Blondie


So hektisch wie die ¿ Rhythmen der New Wave-Gruppen verlaufen meist auch ihre Karrieren: Nach einem überraschenen Fehlstart im Frühjahr und Sommer vergangenen Jahres kassierte die New Yorker Band Blondie jetzt beim zweiten Anlauf ihre erste Million. Hermann Haring sah sich das erste deutsche Konzert von Blondie in München an und fuhr mit der Gruppe, die der Musik Express bereits im September ’77 näher vorgestellt hatte, anschließend nach Bremen. Unterwegs passierten ausgefallene Dinge…

Die 400.000 Dollar, also rund eine Million Mark, ließ die Plattenfirma Chrysalis springen, um Blondie in ihren Stall zu holen. Das Geld ging allerdings nicht für Luxusautos und Traumhäuser drauf: Die Band um die attraktive Sängerin Deborah Harry startete stattdessen eine kostspielige Welttournee und mußte wohl auch noch ein hübsches Sümmchen berappen, um aus dem alten Plattenvertrag mit der Firma Private Stock herauszukommen. Nun aber läuft der Laden: In Deutschland zum Beispiel flimmerte Blondie Mitte Januar gleich dreimal über die Bildschirme, und das packende Testkonzert im Münchener „Downtown“ machte Appetit auf die kurze Tournee durch die Bundesrepublik im Februar.

Der zweite Anlauf brachte die erste Million

Blondies hervorragendes Debutalbum erschien Anfang 1978 zum zweiten Mal. Bei der Erstveröffentlichung hatte es in der Regel begeisterte Kritiken erhalten: Die Musik baute auf den unverdorbenen amerikanischen Popsound der frühen sechziger Jahre und knallte frisch, eingängig und ideenreich aus den Boxen; Sängerin Debbie verkörperte bei ihren ersten Europakonzerten – in England im Vorprogramm von Television – eine Synthese von allen möglichen Formen populärer Massenkultur, weckte mit ihrer Show und ihrer Persönlichkeit auf einen Schlag Assoziationen an Comic-Helden und Popstars, Filmidole und Kung-Fu-Kämpfer. In England kam diese Mischung auch bestens an und eine Blondie-Single in die Hitparaden; ansonsten aber lief nichts, vor allem in Amerika nicht.

Zur US-Tournee gab’s viel zu wenig Blondie-Platten

Was war passiert? „Es war zum Heulen!“, erzählte jetzt der Manager der Band bei einem Gespräch im Verlauf einer Zugfahrt von München nach Bremen zum „Musikladen“. „Wir tourten im Frühjahr ’77 durch die USA, gemeinsam mit Iggy Pop. Blondie kam bestens an. Aber in jeder Stadt, in der wir spielten, rannten wir in die Plattenläden und mußten feststellen, daß die Blondie-LP nirgendwo zu haben war. Und das in den USA, in der die Plattenindustrie eine so gewaltige Bedeutung hat! Kannst Du Dir vorstellen was das für eine junge Band heißt, sich Abend für Abend die Seele aus dem Leib zu rocken, um dann festzustellen, daß all die Leute, die durch die Konzerte angetörnt wurden, die Platte gar nicht kaufen können?“ Ihre damalige Plattenfirma, so ließ die Gruppe durchblicken, wusch sich die Hände in Unschuld – so kam es zum großen Krach.

Den Glauben an den Durchbruch hat die Band noch nicht verloren

Den guten Glauben an den Durchbruch hat die mittlerweile umbesetzte Band durch diesen Reinfall indes nicht verloren. Ihre Welttournee ging sie ganz cool an. England stand auf dem Reiseplan, dann Deutschland, dann Australien, Japan und noch die eine oder andere Stadt im Fernen Osten. Das ferne Australien wurde angeflogen, weil es für eine faustdicke Überraschung gesorgt hatte: Der verträumte Blondie-Song „In The Flesh“ hatte sich hier im Herbst und Winter 1977 zu einem ausgewachsenen Single-Hit entwickelt.

Zu Kopf sind den Blondie-Mitgliedern ihre Erfolge in England und Australien noch nicht gestiegen. Im Gegenteil: sie benehmen sich urmenschlich. Beim Interview nachmittags im Zug kuschelt sich Debbie ohne Vorwarnung in ihren Pelz und schläft ein. Gitarrist Chris Stein, der neben ihr sitzt, grinst und meint, sie alle hätten ihren Erfolg vom Vorabend im Münchener „Downtown“ noch bis vier Uhr in der Früh begossen. Später, als ich den Zug verlasse, bittet Debbie diese Unhöflichkeit zu entschuldigen. Sie winkt noch einmal aus dem Zugfenster und verschwindet dann wieder tief in den Polstern.

Mit dem Zug von München zum Musikladen nach Bremen

Die Idee, der Lufthansa einen Korb zu geben und per Zug quer durch Deutschland zu reisen, hatte auch die Gruppe gehabt. Sie lud die Journalisten, die aus Norddeutschland zum Konzert nach München gekommen waren, ein, mitzufahren – um in aller Ruhe Interviews geben zu können und ein wenig von dem Land zu sehen, in dem sie sich gerade aufhielt. Etliche Schreiber lehnten indes dankend ab und eilten zum Flughafen. Übrig blieben Jörg Gülden von der Zeitschrift „Sounds“ und ich – und wir hatten verdammt viel Spaß. Bereits beim Frühstück im Münchener Hotel ging für uns die Sonne auf: TV-Star Ilja „Licht aus!“ Richter hielt uns beide, einen Herrn von der Plattenfirma Phonogram und eine rothaarige (!) Dame aus dem Musikverlag Intersong für die Band Blondie. Und zwar, nachdem er unsere deutschen Namen erfahren hatte. Wir waren froh, daß Debbie und Anhang zu diesem Zeitpunkt noch schliefen. Denn die Qualität deutscher Popmoderatoren hatte ja schon die Rockpalast-Nacht nachhaltig im Ausland unter Beweis gestellt…

Vom Star-Trip sind die New Wave-Leute noch weit entfernt

Später bot das Management der echten Blondie-Band Jörg einen Job als Roadmanager der Gruppe an. Die Offerte war ernst gemeint, zwei Tage später sollte es los gehen – nach Australien. Jörg kokettierte eine halbe Stunde mit dem Gedanken und sagte dann nein – zu viel Trouble, meinte er. Der Blondie-Manager nahm ihm das nicht übel und bestellte das nächste Bier.

Was bringen solche eigentlich unwichtigen Randerlebnisse? Sie illustrieren, meine ich, Atmosphäre, belegen die wohltuende Natürlichkeit von Leuten aus einer keimenden neuen Rockszene, die noch weit entfernt vom Startrip sind. Man sollte sie in vier, fünf Jahren an solchen Erlebnissen messen. In der Luft hängt die Frage, ob wachsende Popularität auch die New Wave-Rocker entstellt.

Power zwischen heißem Punk und saftigem Rhythm & Blues

Bis dahin wird Blondie aber wohl erst einmal musikalische Spuren hinterlassen. Im Vergleich zum Sommer letzten Jahres geht die Gruppe mit ihrer Energie jetzt effektiver um, verausgabt sich nicht mehr pausenlos und steht deshalb auch längere Konzert« gut durch. Das Repertoire im „Downtown“ war erstaunlich vielseitig und erstreckte sich von den bekannten punkigen Popnummern wie „X Offender“ oder „In The Sun“ (nach wie vor ein unglaublich mitreißender Titel) bis hin zu ziemlich lupenreinem Rhythm & Blues.

Der Reiz der frühen Rockjahre wurde wiederentdeckt

Erstaunlich war wiederum, wieviel Keyboardmann James Destri und Gitarrrist Chris Stein mit relativ einfachen, knappen Phrasen und Soli ausdrücken können. Mich erinnerte das immer an frühe Beatles-Platten, auf denen George Harrison so kurze, scheinbar simple Gitarrensoli einstreute und dabei doch so ungemein ökonomisch und ausdrucksstark spielte. Alle Materialschlachten und viertelstündigen Improvisationen des nachfolgenden Rockzeitalters können dem nicht ans Wasser reichen. Blondie hat – wie die meisten New Wave-Gruppen – den Reiz der frühen Rock-Jahre wiederentdeckt. Hoffentlich läßt der Größenwahn bei ihnen allen noch lange auf sich warten.