Cocoon-Tycoon


Trautes Heim. Glück allein: Lenny Kravitz, der schon mit LET LOVE RULE die Trend-Nase vorn hatte, ist auch mit seinem neuen Album voll auf der Höhe der Zeit. Cocooning über alles — er singt nicht nur von den warmen Annehmlichkeiten des zurückgezo- genen Privat-Lebens, er bringt selbst kaum mehr einen Fuß vor die Tür seines ganz in Rot ausge- kleideten Lofts im Neiv Yorker SoHo. Für ME/Sounds-Mitarbei- ter Stefan Nink (und für ein Dut- zend benebelter Jung-Hippies) kochte er am heimischen Herd Voll- korn-Pasta mit Bio-Tomatensauce.

oootttzssschschittz! macht das heiße Fett und schießt Richtung Decke, und in Lenny kommt zum ersten und letzten Mal für diesen Abend so etwas wie Bewegung. Fast hätte er sich die Finger verbrannt, als er den Knoblauch in die Pfanne geworfen hat. „Fuck it!“ Der Maitre flucht und fährt mit einem fett-verschmierten Zeigefinger die Zutatenliste im Kochbuch nach: „How to get well“ von einem gewissen Dr. Aiola, einem Menschen, der schon aufgrund seines Namens auf die wundersame Wirkung von Knoblauch schwören muß. Sechs Zehen Knoblauch, drei Zwiebeln…

Über Musik, über seine Musik zu reden: Lenny hat zu allem anderen Lust. Die Songs kommen eh ganz von selbst zu ihm, von irgendwoher, sagt er — “ und mehr gibt ’s da nicht zu sagen, Mann, es kommt alles von Gott.“ Viel schwieriger ist das mit den Tomaten: „Versuch mal, in New York Tomaten zu finden, bei denen du dir sicher sein kannst, daß sie ökologisch angebaut worden sind. Mann, das ist vielleicht schwer!“

New York, irgendwo im Village Nähe Pnnce Street, in einem Loft im vierten Stock. Die Tür schließt nicht richtig. Draußen im Treppenhaus sitzt ein schmusendes Pärchen und paßt auf, wer reinwill. Dabei würde niemand den 27jährigen hier finden — Auf dem Klingelschild steht ein Pseudonym, das nur enge Freunde und die Plattenfirma kennen. Dabei liebt Lenny Besuch: Zehn, zwölf Leute sind schon da, drei oder vier sollen noch kommen. Deshalb kocht er. Pasta. Mit viel Knoblauch. Seine Gäste spielen unterdessen Pool, an einem Tisch mit rotem Filz, passend zu den abgesessenen Sitzkissen, die auch mal rot waren. Eiserne Kobras halten rote Glühbirnen im Schlund oder Räucherstäbchen auf dem Kopf. Von der roten Tapete lächelt Bob Marley. Die Luft unter der roten Zimmerdecke ist süß und schwer und knoblauchneblig. Lenny legt eine CD in den Player: Andreas Vollenweider.

Vollenweider?! Du hast doch mal behauptet, Musik habe mit Lärm zu tun! Hat sie auch, sagt Lenny. „Lärm gehört dazu. Bei mir ist Lärm Teil meiner Persönlichkeit — deshalb ist das neue Album auch ziemlich laut! Kennst Du’s schon?“ Fettfinger hin, Fettfinger her: Vollenweider wird ausgeknipst, ein Demo-Tape der neuen Kravitz-Produktion setzt sich in Bewegung. Ein erdiges Hendrix-Riff — die Gibson schreit auf. Lenny grinst. „Hörst Du das? Hör genau hin — die Gitarre kommt wie ein wildes Tier aus seiner Höhle und faucht los. Ist das Musik ?“

Klar, was sonst? Das Stücke hätte auch auf einer der ersten beiden Kravitz-Alben sein können: ¿

Eine derbe, rauh-rohe Mixtur aus Rhythm ’n‘ Blues, Soul, Rock, Reggae, ohne Synthesizer und Sampler, stattdessen mit bis zum Anschlag aufgedrehten Röhren-Verstärkern, deren lautes Brummen man in leisen Passagen im Hintergrund hören kann. Kurz: Das ganze hört sich mal wieder verdammt nach den guten, alten 60ern an … Der Holzlöffel im Pfannenfett rührt seine Runde zu Ende und stockt. „Die Lerne sollen mich endlich mit ihrem Sixties-Gequatsche in Ruhe lassen. Natürlich klingt meine Musik auch nach den 60ern. Natürlich hat mich diese Musik beeinflußt. Aber genausogut verwende ich Klassik- und Jazz-Elemente und Folk-Passagen. Nur erwähnt das niemand. Ich kann dieses Herumgedoktore nicht mehr ausstehen. Das ist meine Musik! Und entweder mag man meine Musik — dann ist das schön. Oder man mag sie nicht — dann ist mir das egal. Ich möchte nur nicht, daß man sie ständig auf den Seziertisch legt. Fuck it!“

Schweigen. Knoblauch und Zwiebeln zischen im Pfannenfett. Und überhaupt, zischt Kravitz, was wollten die Kritiker eigentlich? Jede große Band hätte anfangs Sounds und Stile kopiert, die es schon lange gegeben habe: „Die Rolling Stones haben doch auch die Songs alter Blues-Veteranen aufgenommen. Ich schreibe meine eigenen Songs, die halt manchmal so klingen, als seien sie vor dreißig Jahren geschrieben worden. Was zum Teufel ist schlecht daran ?“

Ok, ok, anders herum. Was ist das für Musik auf der neuen Platte? „Meine Musik. “ Und wie klingt die? „Nach mir. So, wie ich mich fühle.“ Und wie fühlst Du Dich? „Mittlerweile wieder ganz gut. „Also klingt die Musik auch ganz gut — wie heißt das neue Album überhaupt? „Eleutheria“. Der Name der Insel, von der Deine Vorfahren stammen?

„Jaaa — auch, stimmt. Eleutheria ist aber auch eine alte Bezeichnung für einen Zustand der Freiheit. Deshalb heißt sie so — nur wenn jemand frei ist, kann ersieh selbst verwirklichen. „

Also hat Lenny Kravitz (der sich kurz vor der Veröffentlichung die Freiheit nahm, das Album in ARE YOU GONNA GO MY WAY umzutaufen) ein politisches Album gemacht? Mit radikalen Versen wie bei Chuck D? Lenny kippt mehrere Kilo Tomaten in die Pfanne und holt tief Luft. „Das, was ich zur Politik zu sagen habe, habe ich auf LET LOVE RULE gesagt. Jetzt sag‘ ich dazu nichts mehr. Und was Chuck B. sagt, interessiert mich überhaupt nicht — ich weiß gar nicht, über was er schreibt. Kannst du mir mal eben den Pfeffer herüberreichen?“ Überhaupt interessiere ihn sein privates Wohlbefinden momentan viel mehr als die Politik, und das höre man den neuen Songs auch an — die seien sehr persönlich.

Zum Beispiel „Is There Any Love In Your Heart“? „Das handelt von einer Frau, die ihren Mann nur ausnutzt. Und der liebt sie, liebt sie wirklich. Aber sie will davon nichts wissen und nutzt ihn aus und verläßt ihn dann. Sowas erleben doch viele Männer, weißt Du. Über so etwas schreibe ich, Mann, das sind Themen, die jeden angehen, die jeder kennt.“ So wie jenes ominöse „Black Girl“ — heißt es mit bürgerlichem Namen Lisa?

„Quatsch, das ist nicht meiner Ex-Frau Lisa Bonet gewidmet, wenn du das meinst.“ Sondern? „Um das Stück zu verstehen, muß man wissen, welche Rolle die Frau in einer farbigen Familie spielt. Sie ist diejenige, die die Familie zusammenhält, die zwischen Kindern und Vater vermittelt, die die eigentlichen Entscheidungen trifft. Es hat, glaube ich, noch niemand so ein Lied geschrieben — es wurde aber wirklich Zeit. „

Wo wir gerade bei Frauen sind — Noch mehr Pfeffer? Bitte! — wie ist es eigentlich zur Zusammenarbeit mit Vanessa Paradis gekommen? „Einfach so. Moment mal. „Lenny öffnet einen Küchenschrank und fischt in Zeitlupe ein Familienpaket Vollkornnudeln heraus. Und noch eines. Es klingelt. Der nächste Gast betritt das Loft, wirft die Jakke in die Ecke und läßt sich mit einem „Hü“ in den letzten freien Plüschsessel fallen: Mike. Hat mit Lenny zusammen im legendären California Boy Choir in Amerikas bekanntesten Opernhäusern gesungen, als Kravitz vor ein paar Jahren für ein paar Jahre an der Westküste lebte. Die beiden begrüßen sich mit irgendsoeinem hochkomplizierten „Streetgang-Peace-Gimme Five!-Basketball“-Gruß, und irgendwie ist man froh, daß sie ihre Hände wieder heil aus der Klatsch- und Dreh- und Fingerhakel-Zeremonie herausbekommen. Blllllupp! machen die Tomaten in Pfanne — „Stell den Herd mal kleiner, Mann, sonst zerkocht uns alles!“

Uns?! Lenny, wie war das mit Vanessa? „Mit Vanessa ? Nichts war mit Vanessa. Wir haben uns in Paris getroffen. Irgendwer von ihrer Plattenfirma haue mich gefragt, ob ich keine Lust hätte, Vanessas neues Album zu produzieren. Ich wußte nicht, wer sie war und bin einfach mal in ihr Studio gegangen. Und dann hob ich mir gesagt: Das könnte was werden, warum nicht?“

Wieso: Warum nicht? Vanessa kann nicht singen, sondern piepst allenfalls wie ein Spatz nach dreiwöchiger Hungerkur — und da hast Du gedacht: Wieso nicht? „Sie hat Ausstrahlung, Mann. Und das Album gefallt mir. “ Klingt ja auch nach Dir! Ja, Mann, als ob ich mit einer anderen Stimme gesungen hätte. Sind wirklich ein paar schöne Stükke drä«/.'“Stimmt. Zum Beispiel das letzte auf dem Album: „Gotta Have It“. Da singt Vanessa was davon, daß ihr Lenny „es“ wie ein richtiger Mann tue, und daß sie ihn gerne lieben würde — aber er habe halt ein Herz aus Holz. Sämtliche Musik- und Zeitgeist-Magazine dieser Welt interpretierten das als Liebesgeturtel zwischen Paris und New York. Die meisten übersahen dabei, daß Kravitz das geschrieben hatte — und Vanessa es nur sang.

„Schhhiddmjann!“ sagt Lenny und nimmt den Kochlöffel mit kochendheißer Knoblauch-Zwiebel-Tomaten-Soße lufteinsaugend wieder aus dem Mund, der noch für ein paar Sekunden offenbleibt, „Shit, Mann!“ Das alles sei bloß ein Scherz gewesen, „ein richtiger, schöner Scherz. Aber anscheinend versteht das heute niemand mehr. Die Leute haben keinen Sinn mehr für Humor. Jedenfalls nicht meinen Sinnfiir Humor.“

Die Pasta ist fertig. Endlich! Die Küche sieht aus wie nach einem Angriff ausgehungerter Marsianer. Lenny kündigt todesmutig und voller Stolz den Beginn des Abendessens an. Anschließend verteilt er wahre Gebirgsmassen auf die Teller. Und drückt die Play-Taste des Recorders. Sein neues Album, mit der Lautstärke einer Boing kurz vor der Landung. Beim erstbesten Schlagzeugwirbel packt es ihn, und Löffel wie Gabel sausen durch die Loft-Luft wie die Sticks über die Toms — was die Zahl der Tomatensoße-Flecken auf den Kleidungsstükken der Gäste multipliziert.

Auch auf seinem dritten Album hat Lenny wieder fast alle Instrumente im Alleingang eingespielt, hier und da mischen ein paar Studio-Musiker mit, das meiste aber macht er selbst. „Die Drums klingen großartig. Mann, das ist Energie, pure Energie. Ich hätte Schlagzeuger werden sollen!“

Drei Monate hat Lenny Kravitz für sein drittes Album gebraucht, von der ersten Komposition am Klavier bis zur letzten Abmischung. „Ich weiß, daß ich so und so lange Zeit habe und vertraue auf meine Inspiration. .Believe‘ heißt einer der neuen Titel — Du mußt einfach an etwas glauben. An Dich oder an Gott oder an sonstwas — das ist völ>lig egal: Hauptsache, Du glaubst. Dann kommt es zu Dir, und Du mußt es einfach aus Dir herausfließen lassen, es umsetzen. „

Zwischendurch hat Kravitz noch einiges andere umgesetzt, hat nicht nur für Vanessas Album Zeit gefunden, sondern auch einen Song für das neue Aerosmith-Album geschrieben. Und zusammen mit Mick Jagger ein Duett für dessen neue Solo-Scheibe aufgenommen, „Use me“, einen alten Titel von Bill Withers. Zeit zum Schlafen blieb da nicht viel — was möglicherweise sowohl Lennys Laune wie seine Slow-Motion-Gestik erklärt. Als nächstes steht eine Tournee um die halbe Welt an: Europa, Japan, Australien — Lenny Kravitz macht Musik für die Welt. „Yeah, Mann“, bestätigt er mampfend, „ich mache Musik für all die Leute, die noch wissen, was gute Musik ist. „

Und die Pasta? „Die Pasta mache ich für alle Leute, die noch wissen, was gute Pasta ist.“