Aura, echte Aura


Das große Kaleidoskop menschlicher Emotionen, inszeniert für die Bourgeoisie – das kann Spaß machen: Ariadne von Schirach outet sich als Klassikfreundin

Deutsche Oper Berlin, ein Sommerabend. Blus bleiches Schlüsselbein schimmert im Gegenlicht, während sie gestenreich von ihrem letzten Wochenende erzählt und dabei die gut gekleideten Anwesenden mustert. Ein Hauch von Bourgeoisie liegt in der Luft. „Der gute Westen – altes Geld und schöne Mädchen. Hier sind auch keine Touristen – man ist unter sich. Die sind unter sich. Und, äh, wir.“ sage ich, während Blus Blick an einer älteren Dame mit durchsichtiger Tüpfelbluse empor wandert. Ein warmer Wind weht, heitere Stimmen umfließen uns, ein Kind hüpft durch den Brunnen vor der Opernkantine.

„Mögen wir das jetzt, oder was?“ fragt Blu leichthin, und dann schwärmt sie von dem neuen Video von Janelle Monáe, „Tight Rope“. Diese Tolle! Dieser Tanzstil! Diese unfassbar leichten Füße, diese vibrierende Stimme, dieser scharf geschnittene Anzug! Ganz groß. Ich hatte den Clip auch schon gesehen – leidenschaftlich, frisch, eigenwillig, mit außerordentlich souveränen Referenzen an die afro-amerikanische Musikkultur. Dazu Charme, Haltung und genügend Energie, den mittleren Westen einen Monat lang mit Strom zu versorgen. Groß, fürwahr.

Es klingelt zum zweiten Mal, wir gehen rein. Sitzen in der dritten Reihe in einer Loge am Rand, Blu ist amüsiert und gespannt: ihre erste Oper, die Karten ein längst überfälliges Geburtstagsgeschenk. Und wie könnte es besser passen – gegeben wird „La Bohème“, schmissiges Prekariatsgeheul aus dem frühen 19ten Jahrhundert. Vier Freunde, ein Maler, ein Dichter, ein Musiker und ein Philosoph lieben ihre Kunst zu sehr, um sie zu kommerzialisieren. Ein Leben von der Hand in den Mund: leidenschaftlich, brotlos und voller Gefühl. Im Berlin nennt man das: arm aber sexy. Doch wie banal erscheint diese gut vermarktete Elendskoketterie angesichts der poetischen Worte, mit denen sich Rodolfo der Dichter vorstellt:

In meiner frohen Armut

verprasse ich wie ein grosser Herr

Reime und Liebeslieder.

An Träumen und an Chimären

und an Luftschlössern

ist meine Seele Millionärin.

Und es entgegnet Mimi die Näherin mit der poetischen Seele:

Ich lebe allein, ganz allein

hier in einem weißen Kämmerchen;

schau über die Dächer und in den Himmel,

doch fängt es an zu tauen,

mein ist die erste Sonne;

der erste Kuss des Aprils ist mein.

Dann ein ganzes Leben im Schnelldurchlauf: Liebesglück, Täuschung, Versöhnung, tragischer Tod Mimis, wahrscheinlich an Schwindsucht. Dass Armut romantisch sei, haben sich die Reichen ausgedacht. Dieser Schmerz! Diese Unausweichlichkeit! Diese unendliche Sehnsucht! Töne umfließen uns wie Wellen auf einem fremden Ozean. Das fasziniert mich so an klassischer Musik: Je öfter ich manche Stücke höre, desto bedeutungsvoller werden sie; sie reichern sich an, anstatt sich zu erschöpfen. In ihnen ist Platz für alle Farben meiner Seele, besonders für das paradoxe Nebeneinander von Freude und Schmerz, Jubel und Entsetzen und für das Unsagbare. Vor allem für das.

An diesem Abend entfaltet sich die ganze Pracht einer klassischen Inszenierung. In einer Szene, die im Quartier Latin spielt, sind mindestens 150 Leute auf der Bühne – Gaukler, Artisten, Flaneure. Und die ganzen Kinder! Und das riesige Orchester! So viele Menschen weihen den Moment mit ihrer einmaligen Körperlichkeit – Aura, echte Aura. Alles begleitet von dieser wunderbaren Musik und dem, was sich durch sie ausdrückt. Das ist für mich die Seele der Oper, dieses komplexe Kaleidoskop menschlicher Emotionen auf engstem Raum. Liebe, Euphorie, Verzweiflung – nur ein Notenbreit voneinander entfernt. Fast wie im echten Leben. Das mag man, oder man mag es nicht. Blu sieht Gott sei Dank ziemlich ergriffen aus. „Das war toll“, sagt sie beim Rausgehen, und während wir die vorbeiströmenden Gäste beobachten, ein Dinnerchen, ein Gläschen, ein Späßchen, raunt sie mir zu: „Das ist ja wohl ein uraltes Prinzip: Die Bohème erlebt die Geschichten und die Bourgeoisie lässt sich davon amüsieren.“ Ich sehe sie an, die allzu dünnen Arme, die schwarz getuschten Wimpern – Anmut, Armut, Attitude, von allem zuviel, und ich fühle diese Rührung, an deren Ursprung mich die schönsten Arien manchmal erinnert: dass wir alle nur Menschen sind, leiden, lieben, sterben müssen, und ich greife nach Blus Hand und sage: „Wie eiskalt ist dies Händchen …“ Sie lacht, und dann gehen wir in Richtung U-Bahn davon, über uns der Himmel in leuchtendem Blau, vermischt mit dem beginnenden Glanz der nächtlichen Stadt.

Ariadne von Schirach veröffentlichte 2007 den Bestseller „Der Tanz um die Lust“. Sie lebt als freie Autorin in Berlin und schreibt u.a. für Welt online eine wöchentliche Kolumne über Glück.

In der nächsten Ausgabe schreibt an dieser Stelle: Harriet Köhler