Aphex Twin


Die Fratzen des Erfolges

Mitte der Neunziger in England. Techno, die Utopie der anonymen Musik, braucht ihren ersten Star. Es wird Richard David James. Der unwahrscheinlichste Posterboy der Szene ändert die Regeln – und alle spielen mit.

Richard D. James, berühmt als Aphex Twin, durchwühlt daheim die Schubladen. Er sucht nach einem Tape. Nach irgendeinem, nichts könnte ihm gleichgültiger sein. Dem Boten, der an seiner Haustür ungeduldig auf ihn wartet, ist es alles andere als egal. Was er verlangt, ist das Produkt der Arbeit, für das der Techno-Produzent mit 5 000 Dollar entlohnt werden soll: ein Remix für die Alternative-Rocker The Lemonheads. Deren Chef Evan Dando hält es, wie jeder ernst zu nehmende Musiker Mitte der Neunziger, für angebracht und dem eigenen Ansehen förderlich, einen Remix von Aphex Twin in seiner Diskografie zu führen. Dando möchte einen seiner Songs geschäftsüblich entstellt haben, was auch immer dabei herauskommen mag. Wogende Ambient-Felder, brachialer Techno-Wumms oder kühn verschachtelte IDM, sprich: Intelligent Dance Music. Es wird schon etwas Großartiges sein. Ein großer Name sagt hier alles. Deshalb hat man Aphex Twin den Song geschickt. Er hat ihn sich nie angehört, vermutlich hat er auch den Auftrag längst vergessen. Das Label nicht. Das Label fordert jetzt das Tonband. Wahllos greift der Künstler in die Schublade, er fördert einen Gabba-Track zutage. James erklärt dem Boten feierlich: Sein Remix basiere auf einer aus dem Song herausgelösten Note, immer wieder abgespielt, in vielfacher Geschwindigkeit. Der Bote ist beeindruckt. Hier ist ein Genie am Werk, denkt er, es hat schon alles seine Richtigkeit. Die Bezahlung erfolgt, der Track wird nie veröffentlicht.

Diese Geschichte ist so wahr wie beispielhaft für den riesigen Mittelfinger, den Richard David James, der passionierte Panzerfahrer und stolze Besitzer eines U-Boots, der Musikindustrie seither entgegenreckt. So sehr er den wachsenden Erfolg und den zunehmenden Zirkus um seine Person auch verachtet: Die Vorteile, das Geld und die daraus resultierende künstlerische Freiheit, nimmt er dankend hin. Die Einkünfte ermöglichen ihm ein Leben, für das sich andere Musiker Gliedmaßen ausreißen würden. Ein Leben, in dem es nichts anderes gibt als Musik, bei der es für den Kontoauszug unerheblich ist, ob sie überhaupt jemals öffentlich erscheint. Dass er nun seit fast zwölf Jahren schon kein reguläres Album mehr herausgebracht hat, ist allein seine Entscheidung. Dass er selbst in seiner erfolgreichsten Zeit, zwischen 1993 und 1996, kaum Lust auf Liveauftritte verspürte, ebenso. Und wenn, dann legte er sich auf der Bühne einfach auf den Boden und „relaxte“, so nannte er das. Die vor ihm aufmarschierten Massen sollten ihren Star nicht sehen, sie sollten seine Musik genießen. An anderen Abenden wanderte die Plattennadel über ein Stück Sandpapier. Auch das wurde gefeiert, als Noise-Doom-Metal-Whatever. Es gab keine Grenzen mehr zwischen Musik und Krach, zwischen Konzept und Quatsch. In Interviews erklärte er, wie sehr er es genieße, von Stalkern verfolgt zu werden. Er erörterte die Pflege seiner Angstlust und beschrieb seine luzidesten Träume. Die Welt war bereits damals übervölkert von „Enfant Terribles“. Aber James war immer eines der terribelsten. Als er als Aphex Twin auftauchte, war die Welt noch nicht an Techno-Stars gewöhnt. An Schachspieler auf dem Feld der Musikindustrie, wie er sich selbst einmal beschrieb, schon gar nicht. Und nur er stellte für dieses Spiel die Regeln auf.

Begonnen hat sein Leben als Sohn walisischer Eltern 1971 in Irland. Aufgewachsen ist er mit zwei Schwestern in Cornwall, im südlichsten Westzipfel der Insel. Sein älterer Bruder, ebenfalls mit Namen Richard, verstarb drei Jahre vor Richard D.s Geburt, der fehlende Aphex-Zwilling. Von klein auf war Richard D. von Technik fasziniert und von den Sounds, die sich mit ihren Mitteln herstellen ließen. Die kleinstadtbedingte Langeweile trieb ihn an, auch wenn er später gern betonte, dass er sich in der Provinz pudelwohl gefühlt habe. Abgeschottet von der Welt und von der Zeit, allein mit seinem seltsamen Gehirn. Er nahm Maschinen auseinander, Pianos, Heimcomputer, Elektrogeräte, und setzte sie zu ominösen Klangerzeugern zusammen. Er überlistete die Technik, um Musik dort entstehen zu lassen, wo es vorher keine gab. Besonders stolz war er in jungen Jahren auf seinen eigens umgelöteten ZX81. Einen Hobbycomputer, der nur über einen TV-Anschluss verfügte und keinen Audioausgang besaß. James brachte den Rechner dazu, über einen manipulierten Maschinencode verzerrte Geräusche von sich zu geben, was ihm als 11-Jähriger bei einem Wettbewerb 50 Pfund einbrachte. Probleme in der Schule blieben nicht aus. Mit 13 schickten ihn seine Eltern erstmals zum Psychologen, nachdem ihr Sohn auch mit pyromanischen Neigungen verhaltensauffällig geworden war.

Mit 14 begann er, mit professionellem Ehrgeiz Musik zu produzieren. Sie wurde sieben Jahre später auf einem der herausragenden Elektro-Alben der 90er-Jahre veröffentlicht. James schrieb eigene Programme, er bastelte tage- und nächtelang an seiner Hardware herum, bis er behaupten konnte, sie selbst entwickelt zu haben. Er legte in einer Küstenstadt in Cornwall auf und machte einen technischen Abschluss. Als Teenager entdeckte ihn DJ Grant Wilson-Claridge. Sie freundeten sich an und ergaben sich einer gemeinsamen Vision: elektronische Musik, die mitdenkt und dabei mehr sein kann als ein gerader Beat mit Klängen drum herum. James und Wilson-Claridge gründeten die Firma Rephlex, ein nach wie vor aktives Label, das den Begriff Brain-dance etabliert hat. Für Musik, die sich der strengen Einordnung entzieht, die neben James und befreundeten Größen wie Luke Vibert auch Re-Issues alter Acid-Helden wie 808 State oder The Future Sound Of London führt.

Ein anderes neues Genre zog Anfang der Neunziger seine Runden: Intelligent Dance Music, kurz: IDM. Abstrakte, nur bedingt tanzbare elektronische Musik, mit futuristischem Hau, nicht besonders eingängig und vornehmlich aus Großbritannien. Warp, eines der heute bekanntesten Labels der Insel und der Elektro-Szene überhaupt, begann das Subgenre einzuführen. Es sollte seinen Höhepunkt erreichen, als es Aphex Twin einige Jahre später dazu bewog, seine Aufnahmen über Warp zu veröffentlichen. Zunächst aber stand eine Platte auf dem belgischen Label R&S an: Selected Ambient Works 85-92. R&S und das Album werden heute noch bemüht, um zu erklären, dass Dance, Techno, IDM oder welche Begriffe man auch verwendet, niemals das Gleiche bedeuten. Auf 13 Tracks erweckte Richard D. James 1992 den Eindruck, ein Jahrhunderttalent zu sein, das durchaus breitere Aufmerksamkeit verdiente. 20 Jahre später sind Techno und die elektronische Musik im Allgemeinen längst im Mainstream angekommen. Alles ist in Guides und Listen ausklassifiziert. Selected Ambient Works, der Meilenstein, taucht darin zuverlässig auf. Tracks, die Aphex Twin als 14-Jähriger produziert hatte, fanden sich da einträchtig neben seinen damals aktuellen wieder. Sein Markenzeichen wurde das verformte A, das als Artwork für die Platte benutzt wurde. Es wurde zu seinem Logo, auch wenn der Designer es eigentlich für ein Firma entworfen hatte, die Skaterklamotten verkaufte. Stetig wuchs die Popularität von Richard D. James auf ein geradezu groteskes Maß. Selected Ambient Works 85-92 war kein Geheimtipp mehr, nichts für Eingeweihte und Genießer. James legte sich weitere Aliasse zu wie AFX, Polygon Window, Power Pill und GAK, warf Platte um Platte auf den Markt und wurde schließlich von Warp unter Vertrag genommen. Für ihn war die feste Arbeit für ein Label Fluch und Segen. Einerseits bescherten ihm die Jobs das nötige Geld, um sich auch weiterhin den lieben langen Tag ausschließlich der Musik widmen zu können. Andererseits wurde er darüber nie müde, zu betonen, dass er seine Tracks ausschließlich für sich selbst schreibe und es ihn nicht im Geringsten kümmere, was irgendwelche Hörer davon halten.

Kommerziell gesehen ereilte Richard D. James 1993 sein größter Erfolg. „On“, ein vergleichsweise milder Track mit einem melodiösen Pianothema und unaufdringlichem Beat, stieg immerhin auf Platz 32, ein untrügliches Zeichen, dass der Rave die Clubs auch verlassen und sich anderswo genauso wohlfühlen konnte. Das von Jarvis Cocker gedrehte Video half der Popularität ungemein. Auf seinen ersten Hit reagierte James mit einem umso kühneren Album, einer Fortsetzung der Selected Ambient Works. Es schlug den Hitparadenkäufer vor den Kopf. Zwei CDs, fast ausschließlich mit beatloser Ambient-Musik, nur unter übermenschlichen Anstrengungen am Stück hörbar und alles andere als handelsfreundlich. Doch der Name Aphex Twin, er stand inzwischen für das Große. Er machte Techno vor allem in Großbritannien salonfähig. Er stand für den schwierigen Charakter, dem die Industrie und ihre Konsumenten aus der Hand fraßen. Das Album klettert bis auf Rang 11. Zur allgemeinen Überraschung.

Interviews interessierten diesen sonderbaren Aphex Twin eher weniger. Sie stahlen ihm Zeit für seine Studioarbeit und die Freundin, über die er ebenfalls nur ungern Auskunft gab. Mit abwesender Miene gab er überflüssige Details preis, erfand unglaubliche Geschichten und spuckte den Journalisten alles Mögliche in die Diktiergeräte. Aber alle freuten sich: Ein Technostar musste anders sein, so anders wie seine Musik. Anekdoten generierten sich nach dem Stille-Post-Prinzip. Ob es sich um einen umgebauten Banktresor handelte, den Aphex Twin im Sommer 1995 bezogen haben sollte, sein Kaufinteresse an ausrangiertem Militärgut oder den Saftmixer, den er bei einem seiner wenigen Auftritte nutzte, um ein Mikrofon hineinzuhalten – und es anschließend einem Fan an den Kopf zu werfen, der sein Idol umgehend um ein Autogramm bat. Die Menschen akzeptierten ihn nicht nur als den Wahnsinnigen, der er zweifellos zu allen Zeiten war, sie vergötterten ihn als Genie: Lasst ihn doch, das muss so.

Die bizarre Welt des Richard D. James verlangte nach Bildern zu ihren Soundtracks, und die optische Umsetzung seiner teilweise albtraumhaften Sounds war der vielleicht wichtigste Schritt in die Mitte der Popkultur. 1996, als Musikvideos noch eine bedeutende Kunstform waren, die nicht per 240p auf Smartphones glimmten, der wichtigste Musiksender MTV und nicht YouTube hieß und die Plattenfirmen noch ihr Kapital in beide Hände nahmen, stellte Warp einen Kontakt zum englischen Regisseur und Filmemacher Chris Cunningham her. Diesem ließ sich nicht nur eine äußerliche Ähnlichkeit zu Aphex Twin bescheinigen, er schuf die perfekten Bilderwelten zu dessen Musik. Mit surrealen, futuristischen Visionen, die Videospielen so viel zu verdanken hatten wie Science-Fiction-Filmen, hatte sich Cunningham als Werbefilmer und Clip-Regisseur einen Namen gemacht. Sogar Altmeister Stanley Kubrick verpflichtete ihn für Designarbeiten am später von Steven Spielberg realisierten Film „A.I. – Künstliche Intelligenz“.

In einer Zeit, als sich Richard D. James alles erlauben konnte, sollte sein bislang brutalster Track das meiste Interesse wecken. „Come To Daddy“ wurde ein gewaltiger Hit. Brachiales Beatgewitter, zu gleichen Teilen Drum N‘ Bass wie Acid, mit brennenden Synthesizern und der entstellten Stimme von James selbst, der kreischend um verlorene Seelen bettelte. Schön eigentlich. „Come To Daddy“ war aus der Idee zu einem Death-Metal-Jingle entstanden, der ursprünglich nie das Tageslicht erblicken sollte. Das von Cunningham dazu entworfene Video zeigte ein Heer Kleinwüchsiger mit Silikonmasken als Richard D. James, durch Londoner Hinterhöfe rennend, Steine werfend, Omis erschreckend, randalierend, bis im Showdown eine schlaksige Gestalt aus einem Fernseher kroch und den grässlichsten Schrei der Musikgeschichte ausstieß. Ein Video wie ein Horrorfilm und im Director’s Cut, wenn überhaupt, dann nur im Nachtprogramm zu sehen. Und ein versehentlicher Sprung in den Mainstream, den James sofort bereute: „Das war so nicht richtig. Ich musste die Plattenverkäufe stoppen, weil der Track sonst zu groß geworden wäre.“

Zu stoppen war allerdings nichts mehr. Dass jeder Mensch nun sein Gesicht kannte, passte James überhaupt nicht. Nicht nur sein Videoclip war schuld daran. Es war auch sein drittes Album … I Care Because You Do, mit dem er sich von Ambient und Acid entfernte und den Einsatz von Drummachines für einen extremeren Sound forcierte: Das Cover zeigte das comichaft verschobene Gesicht von Aphex Twin. Chris Cunningham trieb dann das Spiel mit dem fratzenhaften Antlitz auf die Spitze. In einem epischen, zehnminütigen Video voller Limousinen, die sich in der Sommersonne spiegelten, einer Parodie auf überteuerte R’n’B-Werbefilme, mit absichtsvoll misslungenen Choreografien, klischeehaften Homies (die dann auch namentlich im Abspann auftauchten) und zahlreichen Bikinitänzerinnen mit Aphex-Twin-Masken. Ein Meisterwerk, auch heute noch. Nur einer war wieder nicht ganz zufrieden: „Gesichter in den Medien sehen immer toll aus. Dafür wird gesorgt. Nichts ist echt. Mich grotesk aussehen zu lassen, und dann überall zu platzieren, war meine Antwort darauf. Ich würde das aber nicht noch einmal machen wollen. Es ist keine Kritik an Chris‘ Arbeit, die ich liebe. Aber meine Musik an einzelne Bilder zu heften, kann nicht funktionieren“, erklärte James.

Jeder wollte etwas von Richard D. James. Remixes, Features, Hauptsache, sein Name tauchte auf. Er wurde benutzt, um anderen einen prächtigen Ruf zu verschaffen. Sobald es mehr als gewöhnlich zu verdienen gab, wurde er schwach. Etwa für einen Pirelli-Werbespot. Auf der 2003 veröffentlichten Remix-Compilation 26 Mixes For Cash tauchten sogar die Fantastischen Vier auf. Selbstverständlich fragte auch Madonna an. Zunächst lehnte James ab, er wollte, wie er sagte er, nicht „der nächste Typ sein, mit dem Madonna gearbeitet hat“. Stattdessen plante er eine Weißpressung auf seinem Label Rephlex, einen Acid-Track, auf dem Madonna einfach grunzen sollte wie ein Schwein. Ohne Credit. Schlagartig verlor Madonna das Interesse.

Die Arbeit mit Warp geriet zusehends komplizierter. James strebte nach Kontrolle über sich, seine Figur und sein Schaffen, veröffentlichen wollte er nur noch auf Rephlex. Warp spielte nicht mit und durfte Aphex Twin als Namen und Marke behalten. James brachte seine Musik entweder unter einem seiner Pseudonyme heraus. Oder er verlegte sich auf den Namen AFX, für alles, was unter Aphex Twin hätte erscheinen sollen. Dass die Veröffentlichungsflut der Neunziger plötzlich versiegte, hatte auch mit dem Super-GAU zu tun, den er am Ende des Jahrzehnts erlebte: James transportierte etliche Stunden frischen Materials auf seinem MP3-Player im Flugzeug, für Warp. Der Player ging verloren. Warp fürchtete sich vor dem Wiederauftauchen der Tracks im Internet, und James lieferte 30 Skizzen als Ersatz. Die Stücke waren am manipulierten Klavier eilig aufgenommen und mit frei erfundenen oder keltischen Namen versehen worden. Sie erschienen unter dem Titel Drukqs auf zwei CDs. Die Probleme mit Warp vertieften sich. James zog sich zurück, überließ seinem Label Rephlex die Arbeit, beschäftigte sich nur noch mit dem, was ihm die abschmelzenden Reichtümer erlaubten und setzte sich in sein Studio. Da sitzt er heute noch.

Wie klänge der Name Aphex Twin 2012, hätte er je die Spielregeln der Industrie akzeptiert? Würden mittlerweile Dubstep-Platten erscheinen mit dem verbogenen A auf dem Cover? Modenschauen mit seiner Musik unterlegt? „Ich kann ein kommerzieller Künstler sein, wenn ich will“, gab er zuletzt im Interview mit dem Magazin „Groove“ zum Besten. In gewisser Weise ist er das sogar gewesen, künstlerisch und kommerziell zugleich, zumindest in den Neunzigern, als er als Techno-Musiker im Bewusstsein der Popkultur landen konnte (nach Fraktus, natürlich). Angeblich produziert er seit fünf Jahren unter dem Namen The Tuss. Musik, wie man hört, die nur dafür gemacht sein soll, sein eigenes Leben zu bereichern. Was stimmt und was nicht? Man weiß es nie bei Aphex Twin. Mindestens sechs fertige Alben sollen mittlerweile darauf warten, veröffentlicht zu werden. Irgendwann. Man sagt: auf Warp.

Inspiriert von

Derrick May

Autechre

Erik Satie

Kraftwerk

808 State

Brian Eno

Hat inspiriert

Actress

Squarepusher

Shed

Tim Hecker

Zomby

Clark

Aphex Twin über sich und andere

„Es klingt vermutlich ziemlich arrogant, aber meine eigene Musik ist die beste, die ich je gehört habe.“

„Die besten Musiker und Soundkünstler sind die, die sich selbst nicht für Künstler und Musiker halten.“

„Ich bin doch nur ein schwindelnder Rotschopf aus Cornwall, den man als Kind besser in eine Jugendanstalt gesteckt hätte.“

„Sie haben zugestimmt, mir 70 Prozent der Tantiemen zu zahlen, also ist alles in Ordnung.“

(Antwort auf die Frage, was er davon hält, dass Kid A von Radiohead von seiner Musik inspiriert worden sei.)

„Er sollte sich lieber mal meinen Track ‚Digeridoo‘ anhören, dann würde er vielleicht anfangen, Musik zu machen, zu der man tanzen kann.“

(Antwort auf die Kritik von Karlheinz Stockhausen, der ihm vorwarf, dass sich in seiner Musik zu viele Rhythmen wiederholen.)

Empfohlen

Selected Ambient Works 85-92 (1992)

Das erste Album war eine Zusammenstellung von Tracks, die Richard D. James teilweise schon im Alter von 14 im Jugendzimmer zusammengebastelt hatte, als er sich erstmals in größerem Stil daran versuchte, mit professionellerem Gerät zu hantieren. Verwendet hat er dafür dann aber doch kaum mehr als ein Keyboard und seinen Computer. Heute gilt SAW85-92 als Meilenstein. Menschen, die dem zu widersprechen wagen, sind selten anzutreffen. Zweite Meinungen werden nur bedingt akzeptiert. Herausragende, sphärische Ambientstücke mit leichten Beats und vereinzeltem Acid. Mit Anfang 20 hat ein großes Talent eine gewaltige Duftmarke gesetzt. Fun Fact: Die vermutlich einzige Platte, die „Willy Wonka“, „Das Ding“ und „RoboCop“ sampelt.

XYLEM TUBE EP (1992)

Seine erste EP auf dem belgischen Traditionslabel R&S, das momentan seine erfolgreiche Wiederkehr feiert, ist vor allem durch die A-Seite eines der vielen Must-haves aus seiner Diskografie. „Polynomial-C“ ist ein melodiöser Breakbeat-Track, der im positivsten Sinne nach den Neunzigern riecht und aufzeigt, welches Gänsehaut-Potenzial in 72-bpm-Rave steckt. Wer durch den Pre-Gabba des zweiten Tracks kommt, findet auf der B-Seite ratternden, melancholischen Drum N‘ Bass und mit „Dodeccaheedron“ einen dystopischen Maschinenstampfer, wie er momentan durch Produzenten wie Blawan zurück in die Clubs findet.

AFX – Hangable Auto Bulb EPs (1995)

Mit den Hangable Auto Bulb EPs, die innerhalb eines kurzen Zeitraums Ende 1995 veröffentlicht wurden und bösartig limitiert waren, stieß James noch einmal experimentierend Tore auf und versuchte sich höchst erfolgreich an Breakbeats aus dem Computer, hantierte mit Glitch und Drum N‘ Bass und ließ die Menschen zu einer Musik tanzen (wenn das überhaupt möglich war), die sie so nie gehört hatten. Tracks wie das nervöse „Laughable Butane Bob“ oder das spacige „Every Day“ sollten für einige Jahre die Richtung werden, an der sich neue Releases von Aphex Twin orientierten.

RICHARD D. JAMES ALBUM (1996)

Weniger Anonymität sollte kaum möglich sein. Nicht nur, dass dem Käufer der Platte James‘ Fratze entgegengrinst, das Album heißt auch noch Richard D. James. Was als AFX begonnen wurde, zieht auf seinem zweiten Warp-Album weitere Kreise. Digitale Ausflüge in das Schleuderkarussell der computergenerierten Beats, die immer wieder beweisen, wie melodieverliebt dieser Kerl sein kann. Wer mag, kann das quengelnde und zappelnde „Carn Marth“ sogar als Ballade bezeichnen. Auf „Girl/Boy“ wandern zahlreiche Streicher unbeirrt durch ein hektisches Beat-Labyrinth. Das kann wirklich nur einer.

AFX – Chosen Lords (2006)

Sein letztes reguläres Album ist zwar Drukqs, und ob das in dieser Liste auftauchen sollte, darüber lässt sich lange streiten. 2006 schob sein eigenes Label Rephlex allerdings eine Best-of-Compilation hinterher, zu der ihn der Kollege Grant Wilson-Claridge überredete. Zu finden sind seine zehn Favoriten aus der ein Jahr zuvor laufenden Vinyl-Serie „Analords“, die auf insgesamt 41 Tracks wieder mal widerspenstigen digitalen Techno bot, dessen Detailverliebtheit seinesgleichen sucht. James zaubert wirklich überall noch eine Melodie aus dem Ärmel, die seine anspruchsvollen Beats schlicht und ergreifend einzigartig machen.

Abgeraten

AFX – Analog Bubblebath 4 (1994)

Eine EP, auf der die sprichwörtliche Sau rausgelassen werden sollte. Das Animalische sollte geweckt werden. Nun ja. Die fünf Tracks, allesamt nach Tiernamen benannt, sind anstrengend bis nervend bis enttäuschend, die Soundqualität unterdurchschnittlich. Besonders „Elephant“ macht mit seinem brutal komprimierten, stampfenden Beat und einem von James selbst aufgenommenen und alle paar Sekunden wiederholten Schrei, der (Überraschung!) einen Elefanten imitieren soll, mehr Kopfschmerzen als Freude.

Ventolin (1995)

Ventolin ist der Name für ein Arzneimittel gegen Asthma. Nebenwirkung: Tinnitus. Kein Wunder also, dass den gesamten Track schrille, laute und sagenhaft nervige, hohe Frequenztöne durchziehen. Immerhin liefert die EP noch einige Mixe, von denen besonders der verwaschene Acid-Groove im „Marazanvose Mix“ erwähnt werden muss. Der „The Coppice Mix“ ist dann leider fast schon wieder zu harmlos. Nein, so richtig funktioniert hier nichts.

Videos

On (1993) – Regie: Jarvis Cocker und Martin Wallace

Dass Pulp-Chef Jarvis Cocker auch das eine oder andere Musikvideo auf Warp gedreht hat, gehört nicht zu den bekannteren Fakten. 1993 schuf er für „On“, einen der besten Tracks überhaupt, eine Stop-Motion-Welt am Strand. Mit Pappfiguren von Richard D. James, Taucheranzügen, Krokodilen, gigantischen Ohren und allem, was die Requisitenkammer sonst zu bieten hatte.

Donkey Rhubarb (1995) – Regie: David Slade

Einer der eingängigsten Tracks von Aphex Twin. Der treibende Technobeat wird von einer zarten Kindermelodie begleitet. Den Kontrast spiegelt Regisseur David Slade auch im Video wider. Gigantische Plüschbären mit der aufgeklebten Fratze des Albumcovers zu … I Care Because You Do, die, sagen wir mal, tanzen und dabei mit einer Horde überglücklicher Kinder spielen. Großartig.

Come To Daddy (1997) – Regie: Chris Cunningham

Das mit Abstand bekannteste und zugleich erschreckendste Video war der Start einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen den ähnlich tickenden James und Cunningham. Letzterer holte sich die Idee für das Video aus seiner Kindheit: Als 16-Jähriger war er von einem Neunjährigen mit einem Hammer verfolgt worden. Ungeschnitten strahlte MTV das Video nur nachts aus.

Windowlicker (1999) – Regie: Chris Cunningham

„I’m horny as a motherfucker, we gotta find us some hoes.“ Fängt so ein Aphex-Twin-Video an? In der auf die Spitze getriebenen Persiflage überteuerter Rap-Videos, wieder gedreht von Cunningham, schon. Das Foto mit der Bikini-Schönheit, auf dessen Hals das Grinsegesicht von James zu finden ist, wurde ikonisch und brachte es in abgewandelter Form bereits auf den Titel des „NME“.

APHEX TWIN – MIXTAPE

04:54 Xtal (Selected Ambient Works 85-92)

02:57 Flim (Come To Daddy EP)

04:52 Vordhosbn (Drukqs)

05:45 Come On You Slags (I Care Because You Do)

07:13 On (On EP)

04:54 Heliosphan (Selected Ambient Works 85-92)

06:38 Boxing Day (als AFX) (Analord 03 EP)

04:04 To Cure A Weakling Child (Richard D. James Album)

03:02 Laughable Butane Bob (als AFX) (Hangable Auto Bulb)

06:24 Isoprophlex (Digeridoo EP)

06:09 Donkey Rhubarb (Donkey Rhubarb EP)

06:03 Quixote (als Polygon Window) (Surfing On Sine Waves)

04:47 Polynomial-C (Xylem Tube EP)

03:48 Every Day (als AFX) (Hangable Auto Bulb)

02:06 Avril 14th (Drukqs)

Runtime: 73:36 Min

Im nächsten Heft: ME-Helden, Teil 21 – Cocteau Twins