Das interessante Wesen Laufzettel


Rockmusiker werden Rockmusikredakteure. Die Sportfreunde Stiller - unerfahren und unerschrocken - hospitieren beim ME.

10:03 Uhr – vor dem Redaktionsgebäude des MUSIKEXPRESS Die Post kommt. Der Postbote fährt sein Postauto schräg auf den Bürgersteig vor der Werinherstraße 71, öffnet die beiden hinteren Ladeklappen und holt seine Sackkarre. Stapelt darauf Päckchen, Pakete und große Briefe. Dann balanciert er die Ladung die Treppe hinauf und fährt mit dem Aufzug zur Postannahmestelle. Auf dem Rückweg mit der leeren Sackkarre überfallen ihn drei junge Männer im Erdgeschoss:

„Servus! Grüß Gott! Wir sind die neuen Redakteure des Musikexpress, wo müssen wir denn hin?“ Der Postbote schaut auf den Stockwerkplan an der Wand, liest vor: „1,Stock“, und geht.

10:05 Uhr – ME-Redaktionsflur im 3. Stock Süffisanz-Übungen herumlungernder Musikredakteure: „Na, wo bleiben denn die Herren Rockstars?“ Kaum hämisch gelacht, schon stehen sie vor der Tür. Kurzes, beängstigtes Äugen auf die pralle Sporttasche, die Flo bei sich trägt. Dann aber großes Hallo im Flur. Die Sportfreunde sind da! Und sie bleiben da, zumindest heute, am Tag des umgedrehten Spießes: Musiker schauen Musikredakteuren bei der Arbeit zu. „Was heißt da zuschauen?“ mault es aus der Ecke, in der gerade noch ein Schlagzeuger namens Florian Weber stand. Jetzt steht dort schon ein ehrgeiziger Nachwuchsredakteur: „Ich habe mein Beatsteaks-Interview schon abgetippt, Zeichnungen fürs Quiz habe ich auch dabei, Fotos gemacht und auf CD gebrannt und…“ Anerkennendes Nicken der Redakteursköpfe: Der Bengel hat was drauf! Peter Brugger verbucht unterdessen auch ein erstes Erfolgserlebnis: Die ME-Kaffeemaschine kann ja Milchschaum!

10:20 Uhr – Zimmer von Christian Stolberg Morgenkonferenz beim Chef. Christian Stolberg schüttelt die Hände der Schnupperredakteure, darf sich dann aber nicht mehr hinter seinen Schreibtisch setzen. Weil: „Morgengymnastik!“ Feixende Sportfreunde halten sich unsichtbare Megaphone vor den Mund. Ja, das haben sie sich fein ausgedacht. Bassist Rüdiger mimt den Drill-Instructor, Christian Stolberg, Albert Koch und Oliver Götz müssen auf den Boden, in die Waagrechte und Dehnübungen machen. Angesichts dieses traurigen Schauspiels haben die restlichen Redakteure wichtige Unterlagen in ihren Zimmern vergessen.

10:42 Uhr – mitten in der Morgenkonferenz Telekolleg Presserecht mit Christian Stolberg. An seinen Lippen hängen zweieinhalb wissbegierige Nachwuchsjournalisten. Große Frage: Ist Frontmann Peter Brugger nun eine „absolute Person der Zeitgeschichte“ oder nur eine relative? „Absolut! “ ruft Peter. „Relativ“, sagt Flo, und Rüde tritt nuschelnd nach: „wenn überhaupt …“ Das wäre also geklärt. Ungeklärt ist bislang, warum Peter und Rüde die ganze Zeit unruhig auf ihrem Hosenboden hin und her rutschen. Als die Tagesaufgaben besprochen werden, kommt es raus. Peter stammelt: „Mein Interview mit Roque Santa Cruz wird doch nix, und meine Plattenrezension hat auch erst 1200 Zeichen, dabei arbeite ich schon die ganze Woche daran!“ Rüdiger vermeldet kleinlaut ähnliche Erfolge, nur Flo wühlt seelenruhig fertige Manuskripte aus der Sporttasche.

11:02 Uhr – vor dem Wasserspender im Flur Ein Gespräch zwischen Bassist Rüdiger Linhof und Kolumnist Josef Winkler funktioniert so:

rüde (aufgeregt): Das Darkness-Konzert soll ich doch kritisieren, hast du da schon Karten für mich? Und was ist mit meinem, äh, Fotografen, der muss nämlich unbedingt auch noch zwei Karten haben, für seine Kumpels, das habe ich ihm versprochen, das wären dann also insgesamt etwa fünf Karten.

JOSEF winkler (ungerührt): Aha, so einer isser, der Burschi!

RÜDE: Ja?

JOSEF WiNKLER: Nix ja,ruf halt an!

RÜDE: Ich soll da anrufen? Jetzt? Was sag ich denn da?

JOSEF WINKLER: Da sagst einfach, dass du fünf Karten brauchst.

rüde: Oh, okay!

Peter beobachtet die Szene als schemenhafte Figur aus der dunklen Ecke des Flurs und lacht sich ins Fäustchen.

11 :38 Uhr – Zimmer der Redakteure Michael Sailer und Oliver Götz Zwei Männer und ein Auftrag. Florian „Wie melde ich mich an der Journalistenschule an?“ Weber und Redakteur Oliver Götz. Der Auftrag: Das 15000 Anschläge starke Beatsteaks-Interview, das Flo ein paar Tage zuvor geführt hat, auf schlanke 8000 eindampfen. „Nur nicht zimperlich sein!“sagt Oliver und grinst wie ein Metzger. Kommentarlos schickt er größere Textbrocken ins Nichts. Flo kann Gewalt nicht ertragen, hält sich die Augen zu und erzählt, dass er in der Schule in Deutsch eher mies war und nur im Kommasetzen eine Eins hatte. „Punkt!“ sagt Oliver zufrieden. Er ist mit dem groben Messer durch. „Und jetzt machen wir die Feinarbeit!“ Peter steckt seinen Kopf zur Tür rein und fragt, ob Mittagessen hier ein Fremdwortsei. Harte Antwort: Ja.“

12:36 Uhr – Büro der Plattenfirma WEA Große Aufregung bei der WEA-Prakrikantin, die das Telefon abheben muss, während alle anderen in der Mittagspause sind. Gerade hat ein komischer „Rüdiger, neuer Redakteur vom Musikexpress“ angerufen und sich hartnäckig nach den Fortschritten der neuen Soundtrack-Of-Our-Lives-Platte erkundigt. Auf ihre Beteuerung, nichts davon zu wissen, ist dieser Rüdiger am anderen Ende beinahe ausfallend geworden und hat „Tolle Plattenfirma seid ihr, die nichts von ihrer besten Band weiß!“ geschimpft.

13:29 Uhr – Zimmer des Art Directors Arndt Knieper Flo bastelt an der Legende vom Multitalent. Nachdem seine selbstgeknipsten Beatsteaks-Bilder vom Art Director persönlich gelobt wurden, greift er jetzt zum Zeichenstift und kreiert das Logo der Sportredaktion Stiller. Zwei Minuten dauert das. Die Kunsthochschule, sagt er, habe ihn seinerzeit nicht genommen, was aber Glück war, denn sonst hätte er die beiden Sportfreunde wohl nie getroffen. Peter läuft derweil energisch durch den Flur. „Ich kaufe ein! Wer möchte Leberkäs-Semmeln?“

14:10 Uhr – Dach des Redaktionsgebaudes Hier oben sollen Fotos gemacht werden von der ganzen Mannschaft. Die Sonne schaut dabei zu, als wäre es Mai und nicht Februar. Und auf einmal liegt das Wort Titelbild in der Luft. Die Sportfreunde gackern aufgeregt herum. „Wenn wir ME-Titel werden, kriegt ihr alles exklusiv und sogar noch meine versprochene Rezension!“ lehnt sich Sänger Peter aus dem Fenster. Fotograf Winkler lehnt sich auch, allerdings derart ungestüm über die Balustrade, dass alle drei Sportfreunde gleichzeitig nach seinen Hosenbeinen greifen.

14:5« Uhr – halb Treppenhaus, halb ME-Flur Alles weint. Peter und Rüde haben sich schon wieder die Jacken angezogen und winken zum Abschied. Es eilt, sie müssen noch die Instrumente aus dem Übungsraum holen, denn am selben Abend steht ein Gig im Backstage an. Rüde bedankt sich unerwartet überschwenglich für die „tollen Erfahrungen „, vor allem das (tatsächlich stinklangweilige) „interessante“ Wesen des Laufzettels* habe ihn gefesselt. Albert Koch sagt plötzlich noch ungefragt in die Runde: „Der Peter hat aber bei mir ganz intensiv und gut recherchiert, als ihr gerade alle weg wart!“ Peter steht verschmitzt nickend neben ihm und schiebt unauffällig etwas in Kochs Hosentasche. Josef Winkler handelt bei Rüdiger noch Gästelistenplätze fürs Backstage aus und vollzieht damit den Rückwärtsrollentausch: Der Redakteur bettelt, der Star ist gnädig. Alles ist wieder beim Alten. * Laufzettel: dokumentiert den Werdegang eines Artikels vom Urzustand bis ins fertige Layout.

16:00 Uhr – Zimmer des Art Directors Arndt Knieper Moment, Flo ist ja immer noch da! Sitzt nicht auf einem Stuhl, sondern auf dem Stapel von Fleißbildchen, die er sich in den vergangenen Stunden verdient hat. Mucksmäuschenstill sieht er dem Grafiker zu, wie sein geschrumpftes Beatsteaks- Interview mit seinen drei Fotos und seinem Sportfreunde-Logo zu zwei Heftseiten verarbeitet wird. Seine Seiten! Stolz hält er das ausgedruckte Ergebnis in der Hand.

„Ist noch was zu tun? Ruft mich einfach an, wenn ihr noch einen Text oder so braucht!“ Freundliches Nicken; wirklich ein aufmerksamer und tüchtiger junger Mann, dieser Rockstar!