotischem Kindergeburtstag wurden, sicherten sich CSS einen Platz in den Herzen unzähliger Indie-, Elektro- und Popfans auf der ganzen Welt. Da ihr erstes Album zudem mit „Let’s Make Love And Listen To Death From Above“, „Alala“, „Fuck Off Is Not The Only Thing You Have To Show“, „Meeting Paris Hilton“ und „Off The Hook“ fast ein halbes Dutzend Songs abgeworfen hat, die in Clubs für volle Tanzflächen gesorgt haben, gehört ihr zweites Album bereits seit Monaten zu den sehnsüchtigst erwarteten Veröffentlichungen des Jahres.

Schnauze Voll von Elektropop hätte das Motto der Aufnahmen zum neuen Album donkey lauten können. „Es ist zu allererst ein Band-Album“, sagt Adriano mit großem Ernst. „Wir sind eine Band. Beim ersten Album waren wir uns noch nicht nah, wir haben nur ab und zu mal irgendwo geprobt. Jetzt haben wir zwei Jahre nonstop gespielt. So, wie unser neues Album klingt, klingen wir auch live. Das ist CSS. Unsere Fans wissen sowieso, dass wir keine Elektroclash-Band sind es wird ja immer noch geschrieben, dass wir ein Elektro-Act seien.“ Tatsächlich ist das neue Album weniger elektrisch und etwas nüchterner als der Vorgänger. Das trashige Element, der ironische Umgang mit Popkultur, fehlt fast völlig. „Wir haben eine wichtige Lektion gelernt: Lass uns nie wieder aus unseren Insider-Witzen Songs machen“, sagt Adriano. „Wir fanden es eine Woche lang lustig, uns über Paris Hilton aufzuregen. Dann haben wir den Song darüber geschrieben und mussten jetzt zwei Jahre mit ihm leben.“ Die Songs auf donkey (Der Titel, „Esel“, ist übrigens doch ein Insider-Witz – er bezieht sich auf das Drama mit Ramos, wie Adriano erklärt: „In Brasilien benutzt man das wie ,Idiot‘. Zum Beispiel: ,Wir sind keine Esel mehr – wir haben ein neues Management.'“) handeln nun von ihren Erlebnissen auf Tour. Um die Stärken des Albums zu erkennen, muss man sich – im Vergleich zum Debüt – länger mit den Songs beschäftigen. „Unsere Fans werden sich die Zeit nehmen“, glaubt Adriano. „Hoffentlich werden wir noch eine ganze Reihe von Platten veröffentlichen, innerhalb derer dieses Album dann seinen logischen Platz haben wird. Beim ersten Album wurden wir noch mit Bands in die Elektro-Disco-Schublade gesteckt, mit denen wir nichts zu tun haben wollen.“

Der im Netz viel diskutierte Ausstieg von Bassistin Ira hat offenbar mit der musikalischen Evolution zu tun, die CSS mit donkey vorantreiben wollten. „Sie war eine sehr schlechte Bassistin und wusste das auch“, sagt Adriano. Lovefoxxx nickt: „Als wir die Songs aufgenommen haben, hat Adriano ihre Bassläufe geschrieben – extra einfach. Sie konnte sie aber nicht spielen. Das war ihr peinlich, sie wollte kein Klotz am Bein für uns sein. Es war sehr anständig von ihr, auszusteigen.“ Auf dem Album spielt nun Adriano die Bass- und Schlagzeug-Parts. Da er auf der Bühne vom Schlagzeug zum Bass gewechselt hat, lassen sich CSS live von dem ehemaligen The-Cooper-Temple-Clause-Drummer Jon Harper unterstützen.

Im Herbst 2007 ist die Band zum ersten Mal seit ihrem internationalen Durchbruch für mehrere Wochen am Stück nach Sao Paulo zurückgekehrt. Nach zwei Jahren auf der Nordhalbkugel erlebten CSS in ihrer einstigen Heimat eine Art Kulturschock. „Brasilien ist fucked-up. Vieles, was uns früher normal vorkam, läuft eigentlich völlig schief, sagt Adriano. „Wir hatten es eigentlich alle vergleichsweise gut in Brasilien. Aber unser Leben in Europa ist dagegen das Paradies. In Brasilien benutze ich mein Mobiltelefon nicht auf der Straße, weil es sonst geklaut wird. Du musst mit geschlossenen Autofenstern fahren, weil dir sonst jemand den Hals aufschlitzt, um dein Radio zu klauen. Wir fanden das normal! In London gibt es vielleicht mal einen Gangfight in einem Club, bei dem jemand einen Messerstich abbekommt. In Brasilien benutzen die Menschen keine Messer, denn sie haben Schusswaffen.“ Lovefoxxx schüttelt den Kopf: „Mit etwas Abstand sieht man die Dinge mit anderen Augen. Aber ich vermisse Brasilien, das hätte ich nie für möglich gehalten.“ Adriano nickt. „Es gibt ja auch eine andere Seite“, sagt er. „Die Leute kümmern sich um dich. Die ärmsten Leute bieten dir was zu essen an. Das ist wie im Krieg – wenn das Leben eh beschissen ist, dann hilft man sich gegenseitig. Aber am Straßenrand sitzen obdachlose Kinder und rauchen Crack.“

„Ich habe viel über meine Kindheit nachgedacht“, erzählt Lovefoxxx. „Details, die man als Kind gehasst hat, sind plötzlich so cool. Mein Vater hat sich zum Beispiel… also… das ist sehr persönlich“, sagt sie und versinkt für einen Augenblick in einer Erinnerung. „Er hat sich nie was aus materiellen Dingen gemacht“, fährt sie schließlich fort und greift sich zur Demonstration ein Glas auf dem Tisch. „Ach, Entschuldigung, ich kann das nur schwer erklären…“, sagt sie leise. Da alle wichtigen Fragen auch längst besprochen sind, steht sie auf und verabschiedet sich freundlich. Sie setzt sich zu Luiza, Carol und Ana, die trotz der Sprachbarriere mit vereinten Kräften versuchen, das „Wer ist hier der Boss?“-Quiz in der Juni-Ausgabe des musikexpress zu lösen. CSS brauchen ein bisschen Zeit für sich. Wer würde ihnen die nicht gönnen? In den letzten zwei Jahren hatten sie entschieden zu wenig davon. >» www.csshurts.com

>»CD IM ME S. 26, ALBUMKRITIK S.78