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Buch des Monats

Irrungen und Wirrungen

Vatermord und andere Familienvergnügen

von Steve Toltz

(aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann)

DVA, 800 Seiten, 22,95 Euro

****1/2*

Ein äußerst lustiger Roman über eine äußerst traurige Vater-Sohn-Beziehung.

Ja, das Buch ist ein ganz schöner Backstein. Ein Roman von 800 Seiten, aber dicke Bücher sind ja derzeit ziemlich beliebt. Der Grund für diesen Umfang: „Vatermord und andere Familienvergnügen“ ist voller kleiner Details und reich an Windungen und Abschweifungen, aber diese enden eigentlich immer in einer Pointe von absurder Komik und dienen der nächsten unglaublichen Wendung einer dramatischen Familiengeschichte, die mal von tiefer Einsamkeit handelt und im nächsten Moment eine ganze Nation fesselt.

Erzählt wird die Geschichte von Jasper Dean, dessen Vater Martin im Verlaufe des Buches zum meistgehassten Wohltäter Australiens und dessen Onkel Terry der meistgeliebte Verbrecher des Landes wird. Jasper wird von seinem alleinerziehenden Vater von klein auf mit dessen selbstgebastelter, zutiefst negativer Philosophie befeuert. Doch bei aller Negativität, allem Pessimismus und aller Düsternis meint es der Vater eigentlich gut mit seinem Sohn. Große Teile des Buches werden vom Vater erzählt, in einer 17-stündigen mündlichen Lektion für Jasper, aus gefundenen Notizbüchern und einer angefangenen Autobiografie. So erfahren wir, dass schon Martins erstes Projekt, ein öffentlicher Kasten für Verbesserungsvorschläge, in seinem australischen Heimatstädtchen zunächst für Begeisterung sorgt, in der Folge aber seine Familie und schließlich die ganze Stadt zerstört.

Damit etabliert sich schon früh ein Muster, das in immer größere Absurdität gesteigert und mit immer weitreichenderen Folgen Martin und Jasper das Leben zur Hölle macht. Wobei Martin sein Leben sowieso schon als Hölle empfindet, denn seit er ein Teenager ist, wird er im ganzen Land nur als „Terrys Bruder“ wahrgenommen, als Bruder des Mannes, der mit einer Mordserie an schummelnden Sportlern die australische Volksseele beglückt. So wie Martins Projekte hoffnungslos zum Scheitern verurteilte Versuche sind, aus dem Schatten des Bruders hervorzutreten, so arbeitet sich Jasper an seinem Über-Vater ab: Sein Leben wird geprägt von der Sorge, wie sein Vater werden zu müssen – und es dauert 750 Seiten, bis er bemerkt, dass er ja auch wie seine Mutter werden könnte.

Im Original heißt der Roman „A Fraction of the Whole“, was den philosophischen Unterton des Buches besser trifft als der deutsche Titel, der dafür den Vorzug hat, den Sarkasmus und den überbordenden Humor der Geschichte anzudeuten. Denn dieses im Grunde tieftraurige Szenario wird mit einer so großen Lust am Wortspiel, an der treffenden Formulierung erzählt, dass die Anzahl der Seiten schnell ihren Schrecken verliert. Eines der Projekte von Martin Dean ist es, um ein eher bescheidenes Haus am Rande des Buschlandes herum ein hochkomplexes Labyrinth zu bauen, das Eindringlinge fernhalten soll. Von oben betrachtet mag der Plot dieses Romans gelegentlich einem solchen Labyrinth ähneln – doch Steve Toltz‘ großes Erzähltalent führt den Leser sicher hindurch und lässt Irrwege als großes Vergnügen erscheinen.

Felix Bayer

www.dva.de

Wem gehört die Popgeschichte?

von Gerd Gebhardt und Jürgen Stark

Bosworth, 384 Seiten, 19,95 Euro

**1/2*

Ist Freiheit das einzige was zählt? Zwei Insider des Popgeschäfts machen sich so ihre Gedanken.

Es ist ein seltsames Buch, das der ehemalige Warner-Europachef, Musikindustrie-Verbandsvorsitzende und Echo-Initiator Gerd Gebhardt und der Journalist und Eventmanager Jürgen Stark geschrieben haben. Auf den ersten Blick ist es eine Popgeschichte, angefangen mit dem Blues, mit einem Schwerpunkt rund um das Jahr 1968. Die jüngere Zeit wird eher kursorisch behandelt, mit Absicht, wie die Autoren im Vorwort ankündigen. Weil sie Mitte der Neunziger einen Epochenbruch ausmachen: Pop sei in der breiten Mitte der Gesellschaft angekommen.

Dass an jener Stelle ein historischer Einschnitt postuliert wird, zeigt bereits, dass Gebhardt und Stark in ihrer Darstellung den Schwerpunkt auf die Verbindungen zwischen Musik und gesamtgesellschaftlichen Veränderungen legen. Dieser Kontext hat den Vorteil, dass sich die Autoren den Anspruch komplett zu sein sparen und dafür epochale Momente genauer darstellen – mit Interviewausschnitten, Artikelzitaten und persönlichen Erinnerungen. Zudem liegt der Fokus eindeutig auf den Entwicklungen in Deutschland – was den Vorteil hat, dass man die als Popgeschichte noch nicht ganz so oft gelesen hat.

Doch zugleich soll es auch noch eine Streitschrift sein. Und dabei schießen Gebhardt und Stark manchmal übers Ziel hinaus. Rock und Pop waren für sie in erster Linie ein Aufschrei nach „peace & love & freedom“, wie sie an einer Stelle schreiben – daraus leiten die Autoren eine Kritik am mangelnden Widerstand gegenüber freiheitsfeindlichen Tendenzen des Islamismus ab.

An allerlei passenden und unpassenden Stellen werden mangelndes kulturelles Selbstbewusstsein der Deutschen, ungenügender Musikunterricht in den Schulen und übergroße political correctness beklagt. Besonders krude wird es, wenn die „Arisierung“ musikalischer Werke jüdischer Texter und Komponisten als „genauso pervers“ wie das heutige massenhafte illegale Downloaden von Musik bezeichnet wird. So wird „Wem gehört die Popgeschichte?“ zu einem kuriosen Manifest einer konservativen Pop-Weltanschauung, die einerseits vom Pop rebellische Kraft erwartet, die aber andererseits bitte die herrschenden Verhältnisse nicht zu sehr durcheinander bringen soll.

Felix Bayer

www.bosworth.de

Apathy for the Devil – A 1970s Memoir

Von Nick Kent

Faber & Faber, 408 Seiten (englisch), ca. 14 Euro

****

Erinnerungen aus einer Zeit, als der NME noch etwas zählte und Iggy Pop am Hungertuch nagte.

Am Anfang der 70er-Jahre kämpfte die Londoner Altherrenorgansiation New Musical Express um Anschluss an den Zeitgeist. In ihrer Verzweiflung warb sie der Untergrundpresse drei junge Journalisten ab, die den Kurs des Blattes nachhaltig beeinflussen sollten. Von dem daraus resultierenden Legendenstatus zehrt man noch heute. Charles Shaar Murray, Ian MacDonald und Nick Kent pflegten einen Stil, der profunde Sachkenntnis mit furchtloser Neugier und rasender Intensität vereinte. Es kommt ihnen zugute, dass Journalisten damals praktisch freien Zugang zu Garderoben, Hotelzimmern und Drogen der Stars haben. So gehört Kent bald zum inneren Kreis von Led Zeppelin. Wenig später kommt er nach einem Can-Konzert in Köln auf den Geschmack von Heroin und frönt diesem alsbald an der Seite von Keith Richards: Sich mit Richards im Drogenduell zu messen sei wie eine Schlacht gegen ein griechisches Fabelwesen, schreibt er. Er fährt mit Captain Beefheart durch ganz England. Der permament auf dem letzten Loch pfeifende Iggy Pop wird zum Busenfreund. Im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen schafft Kent den Spagat zwischen Zeppelin und Punk und landet sogar in einer Frühversion der Sex Pistols. Als er nicht mehr ins Business-Modell von Malcolm McLaren passt, lässt ihn dieser von Sid Vicious verdreschen und übt einen Rufmord an ihm aus, von dem sich das Opfer nie mehr erholt. Nun schleicht sich in die in einem eigenartig barocken Schreibstil gehaltenen Memoiren dieses archetypischen Seventies-Rock’n’Roll-Tieres eine unangenehme Verbitterung ein. Er sei das klassische Beispiel von „too much too soon“ gewesen, klagt Kent. Er tut die auf ihn folgenden NME-Schreiber als „ein Haufen Buchhalter“ ab, derweil die Anekdoten einer schonungslosen Beschreibung vom Leben eines Junkie weichen. Es endet im Happy End: Nach jahrelangem Gossenleben ist Kent heute „clean“. Aber die Narben, die die Zeit lässt, sind tief: Die in Kents letzten Tagen beim NME tonangebende Julie Burchill hat diesen in einer kleinkarierten Rezension in schrillsten Tönen als Saurier der Seventies verrissen.

Hanspeter Künzler

www.faberundfaber.de

Frei und auf den Beinen und gefangen will ich sein. Über die Indies

von Paul Eisewicht und Tilo Grenz

Archiv der Jugendkulturen Verlag

224 Seiten, 28 Euro

****

Endlich soziologisch erforscht: die Indie-Szene.

Wenn sich die Soziologie popkulturellen Phänomenen widmet, sind es meistens welche, deren Anhänger stark auffällig sind – sei es äußerlich, sei es durch Gewalt oder Drogenkonsum, sei es durch schiere Masse. Oft klingt zwischen den Zeilen eine Sorge um die Jugend durch, manches wird unter „Abweichendes Verhalten“ subsumiert. Um die Leute, die in die Indie-Disco gehen und die entsprechenden Konzerte besuchen, muss man sich eher nicht so viel Sorgen machen, aber erkennen und unterscheiden kann man sie schon – also kann man sie auch soziologisch beschreiben. Das haben Paul Eisewicht und Tilo Grenz in ihrer Diplomarbeit an der TU Dresden getan. Inzwischen sind die beiden wissenschaftliche Angestellte an der Uni Karlsruhe.

Was schon vom Untertitel an etwas irritieren muss, ist die Benennung der Szene-Mitglieder als „die Indies“; man kannte das doch eher als Adjektiv. Doch ansonsten ist die Beschreibung in den sozialen Kategorien (höhere Bildung, wenig Migrantenhintergrund), der Mode (Seitenscheitel, Streifen-T-Shirts, Umhängetaschen) und natürlich der Musik nachvollziehbar. Wobei man den Forschern schon anmerkt, dass sie keine großen Indie-Pop-Spezialisten sind – aber das müssen sie ja auch nicht sein, denn der Indie-Disco-Boom der vergangenen Jahre hatte sicher mehr mit Franz Ferdinand, Mando Diao oder den Strokes zu tun als mit Speziellerem.

Die Abgrenzung vom Mainstream ist natürlich wichtig, aber zunehmend kompliziert: „Wieder eine tolle Band an die Massen verloren“, klagt eine Interviewte über den Erfolg von Snow Patrol. Und der Wert der Natürlichkeit wird mit großem Stylingaufwand hergestellt, die Haare kunstvoll verwuschelt. Harmonie ist wichtig, wenig Konflikte mit den Eltern. Schön auch, mal ein Schaubild zu sehen, in dem die szeneinternen Abgrenzungen von „Fakes“ und „Indie-Spießern“ hergeleitet werden. Wer als Indie-Anhänger ein bisschen Toleranz für soziologischen Jargon aufbringt, wird bei der Lektüre hübsche Momente des (Selbst-) Erkenntnisgewinns haben.

Felix Bayer

www.jugendkulturen.de.

HimbeerToni

von Joachim Seidel

Piper Taschenbuch, 224 Seiten, 8,95 Euro

***

„Für immer Punk möchte ich sein“, sangen einst die Goldenen Zitronen. Den Figuren dieses Romans zum schnellen Weglesen geht es ähnlich.

Die Ausgangssituation des Debütromans von Joachim Seidel klingt ein bisschen so, als könne es darum gehen, was aus den „Dorfpunks“ von Rocko Schamoni wurde, als sie erwachsen geworden waren – erzählt als Coming-of-Erwachsenen-Age-Geschichte nach Art von Nick Hornby. Doch dafür ist „HimbeerToni“ zu überzeichnet, setzt zu sehr auf Klamauk: Ein auf Stelzen tanzender Bauchredner aus dem Kosovo taucht auf, ein verbogener Penis macht Sorgen, ein tobsüchtiger Polizist lässt sich nicht abschütteln. All das ist zugegebenermaßen sehr temporeich geschrieben, das Hamburger Lokalkolorit ist stimmig und die Handlung turbulent.

Das Hintergrundthema des Buches – die Tragik der Unmöglichkeit, ewig jung zu bleiben – scheint gelegentlich in hübschen Dialogen auf: „Und heute? Brauche ich ’ne Lesebrille“ – „Es muss auch weitsichtige Punks geben.“ Am Ende macht die Hauptfigur ihren Frieden mit dem Älterwerden – im Geburtshaus. Allzu harmonisch wird es da. Schön im richtigen Leben (Autor Seidel spielte einst Bass in der nordhessischen Punkband Remo Voor, die 1979 eine Single namens „Toilet Love“ veröffentlichte; er hat heute zwei Kinder), aber im Roman arg holzschnitthaft.

Felix Bayer

www.piper.de