Lady Gaga in Berlin: Ein Maskenball theatralischer Verwandlung
Lady Gaga begeistert in der Berliner Uber Arena mit ihrem „Mayhem Ball“: Ein Abend zwischen Kunst, Chaos und emotionaler Stimmgewalt. Jetzt die Review lesen.
Halloween liegt geschlagene vier Tage zurück an diesem grauen, düsteren Novembertag, und dennoch hat der Abend etwas Mystisches, etwas Verwandeltes an sich, als Tausende Menschen in die Berliner Uber Arena strömen. Little Monsters nennen sie sich, und sie verehren das Mother Monster, das in wenigen Minuten auf die Berliner Bühne treten wird.
Es ist Lady Gagas erster von zwei Konzertabenden in der Hauptstadt und die restlos ausverkaufte Arena ist vollgepackt mit jungen Menschen in Netz und Leder, in Glitzer und Korsett, in trotziger Selbsterfüllung oder zumindest auf dem Weg dorthin.
Es gibt keine Vorband für den amerikanischen Megastar, der zum Symbol von Misfits und Mayhem, von identitärer Befreiung und künstlerisch-genialem Chaos geworden ist, und die Fans warten zu klassischer Musik, die aus den Lautsprechern tönt, auf das Erscheinen der selbsterwählten Regentin des Wahnsinns. Das ruhende Bühnenbild ist ein antiker Tempel – unser „Opernhaus“, wie sie es später nennen wird, und auf ihm thront in Überlebensgröße eine in scharlachrot gekleidete Lady Gaga, die mit einem ebenso gefärbten Federkiel auf Papyrus schreibt. Eine antik-klassische Idee von Ästhetik, die in den Balken des illuminierten Bühnentempels mitschwingt, gibt uns eine Vordeutung auf eine Erzählung, in der die gewählte Form ebenso gefeiert wird wie der Klang, durchmischt mit opernhafter Theatralik.
Gaga ist die Bardin, sie ist Shakespeare, sie ist Homer, und mit ihrem blutenden Federkiel schreibt sie ihre Anwesenheit in die Realität hinein, bis ihr Hologramm erlischt, das Tosen lauter wird und sie tatsächlich auf der Bühne steht.
Metamorphose und Maskenspiel
Was man nun hört, ist die Lady Gaga, die man kennt – live, lebensecht, mit genug stimmlicher Kraft, um die Wände der Uber Arena zu durchbrechen und die Schallwand dazu – doch wen man sieht, ist niemals dieselbe Frau, die man vor Sekunden noch vor sich wähnte. Zwischen schwindelerregenden Tanzfiguren und Kostümwechseln beherrscht Lady Gaga das Spiel mit Figuren und Identitäten perfekt. Zwischen den Akten und Kapiteln ihrer Performance wechselt sie Körper und Figuren so mühelos wie ihre Kleidung, unter dem Geschrei der Menge ist Lady Gaga Metamorphose und Transformation, sie ist Maske und Verstellung und die Wahrhaftigkeit dahinter.

Die Performance des Abends ist in Akte unterteilt. Der antike Rahmen der Bühne ist kein leeres Versprechen, sondern Prolog – dass das, was wir hier beobachten, Spiel ist und Schauspiel, frei nach der alten Regel, dass man am besten lernt, wer man ist, wenn man Dinge wird, die man noch nicht war. Und Lady Gaga selbst ist dabei am liebsten alles gleichzeitig. Sie ist die Braut, die Siechende (mit Skelett!?), die Ritterin. Sie ist Puppe, sie ist die Versehrte, sie ist Grabwächterin. Sie ist Engel und Dämon und Partygirl und manchmal tot und manchmal sehr lebendig. Sie ist blutrot, giftgrün, dann wieder ebenholzschwarz und Moment mal, jetzt wieder blond? Lady Gaga ist im Herzen amphibisch – oder wie sagt, sie ist das, was passiert, wenn sich Zwillinge duellieren – und doch immer das Chaos gewinnt. „The Mayhem Ball“ ist ein großer Kostümball und ein kaiserliches Spektakel, ein Lichtspiel zwischen Epilepsie und Ekstase (wortwörtlich), es ist das manische Zusammenspiel von Figuren auf einem Schachbrett, und die Königin regiert, und die Bauern fallen auf die Knie.
Klanggewalt in Echtzeit
Und am Ende? Am Ende ist Lady Gagas erster Konzertabend in Berlin ein Triumph der Kunst. Denn während Lichter und Kostüme um Aufmerksamkeit streiten, bleibt es doch ihre einzigartige Stimme und ihr vielfältiger Katalog, der diesen Abend zu einer unvergleichlichen Feier des Artpop machen – und, nicht zu vergessen, die tief beeindruckende Performance ihres großen Teams von Dancer:innen, die ebenso mitreißend wie ausdrucksvoll die Bühne in ein lebendiges Kunstwerk verwandeln. Gagas Gesang ist makellos und gewaltig, und dass man sie zwischen ihren Songs atmen hört, ist eine frohstimmende Erinnerung, dass wir ihre Stimme im Hier und Jetzt hören, in Echtzeit.

Sie trifft dabei eine gelungene Auswahl von Songs aus jeder ihrer künstlerischen Ären. Während Party-Banger wie „Applause“, „Just Dance“, „Poker Face“ oder auch „Bad Romance“ alle versammelten Fans restlos von den Sitzen reißen und Klassiker wie „Papparazzi“ und „Alejandro“ aus vollem Hals mitgesungen werden, kommen auch Liebhaber:innen ihrer ruhigeren Werke wie „Shallow“, „A Million Reasons“ oder, einer der Überraschungssongs, „The Edge of Glory“, solo am Piano performt, auf ihre Kosten. „Born This Way“ ist eine wichtige Erinnerung daran, dass es bei einem Lady-Gaga-Konzert aber auch um so viel mehr geht als um Performanz – nämlich um Selbstausdruck, Repräsentation, Selbsterfüllung und Freiheit. „Diese ganze Show ist für euch“, ruft Lady Gaga an die anwesenden Vertreter:innen der LGBTQIA+-Community gerichtet. „Für eure Liebe. Für eure Freiheit. Für euren Stolz.“
Während man sich bei Gagas Dance-Klassikern glücklich schätzt, sie einmal live erlebt zu haben, so sind es doch die vier schlicht am Piano dargebotenen Songs gegen Ende, die uns das Gefühl geben, Lady Gaga nahezukommen – hinter die vielen verschiedenen Masken zu schauen, mit denen sie während der Show gespielt hat. Lady Gagas „Mayhem Ball“ ist ein Tanz zwischen Verfall und Wiedergeburt, bei dem alles erlaubt ist und am Ende nur die Freude steht. Vor Beginn des Abends, erinnert man sich, waren Botschaften von Fans über den Bildschirm geflackert. Die meisten von ihnen waren sich einig: Lady Gaga führt Menschen durch die schwersten Zeiten ihres Lebens. Aber diese Show hat einmal mehr klar gemacht: Sie führt uns auch durch die schönsten.



