Because we are your friends!


Es muss rocken: Zehn Jahre nach der großen Zeit des Big Beat entdeckt die elektronische Musik wieder einmal den Rock, Justice, Simian Mobile Disco und Digitalism stehen an der Spitze eines Electro- Rock-Revivals, mit dem 2007 niemand so richtig gerechnet hat, während Daft Punk eine Hysterie verursachen wie in alten Tagen.

Ein Samstagnachmittag im September 2007. In der prallen Spätsommersonne stehen zwei junge, aber nichtsdestoweniger ziemlich abgerockte Typen auf einer Bühne im Reitstadion Riem in München. Sie legen Platten – genauer: CDs – auf- genauer: ein. Die vielleicht 200 Menschen, die unten im Gras stehen, interessiert das nicht so sehr. Die warten auf Reamonn und die H-Blockx oder auf Bela B., die später am Abend auftreten werden – nur einer im Publikum, offenbar ein 90er-Jahre-erprobter Rave-Veteran, flippt komplett aus, tanzt ekstatisch, streckt seinen rechten Arm aus und schreit alle 30 Sekunden: ,Juuuuuuuuustice!“ in Richtung Bühne. Dort verliert einer der Adressaten des Schreis, Gaspard Auge (der mit dem Zuhälterbart), bald die Lust am Auflegen, oder besser: Einlegen, setzt sich auf den Drumriser hinter dem DJ-Pult, zündet sich eine Zigarette an und lässt Xavier de Rosnay (den anderen bei Justice) allein an den Knöpchen drehen und mit den gebrannten CDs hantieren. Nach ungefähr 20 Minuten – mitten im Justice-Track „D.A.N.C.E.“ – drehen die Techniker Justice den Strom ab. Der Zeitplan muss doch eingehalten werden. Ratlosigkeit und Schulterzucken auf der Bühne. Abgang Justice. So weit ist es gekommen. Ein Mainstream-Radiosender (Motto: „Hit Music Only!“) lässt bei seinem Kostenlos-Open-Air den heißesten Act des Jahres 2007 nachmittags um zwei, ein paar Minuten nach dem Einlass, Platten auflegen, dreht ihm mitten im größten Hit den Saft ab – und (fast) keinen interessiert das, weil noch fast keiner auf dem Festivalgelände ist, den das vielleicht interessieren könnte, der unter Umständen durch Zufall schon einmal den Namen Justice gehört hat.

Vier Jahre vorher beginnt die komische Erfolgsgeschichte von Justice. Gaspard Auge und Xavier de Rosnay schrauben im Jahr 2003 in ihrem Schlafzimmerstudio in Paris an ihren ersten Tracks herum. Ein lokaler Radiosender schreibt einen Remixwettbewerb aus. Es geht um den Song „Never Be Alone“ vom 2002er-Album We are your friends der britischen Indie-Rockband Simian. Justice nehmen an dem Wettbewerb teil – und gewinnen nicht. Pedro „Busy P“ Winter, Manager von Daft Punk und Chef des Labels Ed Banger Records, holt den Remix, ist begeistert davon und nimmt Justice unter vertrag. „Never Be Alone“ wird unter dem „Bandnamen“ Justice Vs. Simian auf Ed Banger Records als 12-Inch veröffentlicht. Bald nehmen DJs wie Erol Alkan, Tiga, Miss Kittin und DJ Hell den Track in ihr Programm auf. Der Synthie-getriebene, Daft-Punkige, funky Post-Disco-Track wird ein Dancefloor-Hit in ganz Europa. DJ Hell veröffentlicht den Song im Jahr 2004 auf seinem Label „International DeeJay Gigolos“. Mit seinem „Bavarian Gigolo Mix“ auf der B-Seite der 12-Inch infiziert er von da an auch die deutschen Clubs. Im Sommer 2006 wird der Track schließlich unter dem Titel „We Are Your Friends“ wiederveröffentlicht. Mittlerweile distanziert sich Xavier de Rosnay vom Mix. Er sei „zu clean“, sagt er.

Dass der Remix eines Anti-Drogensongs – Simian verhandelten in „Never Be Alone“ kritisch, aber ein wenig platt („Too many have failed to get this far but don’t let it get you down“) die ungebrochene Drogenfressermentalität der Zielgruppe – zum globalen Soundtrack der Ecstasy-befeuerten Clubnächte geworden ist, ist eine schöne, ironische Randnotiz der Geschichte. Mittlerweile hat „We Are Your Friends“ in einem der Dutzenden Remixe des Original-Remixes im Clubkontext dieselbe Funktion wie „Smells Like Teen Spirit“ von Nirvana und „Song 2“ von Blur bei der Indie-Rock-Nacht übernommen – es ist die Konsensnummer zum „Abrocken“. Sobald die glockenklaren Sequencerharmonien ertönen, steht der Dancefloor kopf.

Justice, Simian (Mobile Disco), Pedro „Busy P“ Winter, Ed Banger, Daft Punk – die wichtigsten Akteure eines Revivals, mit dem im Jahr 2007 nun wirklich keiner gerechnet hat. Das, was zehn Jahre vorher „Big Beat“ genannt wurde, hat sich durch die Hintertür wieder Eintritt in die Mainstreamkultur verschafft: Manche nennen es „Rock’n’Rave“, andere „Rocktronica“, wir nennen wir es „Electro Rock“ und meinen damit eine mögliche Fusionsspielart von elektronischer Musik und Rock, die nach Ansicht der Puristen in beiden Lagern ja als unvereinbar gilt. Vielleicht sind Kraftwerk, die Urahnen der modernen elektronischen Popmusik, schuld daran, dass überhaupt ein Dissenz in diesen beiden Lagern entstanden ist. Seit Mitte der 70er-Jahre wird Ralf Hütter, Chef und Sprachrohr von Kraftwerk, nicht müde, Gitarren als Instrumente aus dem Mittelalter zu bezeichnen. In einem Interview mit der Zeitschrift „Keyboards“ sagte Hütter 1987: „Die Gitarre wächst nicht auf dem Baum. Das ist ein hochtechnisiertes Instrument. Die Spielweise ist jedoch aus dem Mittelalter.“ Mitte der 90er-Jahre dann, als die elektronische Musik „intelligent“ sein muss und auch so genannt wird („Intelligent Dance Music“, kurz: IDM), entwickeln ihre Anhänger eine Arroganz gegenüber dem Rock. Im festen Bewusstsein, das „Richtige“ zu hören, lehnen sie Musik ab, die mit Gitarre und/oder Gesang aufgenommen wird. Auf der anderen Seite stehen die neo-konservativen (Indie-)Rock-Hörer, für die schon der Einsatz eines Drumcomputers in einem Song das Ende der Popmusik bedeuten kann. Welche der beiden Fraktionen in ihrer selbst bestimmten Stilbeschränkung mehr zu bemitleiden ist, ist schwer zu sagen. Das „sowohl als auch“ gibt es nicht zwischen Elektronik und Rock bei den Puristen. Im Mainstream schon. Mitte der cjoer-Jahre sorgt die Grunge-Müdigkeit der Zielgruppe für das strohfeuerartige Entflammen des „Big Beat“. Acts wie The Prodigy, Fatboy Slim, The Chemical Brothers, Apollo 440, Bentley Rhythm Ace, Propellerheads et al. produzieren Rockmusik mit elektronischen Mitteln und geben damit den leicht zu beeindruckenden Mitgliedern der Zielgruppe für eine kurze Zeit das gute Gefühl, wieder einmal die Zukunft der Popmusik gesehen zu haben.

Fatboy Slim selber ist das lebende Fusionsprodukt aus Rock und Elektronik. Als Norman Cook war er in den 80er-Jahren Mitglied der Gitarrenpopband The Housemartins. 1989, ein Jahr nach Auflösung der Housemartins, gründete er Beats International, 1992 dann Freakpower. Richtig groß – mit allem Drum und Dran wie Massenbeschallungen am Strand im heimischen Brighton – wurde Cook allerdings erst, nachdem er als Fatboy Slim Elektronik und Rock fusionierte. Sein größter Hit „Rockafeller Skank“ (aus dem Jahr 1998) ist ein mit billigen Effekten aufgeladener Prollrocker, der natürlich mit steigendem Alkoholpegel immer besser funktioniert. Fatboy Slim und seine Musik funktionieren heute allerdings nur noch im DJ-Rentnerparadies Ibiza, wo Norman Cook nach wie vor im Sommer als Schallplattenunterhalter von Riesentouristencrowds sein Geld verdient. Im Club geht mit Fatboy Slim nicht mehr viel. Nach Augenzeugenberichten leerte sich die Tanzfläche eines Berliner Clubs im vergangenen Monat schlagartig, als ein nicht unbekannter DJ „Praise You“ von Fatboy Slim aufgelegt hat.

„Firestarter“ und „Smack My Bitch Up“, die größten Hits von The Prodigy, waren falsch verstandener Punkrock mit Proll-Appeal, der in den 90er-Jahren natürlich auch hervorragend bei besoffenen, schlammbeschmierten Rockfestival-Crowds funktionierte. The Chemical Brothers, die einzigen Überlebenden des Big-Beat-Hypes, sind zum Zeitpunkt des Revivals immer noch da. Tom Rowlands und Ed Simons haben auch nach dem Hype, der spätestens mit dem Auftauchen der Generation Strokes Anfang des Jahrzehnts vorüber war, regelmäßig Platten veröffentlicht. Die waren zwar mittelmäßig bis schlecht, was aber die Anhängerschaft der Chemical Brothers nicht daran hinderte, immer größer zu werden. Jetzt können Rowlands und Simons für sich reklamieren, als Pioniere einer aktuellen Musikrichtung zu gelten.

Rock ist-wenn man AC/DC meint- laut, vordergründig, aufdringlich und posenbeladen. Die Protagonisten der „Intelligent Dance Music“ in den 90er-Jahren waren das Gegenteil davon. Sie setzten den effektheischenden Gitarren des Rock und den ballernden Big Beats kühlen, verkopften Minimalismus entgegen. Rockmusiker suchen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, frühe Minimal-Techno-Musiker wie Thomas Brinkmann und Mike Ink – ähnlich wie Kraftwerk vor ihnen – die Anonymität. Die Vertreter des neuen Electro Rock sehen dagegen aus und werden gefeiert wie Rockstars. Gaspard Auge und Xavier de Rosnay mit ihren schwarzen Lederjacken, den Röhrenjeans und dem kaputten Schick, der immer ein bisschen nach Alkohol- oder Drogenkater aussieht, könnten vom Fleck weg als Rhythmusgruppe jeder x-beliebigen Indie-Band engagiert werden.

Das Zentrum des Electro Rock liegt in Paris, von wo aus die beiden Labels Ed Banger und Kitsune‘ die Welt mit dem neuesten heißen Scheiß versorgen. Mit der Veröffentlichung des Justice-Debütalbums † im Sommer wurde das Ed-Banger-Label auch außerhalb der stets gut unterrichteten Kreise bekannt. „Wir verwandeln Verzerrungen in Musik. Wir lassen den Noisefunky klingen“, sagt Pedro Winter, der das Label im Jahr 2002 gegründet hat, weil er „die Schnauze voll“ hatte „von DJs mit großen Namen, die Scheißmusik spielen. Wir bringen den Dancefloor zum Schwitzen und die Mädchen zum Weinen.“ Wenn 2008 die Debütalben von ihm unter dem Pseudonym Busy P, das von Sebastian und vor allem das von Uffie erscheinen werden, wird Ed Banger wahrscheinlich einen weiteren Popularitätsschub erhalten. Uffie (bürgerlich Anna-Catherine Hartley), eine 20-jährige MC aus Miami, die nach Paris gezogen ist, spielt eine Mischung aus hartem Electro und Nu-School-HipHop mit eigenwilligem Rhyme-Style. Ihre beiden 12-Inches „Pop The Glock“ und „First Love“ werden weltweit bei jeder anständigen Clubnacht gespielt. Sie passt zum Sound des Ed-Banger-Labels, einem zeitgenössischen Update dessen, was Daft Punk vor mehr als zehn Jahren in die Welt getragen haben. Metallischer, funky Filter House, der seine Wurzeln in Electro, Rock und Rap hat.

Kitsune, ebenfalls im Jahr 2002 in Paris – als Ableger des gleichnamigen Modelabels – gegründet, begründet seinen Ruf in erster Linie auf die mittlerweile vierteilige CD-Serie kitsune maison compilation. Darauf kann man heute schon hören, was morgen jeder hören wird. Auf kitsune maison erschienen unter anderem die ersten Tracks der Klaxons und von Simian Mobile Disco sowie diverse Remixe von Indie-Hits von Bloc Party und Gossip. Der erste Album-Act, der bei Kitsune einen Vertrag bekam, ist das Hamburger Duo Digitalism. Ihr Debüt idealism ist im Mai dort erschienen. Jens „Jence“ Moelle und Ismail „Isi“ Tuefekxi waren vorher durch eine Vielzahl von Rock-nahen Remixen aufgefallen – darunter „Seven Nation Army“ (The White Stripes), „Fire In Cairo“ (The Cure), „Technologie“ (Daft Punk), „Never Let Me Down Again“ (Depeche Mode), „Atlantis To Interzone“ (Klaxons) und The Futureheads („Skip To The End“). Die Musik von Digitalism, die in einem Bunker in Hamburg entsteht, lebt von Verzerrungen und Grooves. „Wir trinken, haben Spaß. Wir sehen kern Tageslicht wjd werden durch nichts abgelenkt. Ich denke, unseren Sound verdanken wir dieser Bunkeratmosphäre“, sagt Isi. Als Kinder einer ebenso additiv ausgerichteten wie eklektizistisch funktioniernden Popkultur machen sich Digitalism keine Gedanken darüber, ob ihre Musik Elektronik für Indie-Kids darstellen soll oder Indie-Rock für Elektronikfans. Sie funktioniert in beiden Welten.

„Die Zeiten, in denen du im Plattenladen direkt entweder in die Rock- oder in die Dance-Abteilung gegangen bist, sind vorbei“, meint Jas Shaw von Simian Mobile Disco. „Solche Unterscheidungen spiegeln die zeitgenössische Musik nicht mehr wider. Die Leute sind heute viel offener gegenüber verschiedenen Alten von Musik.“

Zusammen mit James Ford gründete Shaw nach dem Ende der nach eigener Aussage „electronically enhanced psychedelic folk band from England“ Simian, die wir erinnern uns – indirekt an Justice schuld sind, das Projekt Simian Mobile Disco. Das Debütalbum attack decay sustain Release ist 2OO7 kurz vor dem Debüt von Justice erschienen.

Was Sonst noch geschah: Andi Thoma und Jan St. Werner von Mouse On Mars, die IDM-Veteranen aus den 90er-Jahren, tun sich mit Mark E. Smith von The Fall zusammen und nehmen unter dem Namen Von Südenfed das Album tromatic reflexxions auf, eine Platte, die unter Berücksichtigung aller erdenklichen elektronischen Stile und Möglichkeiten – Entschuldigung – „rockt“ wie sonst nichts. Alexander Ridha aus Berlin, früher als Kid Alex unterwegs, veröffentlicht unter dem Namen Boys Noize das Album oi 01 01 mit Acid-infizienemBaller-Electro-Rock. Daft Punk, die irgendwie schuld an der ganzen neuen Electro-Rock-Hysterie sind, begeben sich im Jahr 2007 auf ausgedehnte Welttournee und lösen eine Hysterie wie in alten Rave-Zeiten aus. Nur die von den britischen Medien für 2007 angekündigte „New Rave“-Welle ist ausgeblieben. Sie hat es nicht einmal bis an den Strand S von Popland gebracht. Klaxons, Shitdisco und New Young Pony Club arbeiten mehr oder weniger unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Zehn Jahre nach Big Beat – ein Jubiläum, das keiner so recht feiern wollte – ist der Big Beat als Electro Rock wieder da. Obwohl er auch nie richtig weg gewesen ist, er lief nur auf Spartenkanälen, die du nicht empfangen hast. Zum Beispiel auf DJ Heils Label „International DeeJay Gigolo Records“. Hell, selber New-Wavesozialisiert, hatte nie Berührungsängste mit Rock und Artverwandtem. Auf seinem Label veröffentlicht er seit Jahren Musikvon Acts (Miss Kittin, Tiga, Fischerspooner, The Presets), die sich auch auf Ed Banger gut machen würden. Dass jetzt Justice als die neuen Helden gelten und nicht Miss Kittin, entspringt einer liebenswürdigen Laune der unberechenbaren Popkultur.

Justice, Simian Mobile Disco, Digitaiism, Boys Noize – wie bei The Prodigy und Fatboy Slim handelt es sich dabei um elektronisch generierte Rockmusik für ein Rockmusik-Publikum. Das ist nicht neu in Bezug auf die Musikgeschichte, aber es ist neu in Bezug auf das, was in der jüngeren Musikgeschichte passiert ist. Das Publikum wird langsam Indie-müde. Die Euphorie des England-Jahres 2005 ist vorbei. Die Zielgruppe mag sich nicht mehr jede Woche mit einer anderen neuen Indie-Sensation aus England auseinandersetzen müssen. Selbst altgediente Indie-DJs werden weich und mischen in ihr Set einen Electro-Teil mit „D.A.N.C.E,“ von Justice, „Its The Beat“ von Simian Mobile Disco oder Gossip, Klaxons, Muse und Gorillaz im Soulwax-Remix. Und das Indie-Publikum bewegt sich dazu auf der Tanzfläche.

Thomas Bangalter von Daft Punk stellt (im Interview auf Seite 37) das Innovationspotenzial von elektronischer Musik im Jahr 2007 in Frage. Neu ist schwer was, da hat er wohl Recht. Muss es aber auch gar nicht sein. Innovation als einziges Kriterium für die Qualität von Popmusik gelten zu lassen, ist unzulässig. Da müsste die Rockfraktion ihre innovationsresistenten alten Helden von Lou Reed bis Bruce Springsteen schon vor Jahren eingesalzen haben. Die Innovationen in den wechselhaften Zyklen der Popmusik manifestieren sich seit mindestens zwei Jahrzehnten im Recycling der Musikgeschichte, in Revivals und zeitgemäßen Updates. Das, was wir Electro Rock nennen, ist nur eines davon – eines, das uns wieder einmal das gute Gefühl gibt, die Zukunft der Popmusik gesehen zu haben. Zumindest eine Zeit lang.