Muff Potter über Sticks And Stones

Der Begriff „Ausgegraben“ passt hier wirklich gut, denn ich habe nach sieben Jahren, in denen der Pragmatismus bei mir über die Leidenschaft gesiegt hat und ich CDs statt LPs gekauft habe, weil man letztere so schlecht mit auf Tour nehmen oder Bandkollegen brennen kann, vor kurzem meine Freude am Vinyl wieder- entdeckt. Neben den Tonnen an neuen Platten, die ich jetzt täglich in meinen Verschlag schleppe, bin ich dabei auch wieder auf ein paar Platten gestoßen, die ich jahrelang nicht gehört habe.Und da sind Perlen bei, Wahnsinn. Warum sollte ich mir Gedanken über eine neue Platte von Franz Ferdinand machen, wenn ich alles von Robocop Kraus habe? Warum den hundertsten traurigen 21-jährigen mit Akustikgitarre bei MySpace aus- checken, wenn wunderschöne Klappcoveralben von Jets To Brazil nur darauf warten, von mir entstaubt und auf den Teller gelegt zu werden? Und wie konnte ich eigentlich Sticks And Stones vergessen, jene New Jerseyer Band, deren Logo eines alten Mikrophons ich mir auf den Arm tätowieren ließ, zu einer Zeit, in der mein Körper mir zu klein schien für all die Bandnamen und Textzeilen, die ich mir am liebsten eingraviert hätte. Weil Mitte der Neunziger in der westfälischen Kleinstadt, ohne Plattenladen oder Internet ja jede neu entdeckte Band von einer Bedeutung war, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann.Sticks And Stones waren noch eine Ecke geheimer als das, was Stadtmagazine heute „Geheimtip“ nennen. Sie kommen aus der Punk- und Hardcoreszene New Jerseys, veröffentlichten zwei LPs und ein paar Singles bei Kleinstlabels und hatten kaum Erfolg. Im Gegenteil, eigentlich ging bei ihnen alles schief, was schiefgehen konnte. Auf dem Cover ihrer letzten und besten LP THE OPTIMIST CLUB ist beispielsweise abgebildet, wie auf einer ihrer Tourneen während der Fahrt ihr Anhänger mit Equipment und Merchandise in Flammen aufging. In die Auslaufrille der deutschen Vinyl-Pressung auf Tinnitus Records (Erlangen) ist eingraviert:“Erst hatten wir kein Glück…“ (A-Seite)“Und dann kam auch noch das Pech hinzu.“ (B-Seite).Scheitern als Chance as fuck. Genial!Nach Europa schaffte die Band es nur einmal. Sie brachen die Tour aufgrund von Erfolglosigkeit und Krankheit vorzeitig ab. Das letzte Konzert fand im Januar 1995 in Berlin statt. Ich habe sie leider nie live gesehen. Meine Freunde von Soundfish, eine Hardcorebrüllband aus Rheine, neben der jede sogenannte „Screamo“-Kapelle wirkt wie der Pfadfinderclub, der sie wahrscheinlich auch ist, haben auf jener Tour zwei Konzerte mit Sticks And Stones gespielt. Eins davon in der Roten Flora in Hamburg. Leider war in dem Opel-Kadett, mit dem sie damals auf Tour gingen, kein Platz mehr für mich, und einfach so für ein Konzert nach Hamburg zu fahren, das saß damals leider nicht immer drin. Ich hatte ja noch nicht mal Abitur.Dafür habe ich THE OPTIMIST CLUB im Kinderzimmer rauf und runter gehört. Die Platte besticht durch eine wilde Energie und ein ebenso sicheres Gespür für unsterbliche Melodien. Ich würde das Album deswegen mal ganz vorsichtig mit Hüsker Düs Meisterwerk ZEN ARCADE vergleichen. Musikalisch zwar ziemlich anders, nicht ganz so ungestüm, die Gitarren unverzerrter, der Gesang höher und theatralischer, sind beide Platten dennoch ganz klare Momentaufnahmen von Punkbands, die gerade den Pop entdeckt haben und eine einzigartige Melange aus Rohheit, Reduktion und großer Geste fabrizieren. Und hier wie da keine falsche Angst vorm Pathos, was raus muss, muss raus.Den Aufbau des Songs „Cynical“ habe ich sogar 1:1 kopiert, das wurde dann der erste Song auf der ersten Muff Potter-Platte mit dem schönen Titel „12 + Scheisse = Minus“ (gibt es, um hier mal einen Bogen zu spannen, nur auf Vinyl). Immer eine gute Idee: klauen von Bands, die kein Mensch kennt. Und wie jede geile statt nur ziemlich gute Band haben Sticks And Stones tolle Texte! Kleine Geschichten, auch politische Töne, idealistisch aber undogmatisch, das war für eine Band aus der DIY-Hardcoreszene der frühen Neunziger alles andere als selbstverständlich. Die Platte ist mit ihren 9 Songs zwischen 2 und 4 Minuten (plus einem Cover von The Polices „Synchronicity 2“) außerdem so kompakt, dass man sie immer gleich nochmal hören will, wenn sie zu Ende ist.Der Sänger Peter Ventantonio tingelt seit einem Jahrzehnt mit der World/Inferno Friendship Society durch Jugendzentren und AJZs und hat unter dem Namen Jack Terricloth ein Buch mit Short Stories veröffentlicht. Was der Rest der Band macht, ist mir leider unbekannt.Und ich werde wahrscheinlich langsam alt und nostalgisch. Neben dem Ausgraben alter Jugendhelden und dem Kauf eines neuen Plattenspielers habe ich mir jetzt auch noch eine Polaroidkamera besorgt.Nagel ist Sänger, Texter und Gitarrist der deutschsprachigen Punkband

Muff Potter

. Anfang 2007 erschien sein erster Roman „Wo die wilden Maden graben“. Im Oktober und Dezember 2008 ist er auf

Lesetour

unter dem Titel „Pudding an die Wand – Ein Abend mit Nagel“.

Nagel – 14.10.2008

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