Das Kind im Neger


Willkommen im Reich der Stofftiere! Der 46jährige Funk-Papst, alt chaotischer Bandleader und Mastermind berühmt-berüchtigt, zeigt sich privat von einer ganz anderen Seite. Peter Jebsen besuchte den liebenswerten Ver- rückten auf seiner Farm in der Nähe von Detroit.

Morgens um fünf auf der Funky-Farm: Spotz spotz -— zäng —- bumm -— krach. Seltsame Geräusche tönen vom Flur. Nach ein paar Minuten steht George Clinton im Wohnzimmer. „Damn‘, nicht mal 4.000 Punkte! Wenn ich nur noch so wenig bringe, weiß ich, daß mit mir nichts mehr los ist. Good Night!“ Noch ein letzter enttäuschter Blick auf das Galaxian-Videospiel, und Clinton entschwindet in die Schlafgemächer. In der Nachbarschaft krähen die ersten Hähne.

Ein paar Stunden früher auf dem Detroiter Flughafen: Als mich George Clinton in der Ankunftshalle abholt, drehen sich nicht wenige Leute staunend nach ihm um. Irgendwie paßt er nicht dorthin, in die anonyme Menge geschäftig herumsprintender Aktentaschentypen und kofferschleppender Touristen. Was das Flughafenvolk von ihm denkt, kratzt Clinton nicht. Denn er spielt keine Rolle, er ist so, wie er aussieht. What you see is what you get.

Was Dr. Jekyll und Mr. Hyde für die Medizin bedeuten, das sind Dr. Funkenstein und Mr. Clinton in der Funk-Musik. Etwa 80 Kilometer hinter Detroit findet eine Metamorphose statt: Aus dem „workaholic“, dem Arbeitstier, das in drei Detroiter Plattenstudios gleichzeitig produziert, wird ein Spielkind.

George beginnt es in den Fingern zu jucken, wenn er an all die Abenteuer denkt, die ihn zu Hause auf der Farm erwarten: Der Galaxian-Automat lädt zu spannenden Gefechten mit Invasoren aus dem Weltall ein, mit einer Flotte von Spielzeugautos können Rennen auf dem Flurboden ausgetragen werden, und wenn ihm nachts um eins mal die Decke auf den Kopf fallen sollte, tobt er sieh bei einem Geländeritt auf dem (motorgetriebenen) Dreirad aus.

„Ich habe halt ein Comic-Hirn“, sagt Clinton, der an seine Musik mit der gleichen witzigen Verspieltheit herangeht. Seine LPs sind wie Wundertüten: Man weiß nicht, was drin ist; aber man kann sicher sein, daß man nur selten enttäuscht und um so häufiger angenehm überrascht wird.

„Inspired mad man or complete jack ass“ -— ist Clinton nun ein inspirierter Verrückter oder ein Volltrottel?, fragte einst eine englische Musikzeitschrift. Will er selbst überhaupt ernst genommen werden? Ein tiefer Zug an einer der stets paraten Spezialzigaretten, und er antwortet: „Das ist mir egal. Wenn man zu ernsthaft an eine Sache herangeht, wird man berechenbar und ist bald uninteressant. In dem Moment bist du weg vom Fenster. Ich bin lieber ständig eine kreative Plage!“

Clinton nervt -— und er verkauft. Sein aktuelles Album R&B SKELETONS IN THE CLOSET ist recht kommerziell geraten und legt zugleich den Finger auf einige offene Wunden der schwarzen Musikszene. Im Titelsong, der auf deutsch soviel wie „Rhythm & Blues -— Leichen im Keller“ bedeutet, wendet sich Clinton gegen manche schwarzen Crossover-Künstler, die sich mit weichgespülten Klängen so weit in die Pop-Musik hinüberbegeben, daß sie nicht mehr zu ihren Wurzeln zurückkehren können („They’re crossing over and can’t get back“). Was dem extremen Heavy-Funk unseres Mannes aus Detroit natürlich nicht passieren kann.

Mit anzüglichen Anspielungen auf Hamburger-Reklame, ausgeklinktem Rückwärts-Baß, schrägen Trompetenstößen und einem mächtigen Computer-Beat wurde die jüngste Single „Do Fries…“ in den USA zum Hit. Resultat: Clinton ist als Produzent gefragter denn je. Als er sich im Frühjahr eine Zeitlang zum Arbeiten in Los Angeles aufhielt, bot man ihm von allen Seiten Studio-Jobs an.

Doch die Plattenfirmen und die Acts, die ein Stück von dem ’86er-P-Funk-Kuchen abhaben wollten („P“ wie in „pur“), hatten nicht mit der anderen Seite von Dr. Funkenstein gerechnet. Der konnte es nämlich nicht abwarten, sich wieder in den Farmer Mr. Clinton zurückzuverwandeln. Er setzte sich von einem Tag auf den anderen ins Flugzeug und flog zurück nach Detroit.

Die Farm — das sind zuerst einmal ausgedehnte Ländereien, von denen Clinton mehrere Maisfelder an einen Bauern verpachtet, zwei Fischteiche, die ab und an fürs Abendessen sorgen, und ein großer Privatwald, durch den sich ein perfekter Geländeparcours für nächtliche Motorradsausen schlängelt. Und dann natürlich das geräumige Wohnhaus, in dem Clinton seit sieben Jahren lebt — zusammen mit seiner Frau Stephanie, mit der er seit zehn Jahren verheiratet ist, Kater Tommy und einer Unmenge von Stofftieren.

Niemand kann diese ländliche Idylle stören. Abgesehen natürlich von Freunden wie Clintons altem P-Funk-Kameraden Dootsy Collins, der eines Abends hereinschneit und bis sechs Uhr morgens Demo-Bänder vorspielt. Aber außer einem Vierspur-Recorder gibt es auf der Farm kein Band-Equipment und kein Telefon.

Clinton erklärt seine Arbeitsphilosophie: „Wenn ich in Detroit wäre, würde ich ständig sehen, warum ich ßr einen neuen Hit ranklotzen müßte. Mir fallen da auf der Straße ein schickes Auto oder ein hübsches Mädchen auf; oder jemand, der so aussieht, als ob er viel Geld hat. Das alles beißt dort wie ein Werbespot nach dir; und dir wird klar, wofür du noch einen Hit brauchst. Den erreichst du aber in einer solchen Umgehung nicht, weil du dir zu viele Sorgen darübermachst!“

Erstanden hat Streßflüchtling Clinton seine private Oase Ende der 70er Jahre, als er mit seinen beiden Bands Parliament und Funkadelic zu den Mega-Stars der schwarzen Musik zählte. Zehn Millionen LPs soll das Parliafunkadelicment Thang in seinen besten fünf Jahren verkauft haben, Umsatz für Clinton & Co: rund 40 Millionen Dollar!

Dr. Funkenstein erwies sich dabei als ein gerissener Taktierer, der den gleichen Musikerstamm unter unterschiedlichen Bandnamen an verschiedene Labels verdealte. Gegen ihn ist sogar der einstige Sex-Pistols-Zampano Malcolm McLaren ein Waisenknabe — Clinton verkaufte mehr Acts an mehr Plattenfirmen als irgendein anderer.

Bis dann ums Jahr ’80 herum das P-Funk-Mothership abstürzte. Jeder verklagte jeden. Die beteiligten Firmen, Rechtsanwälte, Musiker und nicht zuletzt Clinton selbst verfingen sich in einem Gestrüpp von Prozessen, aus dem sich der Meister 1982 leicht angeschlagen, aber ungebrochen, zurückmeldete.

Die Farm über diese Wirren hinwegzuretten, war für ihn in jenen dunklen Tagen so eine Art Lebenselixier. „Oh my god — war das ein Kampf!“, erinnert sich Clinton, während er morgens um 13 Uhr am Küchenfenster im Stehen seine Special-K-Gesundheits-Cornflakes in sich hineinlöffelt.

„Ich glaube, deshalb liebe ich die Farm auch so. Ich meine, ich bin von Grund auf ‚funky‘ und wäre in einem Hotel genauso gut draufgewesen. Aber ich hätte auf diese Weise um nichts zu kämpfen gehabt! Ich war gezwungen, Geld zu verdienen und weiter Musik zu machen. Deswegen haben mich auch die Plattenfirmen wieder für voll genommen, weil ich sie glauben machte, der Verlust des Hauses wäre das Ende der Welt für mich!“

Sein Fazit: „Die beste Methode, anderen klarzumachen, daß du Geld verdienen willst, ist diese: Besorg‘ dir ein Haus und ein Auto, und kämpfe darum. Jede Firma wird dir dafür einen Kredit geben — weil sie wissen, daß du am Montag wieder zur Arbeit antanzen wirst, um dafür zu bezahlen zu können!“

Auch für ihn nähert sich der Montag, an dem Dr. Funkenstein wieder das Ruder übernimmt. Zwei Monate vor einer Tournee mit der Thang Neuauflage The Mob muß er nämlich noch eben schnell drei LPs für verschiedene Kollegen aus dem Boden stampfen, mindestens ein Video abdrehen und dafür sorgen, daß die längst fertigen neuen Parliament- und Funkadelic-LPs endlich erscheinen können. Business as usual auf dem Mothership!