Britpop Supernova!


Von Anfang an ist 1995 ein sonderbares, ein seltsam widersprüchliches Jahr. Während sich Scott Walker aus seiner elfjährigen Versenkung bequemt, um von seinem unergründlichen Album tilt geschätzte 468 Kopien zu verkaufen, singen drei höfliche junge Menschen aus Hamburg lakonisch über die seelische Grausamkeit von Gitarrenhändlern und Backgammon-Spielern: Tocotronic mögen Blumfeld, Die Regierung und Cpt. Kirk 8t und haben mit digital ist BESSER eine der aufregendsten und einflussreichsten deutschsprachigen Platten überhaupt auf der Habenseite, was etwas heißen will, wenn man mitdenkt, dass Blumfeld im Jahr zuvor mit ihrem irren Meisterwerk l’etat et moi um die Ecke kamen. Auch Die Sterne machen von sich reden – alle drei Bands sind fortan die Aushängeschilder der „Hamburger Schule“ (bald wird der Ausdruck ebenso verpönt sein wie vor vier Jahren „Grunge“ und demnächst auch „Britpop“), die zahllose Epigonen zeugt und einen massiven Trend zum deutschsprachigen Rock-Lied anschiebt, der bis heute anhält.

Sonic Youth (washing machine) und Pavement (wowee zoweei) halten die Fahne des US -Indierock hoch, jeweils umwerfende Platten veröffentlichen drei Giganten aus dem Untergrund: Guided By Voices mit dem Beatles-infizierten ALIEN LAN ES und die aufsteigenden Indie-Sterne Bill Callahan aka Smog (wild love) und Will Oldham, diesmal als Palace Music (viva last Blues). Spätestens Kurt Cobains Tod im Vorjahr markierte das Ende von Grunge, doch das letzte Röcheln istgewaltig: Neil Young, wie nimmermüde betont wird ja der „Godfather Of Grunge“, nimmt sich seiner Erben Pearl Jam an und mit ihnen MlRRORBALLauf, während Billy Corgan mit den Smashing Pumpkins den Alternative Rock längst auf eine neue Ebene gehoben hat: mit dem monströsen Doppelalbum MELLON COLLIE &THE IN-FINITE sadness steht er auf dem Zenit seiner Kraft. Das gilt auch für B jörk und PJ Harvey, die mit post beziehungsweiseTO bring you MY LOVE wieder einmal „ihrer Zeit voraus sind“. In den schnöden „Media Control Single Charts“ halten derweil die schönsten Zufalle Einzug: Über Nick Cave und Kylie M inogue, die gemeinsam „Where The Wild Roses Grow“ raunen, wird getuschelt, während der alte Orange-Juice-Held EdwynCollins mit „A Girl Like You“ einen unwirklichen Top-Hit landet. Und dann ist da natürlich – Herzen gehen auf! – noch, Wonderwall“ von Oasis.

Womit wir bei der frischesten Blüte sind, die 1995 zu bieten hat: Britpop, auf der Insel schon seit längerem am Keimen, schwappt in diesem Jahr auch endgültig aufs europäische Festland über und lässt eine ganze Generation ihre Flanellhemden in die Ecke schmeißen. Und was ist das für eine fruchtbare, aufregende, sorglose Zeit im Sommer ’95. Alles ist Stil (und Stilisierung!), Pulps präzise beobachtetes Sittenbild DIFFERENT CLASS euphorisiert; Mädchen mit engen T-Shirts, auf denen „Menswear“ steht, fallen bei bloßer Erwähnung der Wörter „Jarvis“ und „Cocker“ in Ohnmacht, und mit Oasis und den Gallagher-Brüdern, die im Vorjahr ihr großartig rotznasig-hymnisches Debüt DEFINITELYMAYBE veröffentlicht haben und jetzt – was für ein Doppelpack! -(WHAT’S THE STORY) MORNING GLORY? nachlegen, hat der Rock nach den grimmen, zuletzt schal gewordenen Grunge-Jahren endlich wieder einen Haufen großkotziger, hedonistischer Stars vorzuweisen, denen eine deftige Kante und eine Schubserei im Pub allemal näher liegen als depressive Selbstzerfleischung. Viel Spaß wird gehabt: Die aberwitzigen Wortduelle zwischen den lustvoll prolligen Gallaghers und den feinsinnigen ehemaligen Kunstschülern Blur werden von der hy perventilierenden englischen Musikpresse dankbar aufgeleckt, das Charts-Rennen zwischen der Oasis-Single „Roll With lt“ und „Country House“ von Blurs XTC-Gedächtnisalbum the great Escape zum „Britpop-Battle!“ aufgeblasen.

Leisere Töne schlagen Radiohead an, die mit ihrem zweiten Album the BEN ds erstmals konkurrenzfähig werden. Thom Yorke zeigt erste Verhaltensauffälligkeiten und lässt sich im Video zum todtraurigen „Fake PlasticTrees“ in einem Einkaufswagen durch die Gegend schieben. Doch nicht jeder, zumindest nicht jeder deutsche Kritiker, will the bends als den offensichtlichen Geniestreich erkennen, der es ist: Eine wohl ernstgemeinte Plattenbesprechung erkennt in Yorkes Songs „nett gemachte Anbieder-Anschmiegsamkeiten, voll unehrlichem Pathos, voller Schwall und Schwulst“. Witzigste Rezension des Jahres! Auch das Debüt von Supergrass (i should coco) macht Staunen: so jung, aber schon so viel Musik gehört. Bald schon werden Belle & Sebastian mitTIGERMlLK aus dem Nichts auftauchen, um die Revolution der Niedlichen einzuleiten. Die allerschönsten Platten des Jahres sammelt man aber am Wegesrande ein: Die unnachahmlichen Jayhawks verzaubern mit melodieseligstem Alternative Country (TOMORROW the green grass), Teenage Fanclub aus Schottland sind mit GRAND PRIX ganz ähnlich unterwegs, und auch Wilco setzen mit A.M. zu ersten Schritten an. Nicht zu vergessen: Das meisterhafte zweite Album derTindersticks, das, wie schon das eiste, einen Anzug, aber keinen Namen trägt. Und zum Schluss: Songs wie Abrißbirnen und ein Bass wie ein Schlag in den Magen von Three Mile Pilot ist eine bis heute einmalige Studie der Zerstörung. Wir fassen zusammen: Bernd Begemann {„Du wirst dich schämen für deinen Ziegenbart“) hatte Recht: Die Holzfällerhemden verschwinden im Schrank, man trägt Trainingsjacken. Während Scott Walker noch Eichmann-Prozess und Luzerner Zeitung besingt, schieben die Chemical Brothers mit EXIT PLANET DUST und The Prodigy mit MUSIC FORTHE IILTED GENERATION Big Beat an und verlässt Robbie Williams TakeThat. Süperb, dieses Jahr.