Auf der Couch mit Beth Ditto


Die Sängerin hat sich mit ihrer Band Gossip ausgerechnet in der englischen Hitfabrik Xenomania häuslich eingerichtet, um ihr fünftes Album aufzunehmen. Ein Studiobesuch.

Es gibt wohl nur wenige Orte, die den hartnäckigsten Klischees über England so wunderbar entsprechen wie Westerham in der Grafschaft Kent, mit seinen Pubs, seinen Tearooms und den Range Rovers, die sich fürchterlich breit machen in den schmalen Straßen. Unweit dieses Puppenstädtchens im Südosten der Insel hatte Winston Churchill seinen Landsitz, und direkt an der Hauptstraße findet sich die Einfahrt zu jenem Anwesen, in dem einst Alice Lidell, die mutmaßliche Inspiration zu Lewis Carrolls Alice im Wunderland, aufwuchs.

Nicht gerade die Umgebung, in der man Beth Ditto vermuten würde, aber der perfekte Platz für das mit jeweils zwei Stehlämpchen pro Fenster versehene, herrschaftliche Hauptquartier jenes britischen Pop-Produzenten, der sie mit ihrer Band Gossip hierhergelockt hat. Brian Higgins ist der Begründer von Xenomania, der Hitfabrik, die Einkaufszentren, Vorstadtdiscos und vor allem die britischen Charts beschallt, im Zuge dessen aber auch sehr interessante Sounds in den Mainstream der angehenden Zweitausenderjahre eingeschleust hat. Higgins und sein Team sind für den Gesamtkatalog von Girls Aloud verantwortlich, außerdem waren sie unter anderem Rundum-Dienstleister für Sugababes, Alesha Dixon, Kylie und Dannii Minogue sowie die Pet Shop Boys.

Die Nachricht, dass Gossip einer Xenomania-Runderneuerung unterzogen werden sollen, stimmt einen zunächst skeptisch. Schließlich haben sich schon andere Indie-Bands wie Franz Ferdinand und New Order auf dieses Experiment eingelassen und sind ungetaner Dinge wieder abgezogen. Dazu gesellt sich der Eindruck der Solo-EP vom vergangenen März, die Ditto mit dem Londoner Elektro-Duo Simian Mobile Disco produziert hat: Eine auf „Pop“ betonte Produktion, die es fertigbrachte, unter ihren luftdichten Vokalarrangements die bisher für unbezwingbar gehaltene Persönlichkeit der Gossip-Sängerin zu vergraben.

Aber man sollte sich wohl einfach nicht so viel Gedanken um Beth Ditto machen. Kaum wird man in das nach warmem Toast, Kaminfeuer und Holztäfelung duftende Erdgeschoss des Xenomania-Imperiums eingelassen, läuft sie einem auch schon entgegen, jauchzend, im schwarzen Kleid mit einem überdimensionalem Silberkreuz an der Halskette. Ein verhalten amüsierter Brian Higgins, in der klassischen Rolle des von der amerikanischen Verve seines Gasts überfahrenen Engländers, kassiert uns allerdings schnell ein, um uns in einem Nebenzimmer im ersten Stock ein paar der fast fertiggestellten neuen Songs vorzuspielen. Vor dem auf den großzügigen Garten blickenden Fenster steht eine Sammlung von Gretsch- und Fender-Gitarren der höheren Preisklasse, mit denen Gitarrist und Bassist Nathan „Brace Paine“ Howdeshell seine Takes für das fünfte Album eingespielt hat – und zwar unüblicherweise, nachdem Beth ihre Parts gesungen hatte.

Higgins war ein paar Wochen zuvor nach Portland, Oregon geflogen, um dort mit Brace Paine und Schlagzeugerin Hannah Blilie (deren strenges Antlitz das Coverfoto des letzten Gossip-Albums Music For Men ziert) die Bass- und Schlagzeugparts zu arrangieren. „Die beiden sind die beste Rhythmusgruppe, mit der ich je gearbeitet habe“, sagt er. Sein hauptsächlicher Beitrag habe darin bestanden, die Songs Dittos Stimmlage zuliebe nach unten zu transponieren. Ein technisches Detail, das allerdings einiges über die Produktionsphilosophie Higgins aussagt: Die Hauptrolle gehört der Stimme, dann kommt der Beat, der Rest kann warten.

Higgins lässt seinen Assistenten Toby ein Stück namens „Melody Emergency“ anspielen, und alle Befürchtungen, Gossip könnten als Opfer einer Pop-Gleichmachungsmaschine Schaden nehmen, verflüchtigen sich spätestens mit dem Gesangseinsatz über einem satt rockenden Riff in mittlerem Tempo. Vor allem: Dittos Stimme hat den Platz, den sie braucht. „Wir haben überhaupt kein Autotune verwendet“, beeilt sich Higgins zu betonen. Sein bisher wohl berühmtester Beitrag zur Popgeschichte ist eng mit diesem Autotune verbunden. Schließlich war es die Firma Xenomania, die den Cher-Hit „Believe“ von 1998 produzierte, unter missbräuchlichem Einsatz der Software. Aus der Stimmkorrektur wurde eine Stimmverfremdung – und der Effekt seitdem Tausende Male kopiert.

„Uns geht es hier nicht um Hits“, sagt Higgins, „davon haben wir schon genug. Als Produzent definiert man sich über die Großartigkeit der Sänger, mit denen man arbeitet.“ Toby spielt zwei weitere Songs vor: „Casualties Of War“ und „Picture Perfect World“, beides uneilig groovige Songs, die einen rätseln lassen, warum Rock und Disco je als Gegensätze gesehen werden konnten. Die Paarung zwischen einem Pop-Zampano, der sich als ernsthafter Produzent profilieren will, und einer ehemaligen Punkband, die sich auf eine Abenteuerreise durch die Popwelt begeben hat, scheint hervorragend zu funktionieren.

Eine Dame vom Management unterbricht die Musik. Der Salon im Erdgeschoss stünde nun bereit für das Gespräch mit Beth Ditto. Kaum haben wir es uns auf den Chesterfield-Sofas gemütlich gemacht, umschwirrt Beth allerdings ein von der Plattenfirma bestellter Fotograf. Er knipst und knipst. Sie kann sich so nicht konzentrieren. Beth Ditto schickt ihn mit einem freundlichen „Sorry, girl“ hinaus. „Ich bin kein Mädchen!“, sagt der Fotograf im Abgehen. Beth rollt mit den Augen: „Bei uns in Portland sagen wir zu jedem, Hi girl!‘ Warum denn auch nicht? Man sagt doch auch:, Hey man!'“

Dann kommt sie gerne noch einmal auf ihre Solo-EP zu sprechen, die nicht nur Befürchtungen über eine mögliche Auflösung ihrer Band auslöste, sondern auch einige Fans aus der Standing In The Way Of Control-Ära von Gossip verschreckte: „Ich bin froh, dass ich die EP gemacht habe“, sagt sie. „Ich habe mich irgendwie befreit gefühlt dabei und hatte großen Spaß an der Arbeit mit Simian Mobile Disco. Manche Leute mochten’s, andere nicht. Viele schwule Männer haben es geliebt. Man kann ja auch nicht immer dasselbe machen.“

Nicht dass diese Gefahr je bestanden hätte. Für das 2009 erschienene Erfolgsalbum Music For Men hatten Gossip sich der Produzentenlegende Rick Rubin anvertraut. Der Unterschied zu Brian Higgins könnte kaum größer sein: „Mit Rick Rubin sprachen wir endlos über Bands und Platten, und warum sie so gut und so wichtig für ihre Zeit waren. Brian ist nicht weniger philosophisch, aber er kommt aus einer völlig anderen musikalischen Welt. Als ich ihn zum Beispiel auf den Song, Time Of The Season‘ von den Zombies ansprach, fragte er:, Wer? Welcher Song soll das sein?‘ Wirklich erstaunlich. Er denkt nicht in Bands, er denkt in Sounds.“

Umso ungewöhnlicher ist es, dass Gossip und Xenomania zusammenkamen. Oder eben gar nicht ungewöhnlich: Die Kooperation hört sich nach der Idee einer Plattenfirma an, die darauf bedacht ist, die „Heavy Cross“-Erfolgsgeschichte fortzusetzen. Aber nein, „das hat alles überhaupt nichts mit der Industrie zu tun“, sagt Beth Ditto. Der Kontakt kam über Richard Mortimer zustande, einen Club-Veranstalter in London – „ein Typ aus der Underground-Szene, der Gratis-Partys gibt für Leute, die es sich nicht leisten können, in diese hypercoolen Clubs zu gehen.“ Beth spielte auch schon eine Soloshow auf einer dieser Partys. Mortimer jedenfalls war es, der sie mit Higgins bekanntmachte. Und kurze Zeit später arbeiteten sie schon zusammen: „Mir fiel erst gar nicht auf, dass wir längst angefangen hatten, miteinander Songs zu schreiben. Brian spielte einfach ein paar Beats und fragte mich, ob ich eine Melodie drüber singen könnte. Ich sagte:, Das will ich hoffen!‘ Und dann frage er mich, wie ich es denn fände, gemeinsam an neuen Gossip-Songs zu arbeiten. Diese Idee wäre mir nie gekommen. Mir war zu diesem Zeitpunkt eigentlich auch immer noch nicht klar, wer dieser Mann tatsächlich ist.“

Ein paar Monate später steht sie nun am Fenster dieses britischen Landhauses, schaut auf ein besonders idyllisches Fleckchen England hinaus und gesteht allen Ernstes ihre Angst vor den Geistern der Alten Welt. „Ich hab mich geweigert, hier zu schlafen. Nathan hat hier übernachtet, aber ich hatte zu viel Angst. Ich fürchte mich wirklich … überleg doch mal, manche Räume in diesem Haus sind 600 Jahre alt!“

Und wir dachten, nichts auf der Welt könne Beth Ditto Angst machen. Aber es ist wohl einfach so: Nichts aus dieser Welt kann Beth Ditto Angst machen.

Der Rundum-Dienstleister Xenomania

Xenomania ist tatsächlich eine „Hitfabrik“. Der 1966 geborene, als Musiker wenig erfolgreiche Brian Higgins gründete sie 1997 und hatte mit Chers „Believe“ ein Jahr später gleich einen Riesenhit. Higgins versammelt in seinem Unternehmen, das Musikern auf ihrem Weg zur Plattenproduktion eine Rundum-Dienstleistung anbietet, ein komplettes Team aus Produzenten und Songwritern um sich. Auch eine eigene „Hausband“ steht zur Verfügung. Die Belegschaft, die sich in täglichen Meetings trifft, erarbeitet Backing Tracks, Refrains und Beats, aus den besten werden schließlich die Songs zusammengebaut. Die zumeist entsprechend üppig ausgestatteten Stücke (Pitchforkmedia: „Songs, fast bis zum Platzen gefüllt, mit ein, zwei, drei, vier verschiedenen Refrains“) bedienen sich bei allen möglichen Genres von Electronic über Motown Soul bis hin zu Punk und 50s- und 60s-Popklassikern. Während die Zusammenarbeit mit dem Xenomania-Produkt Girls Aloud sowie mit Acts wie den Minogue-Schwestern, Saint Etienne, Pet Shop Boys, Texas, Annie und den Sugababes meist erfolgreich verlief – Xenomania ist Stammgast (vor allem) in den Top Ten der UK-Charts -, wollten Franz Ferdinand und New Order, aber auch Britney Spears ihre Songs, die bei Xenomania entstanden sind, später nicht veröffentlichen. ogö