„Den Virus trägt jeder in sich“


Deutschland halluziniert im Reggae-Fieber. Schuld daran sind Seeed, denn das ist ihr Gebiet. ME begleitete die "Music Monks" nach Rothenburg, um über den Boom, Bohlen, Beats und deutsche Texte zu sprechen.

Ist ‚Ab in den Süden‘ von Seeed?“, steht weit oben unter den „Frequently Asked Questions“ auf www.seeed.de. „Nein, ist es nicht“, lautet die ungewöhnlich einsilbige Antwort. Warum der Spaßreggae-„Sommerhit“ immer wieder der Berliner Dancehall-Combo zugeschrieben wird, ist Pierre „Enuff“ Baigorry ein Rätsel: „Wir können das nicht verstehen, wie man denken kann, dass das von uns sei, denn sowas würden wir nie machen. Aber gut, damit muss man einfach leben. Der eine schmeckt halt den Unterschied zwischen Dosenravioli und frisch gemachten, und andere schmecken den nicht. Und so ist es mit Musik auch. Aber da wir den Unterschied sehr wohl bemerken und uns der auch wichtig ist, legen wir Wert darauf.“

Da das elfköpfige Kollektiv seit der Gründung 1998 bis heute mit größter Sorgfalt jedes Angebot, jede Entscheidung und vor allem den eigenen Output prüft, findet man Enuff, Frank „Eased“ Delle und DJ Illvibe aka Vincent von Schlippenbach am Samstag Nachmittag des Taubertal-Festivals nicht im orientalischen Backstagebereich hinter der Hauptbühne, wo sich ihre Kollegen zwischen Wasserpfeifen in den Kissen räkeln. Bei wüstenhafter Hitze sind die drei in einem Hotelzimmer in der von japanischen Touristen bevölkerten Altstadt von Rothenburg geblieben, um – zumindest bis zur Sportschau – an einem Song zu arbeiten. „Wir wissen noch nicht so genau, was wir als nächste Single veröffentlichen wollen“, erklärt DJ Illvibe und steckt Little Richards Greatest Hits – Recorded Live zurück in die verschlissene Hülle. Über einen notdürftig mit Mischpult und Laptop verkabelten Plattenspieler hat er auf dem wackeligen Tisch Scratches aus „Whole Lotta Shakin‘ Going On“ eingespielt. Zwar ist es nach Enuffs Aussage Wunsch der Plattenfirma, „What You Deserve Is What You Get“ aus dem aktuellen Album Music Monks als nächste Single auszukoppeln, doch arbeiten die beiden Sänger und Produzenten an diesem Nachmittag mit ihrem DJ in fiebrigem Eifer an einer Alternativ-Lösung. Die jamaikanische Dancehall-Legende Elephant Man hat auf den selbst für dortige Standards fabelhaften „What You Deserve…“-Riddim Strophen eingesungen, die Seeed mit neuen eigenen Texten zu dem Song „Shake, Baby, Shake“ gemacht haben. Ursprünglich war der Track für eine 7-inch-Veröffentlichung bei Germaican Records vorgesehen, die Band aber würde ihn lieber als nächste offizielle Single heraus bringen. „Es ist einfach so geil, was Elephant Man gemacht hat“, grinst Eased, den es vor seinem Laptop kaum auf dem Stuhl hält.

„Vielleicht sind die Scratches noch ein bisschen zu laut“, überlegt er und übergibt den Kopfhörer an Enuff. Der hört für eine Weile still und konzentriert zu, zieht den Mund hoch und kratzt sich am Kinn. „Scratch auf jeden Fall lieber auf ‚Shake‘ und nicht auf ‚Whole'“, sagt er lediglich zu DJ Illvibe und reicht den Kopfhörer an Eased zurück, um sich in einer ruhigen Hotel-Lounge eine Auszeit zu gönnen.

Lee „Scratch“ Perry saß in den 70er Jahren total bekifft in seinem Studio auf Jamaika und hat Rauch auf die Tonköpfe geblasen, damit der Sound dreckiger wurde. Ihr bastelt die Riddims heute am Laptop. Ist das Komponieren im Vergleich zu damals eine kühle, nüchterne Angelegenheit geworden?

Enuff: Hmm… Nee. Ist genau wie damals. Ich weiß auch nicht, ob Perry immer total bekifft war. Ich glaube, der wusste teilweise schon auch sehr genau, was er da macht. Oder learning by doing – er hat vielleicht was aus einem komischen Blitz heraus gemacht, aber dann hat er schon gemerkt, „Ah, das gibt den und den Effekt.“ Und das konnte er dann doch reproduzieren. Ich glaube, so funktioniert Musik immer noch. Und man kann manchmal auch wunderbar total stoned am Computer sitzen und irgendwas basteln.

Das führt zu Ergebnissen?

Mit dem stoned sein allgemein ist das so ’ne Sache. Auf Dauer ist es immer besser, man arbeitet auch öfter mal mit klarem Kopf, weil man dann schneller ist (lacht). Und die Stimmung, die man dafür braucht – das Gefühl dafür – hat man vielleicht irgendwann mal durchs Kiffen bekommen, aber man sollte es dann auch ohne Kiffen noch fühlen können.

Warum wollt ihr „What You Deserve Is What You Get“ nicht im Original als Single veröffentlichen?

Zum einen ist mir das ein bisschen zu offensichtlich. Die Hookline ist nicht mehr so mein Ding. Und zum anderen ist da der Mix ein bisschen platt geworden. Der Track mit Elephant Man ist geiler – ist ’n anderer Song auf dem selben Beat.

Dabei wolltest du qualitativ nie wieder Kompromisse eingehen, nachdem du rückblickend ein paar Songs auf eurem Debüt New Dubby Conquerers „latente Belanglosigkeit“ vorgeworfen hast. Jetzt bist du schon wieder mit einem Song unzufrieden…

Ja, ist aber auch wirklich nur der eine. Vor allem, weil er scheiße klingt. Wir haben das mehrmals probiert, sind aber nicht so auf den Turn gekommen. Aber sonst finde ich auf jeden Fall, dass die neue Platte sehr viel besser als die erste ist.

Wie steht’s mit der Distanz zur eigenen Kunst?

Das ist auch sehr unterschiedlich. Das ist wohl eine Charakter-Frage. Ich bin immer sehr kritisch. Mit anderen Sachen und auch mit eigenen. Ich neige schon dazu, Sachen, an denen wir arbeiten, immer noch nicht gut zu finden, auch wenn andere schon sagen, „Mann, das ist doch gut!“. Das ist auch so ein Ding beim Musik machen: Man macht was und fühlt’s und feiert’s halt ab, aber mit drei Tagen Abstand denkt man sich, „Naja, so genial war es nun auch nicht“. (lacht)

Ihr habt mit Warner Music eine muskulöse Plattenfirma im Rücken. Eure Entscheidungen trefft ihr trotzdem sehr eigenständig mit dem Ziel, dass euch die Arbeit mit Seeed Spaß macht.

Auf jeden Fall. Ich finde auch, dass das Standard sein sollte. Wenn ’ne Band nicht das macht, worauf sie Bock hat, ist das ja eigentlich für’n Arsch. Theoretisch müsste man sonst ein extrem guter Showman sein und das total gut verkaufen können, obwohl man’s eigentlich doof findet. Das könnten wir jedenfalls nicht. Aber ich glaube auch, dass Robbie Williams oder so okay findet, was er macht. Was heißt okay, der findet das gut.

Kompromisse gab es trotzdem: Am Anfang eurer Karriere wurde das arg sonnige „Tide Is High“ als Single veröffentlicht, ihr wart bei „Top Of The Pops“…

Ja, aber das ist auch was anderes. Es gibt wenige, die sich leisten können, überhaupt keine Kompromisse zu machen. Wir probieren auch, einigermaßen kompromisslos zu sein. Wir haben’s auch schon früh versucht, obwohl wir noch nicht den Namen hatten, und haben alle mit irgendwelchen komischen Forderungen in den Wahnsinn getrieben. „Nee, das machen wir nicht“ und „Nee, das machen wir auch nicht“, aber klar, du musst ab und zu Kompromisse eingehen. Und jetzt sind wir wieder kurz davor. Wenn alle wichtigen Partner von der Plattenfirma – wie die Radio-Leute und die MTV-Leute und tralala – sagen, „Wow, der Song ist der Hit von der Platte“, und wir aber sagen, „wir finden das den schlechtesten von der Platte“, dann muss man sich halt irgendwie einigen.

Nach welchen Kriterien wird da entschieden?

Die Plattenfirma geht eben eher danach, was ihre komischen Partner sagen. Damit liegen die dann oft auch schief oder halten den Fortschritt auf. Das Risiko, etwas Frisches auszusuchen und nicht das, was am besten im Radio funktioniert, wird nicht eingegangen. Und was so im Radio läuft – oder wenn man sich die deutschen Charts anschaut -, da muss man ja wirklich nichts weiter zu sagen. Das ist traurig. England geht so, aber in den USA finde ich die Hälfte der Sachen in den Charts gut. Weil’s halt auch viel HipHop und R’n’B ist. Und hier eher viel Dieter Bohlen-Büchse und Dance-Zeugs. Es muss ja ein Publikum dafür geben, aber es ist schon sehr risikoarm. So der Billo-Weg, der hier gegangen wird…

Bei Top Of The Pops habt ihr sogar live gespielt. Trotzdem hattet Ihr im Nachhinein den Eindruck, dass es in dem Kontext immer trashig wirkt.

Ja, das stimmt. Top Of The Pops ist zwar scheiße, aber es geht halt noch, weil die sich schon auf ’ne Liveband einlassen. Aber dann schneiden sie auch wieder irgend eine Strophe raus oder so. Und jetzt haben wir dann definitiv erst mal gar keinen Bock mehr drauf.

Ihr habt der Plattenfirma schon früh zu verstehen gegeben, dass Geld für euch nicht alles ist. Es ist sicher auch nicht leicht, mit euch zu arbeiten.

Also, wir sehen ja, was wir wollen. Denn wir sind ja die Band. Und wir benutzen ja – muss man auch so sagen – die Plattenfirma nur als Partner, mit dem wir weiterkommen wollen. Die wiederum sehen uns als Partner, mit dem sie Geld verdienen wollen. Und wir wollen natürlich auch von der Musik leben. Aber ich glaube, dass es längerfristig für uns besser ist – auch finanziell gesehen -, wenn wir Sachen machen, auf die wir Bock haben. Dann wird’s die Band länger geben, wir haben länger Spaß. Schnell einen Hit, das ist oft sehr kurzfristig gedacht. Weil die Identifikation mit einer Band bei Leuten stark darüber funktioniert, ob ein Act ernst zu nehmen ist. Auch wenn traurig ist, wenn man merkt, dass der Unterschied zwischen scheiße und gut auch bei den eigenen Fans oft gar nicht so wahrgenommen wird.

Patrice sagt, dass es keinen Reggae-Boom gibt, sondern dass die Leute lediglich darauf anspringen, weil es mit Seeed und Gentleman ein paar gute Acts gibt.

(überlegt lange) Es ist tatsächlich so, dass Reggae an sich – zum Beispiel eine Capleton-Platte – nicht mehr verkauft als vor fünf Jahren. Allerdings läuft Dancehall jetzt schon mehr in Autoradios, wo früher Tekkno oder HipHop lief. Es ist wohl so, dass die Musik ein bisschen in den Fokus gerückt ist. Auch natürlich durch die Videopräsenz von Acts wie Gentleman und Seeed – und weil die auch gut sind. Das sind einfach mal wieder Live-Bands.

Hat Reggae als Genre in Deutschland die Chance, mehr als ein kurzer Boom zu sein?

Wenn du jetzt mit Reggae wirklich die Dreads und Roots-Sachen meinst, dann ist das genauso in oder out wie vor zehn Jahren. Aber Dancehall zum Beispiel – und das liegt einfach an der Stärke der Musik – hat auf jeden Fall auch den ganzen US-Markt total krass beeinflusst. Die ganzen Beats, über die HipHopper jetzt rappen, das ist nicht mehr „Buff, Dutz, Buff,Dutz“, sondern „Uh – Umpf,Tz-Ähh“. „Get Ur Freak On“ von Missy Elliott, das war einfach Dancehall.

Du hast ausgerechnet nach einem Jamaika-Trip Lust bekommen, auf Deutsch zu Reggae-Beats zu toasten.

Ja, weil ich da auch gemerkt hab, dass die Art des Humors, oder auch der Dreck, der da drin ist und diesen Vibe ausmacht, für Leute hier sonst einfach nie so nachvollziehbar sein wird. Oder ein Stück über Berlin, mein Gott, das muss man auf Deutsch machen. Was soll ich jetzt da auf Englisch ’ne Strophe singen, wo ich Deutsch kann und hier lebe, das wäre Blödsinn.

Auf Music Monks halten sich die rein englischen Songs mit den englisch-deutschen die Waage.

Ja, ich singe auch trotz allem lieber auf Englisch als auf Deutsch. Und ich hab auch manchmal gar keinen Bock mehr auf deutsche Texte. Da reimt sich einfach nicht so viel wie auf Englisch. Auf Deutsch hast du irgendwelche komischen -krach-, -pst-, -krst-Endungen und wenn du willst, dass es flowt, musst du manchmal auch auf Sinn verzichten. Wenn du immer das perfekte Wort nehmen würdest, das vielleicht ein Dichter benutzen würde, wäre es oft nicht gut zu singen. Im Englischen kannst du ’ne geile Aussage treffen, die auch noch gut klingt. Ich will auch bald nochmal ein Jahr ins englischsprachige Ausland, um die Sprache besser zu lernen.

Bevor das allerdings zur Debatte steht, haben Seeed noch ein Kräfte zehrendes Herbst-Programm zu bewältigen, über das wir später noch sprechen werden. Nachdem sich Enuff für eine Dusche und gegen einen Ausflug in „die klassische alte deutsche Stadt, so wie sich der Japaner das vorstellt“, entschieden hat, geht es im Shuttle-Bus erst mal die steile Straße zum Festival-Gelände im Taubertal hinab. Während sich backstage Eased zu Tobsen und seinem Sängerkollegen Demba „Ear“ Nabe gesellt, um über den neuesten Stand der Single-Produktion zu berichten, sucht Enuff einen Computer mit Internet-Anschluss. Lange sitzt er in einem provisorischen Container-Büro des Veranstalters vor einem Rechner, liest E-Mails und streicht sich über seine rötlichen Bartstoppeln. Da er alle Belange von Seeed bis ins Detail kontrolliert, gönnt er sich vor dem Auftritt kaum Zeit, sich zu entspannen.

Mit all den Festivals und der anschließenden Tournee habt ihr euch eine Menge Arbeit aufgebürdet. Als ihr euch zuletzt 2001 solchen Stress zugemutet habt, bist du sehr krank geworden, da ein Herpes-Virus eine halbseitige Gesichtslähmung bewirkte.

Enuff: Ja. Wobei… ob das an dem Programm lag? Im Endeffekt hatte ich eine Grippe und wir sind halt im November auf Tour gewesen: Kalt und nass, nachts Auftritte und Schwitzen. Da ist das Immunsystem geschwächt und dann erwischt es einen. Den Virus trägt ja jeder in sich, als Kinderkrankheits-Ding. Normalerweise hat man den unter Kontrolle.

Du warst damals drei Monate in Asien. Zur Erholung?

Ja. Ich meine, die Krankheit war nach zwei Wochen gegessen. Es bleiben bloß Dauerschäden (deutet auf seine rechte Gesichtshälfte). Gegen die konnte man nach einer Weile nicht mehr wirklich was machen.

Ist die Motorik beeinträchtigt?

Genau. Der Nerv ist kaputt und die Funktion übernehmen dann andere – aber halt auch nur so halb. In Asien habe ich Urlaub gemacht und schon darüber nachgedacht, was man vielleicht anders machen muss. Nicht nur wegen der Krankheit. Das war jetzt nicht der große Stress-Schocker und ich musste kürzer treten, sondern eher ein Anlass, überhaupt über alles nachzudenken. Aber auf jeden Fall merkt man so ein bisschen, was wichtig ist, und was nicht.

Da sich Seeed zu aller erst als Live-Band verstehen, hat auch an diesem Tournee-Tag der nächtliche Auftritt Priorität. Großes Entertainment erfordert Disziplin: Eine Viertelstunde, bevor Seeed als Festival-Headliner 10.000 Menschen bis nahe an die Bewusstlosigkeit rocken werden, trifft sich erstmals die ganze Truppe in der Garderobe. Im Neonlicht eines engen Containers streifen sich die Elf ihre eigens für diese Tour gestalteten Mönchskutten über und sammeln sich schließlich in voller Montur am Fuß der Treppe, die auf die Bühne führt. Als die Pausenbeschallung endet und Jubel ausbricht, geht die Rhythm- und Horn-Section voran und eröffnet mit einem Instrumental eine Reggae- und Dancehall-Show auf höchstem internationalen Niveau: Kontrolliert aber mit wahrhaftigem Enthusiasmus werfen sich die drei Sänger und MCs in die Performance, fallen sich geschickt auf deutsch, englisch und jamaikanischem Patois ins Wort, streuen kleine Formationstänze ein, animieren das Publikum und fuhren immer wieder die brillant eingespielte Band in ekstatische Dancehall-Passagen. Da Seeed-Konzerte „so’n bisschen wie Tanzveranstaltungen“ (Enuff) sind, werden auch eigene Songs zu aktuellen Beats von etwa 50 Cent interpretiert. Nach unzähligen Zugaben und einem Dance-Kontest mit Teilnehmerinnen aus dem Publikum verabschiedet sich Enuff mit einer spontanen, waghalsigen Kletterpartie auf einen Boxenturm von der dampfenden, glücklichen Menge: „Wir fahren jetzt wieder nach Berlin, und ihr habt die erste Rothenburger Dancehall-Queen.“ Es wird noch lange dauern, bis hinter der Bühne alle Hände geschüttelt sind, alles besprochen und das Adrenalin wieder abgebaut ist. Erst frühmorgens steuert der Nightliner über das Kopfsteinpflaster Richtung Autobahn. Auch wenn sich Berlin besser reimt – die nächste Dancehall-Queen wird am Abend in der Schweiz gekürt. Bis dahin findet sich vielleicht auch eine Mütze Schlaf.

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