Kritik

„Der junge Wallander“ auf Netflix: So wurde er zu dem Polizisten, der er nie sein wollte


In einer Prequel-Serie bringt Netflix die Krimi-Kultfigur Kurt Wallander zurück. Als Nachwuchs-Kommissar in Malmö wird sein Optimismus gleich beim ersten Fall zerstört, der eine Welle des Rassismus heraufbeschwört. Trotz aktueller Thematik bleibt die Serie, ebenso wie ihre Figuren, blutleer. Unsere Kritik zur ersten Staffel.

Es ist nicht gerade der beste Zeitpunkt, um eine Polizei-Serie zu veröffentlichen. Ausgerechnet jetzt, wo sie im Rahmen der Debatte um Polizeigewalt ohnehin auf dem Prüfstand stehen und Schauspieler*innen, die selbst mal eine*n Detective gemimt haben, unter dem Hashtag „#blueactorsactblue“ Spenden als Kompensationsleistungen tätigen. Vor allem in den USA werden Cop-Shows für ihre unreflektierte Heroisierung der Ermittler*innen und ihrer voreingenommenen Perspektive, die sowohl die der Täter*innen als auch der Opfer zuverlässig übergeht, kritisiert.

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Auch „Kurt Wallander“ bedient ein TV-Ermittler-Klischee: Das des depressiven Kommissars, des Eigenbrötlers, der neben dem Beruf kein weiteres Leben mehr hat, irgendwie cholerisch und unberechenbar ist – so wie es das deutsche Publikum von Faber aus den Dortmunder „Tatort“-Folgen kennt. Mit dem Midlife-Crisis-geplagten Polizisten aus den Romanen Henning Mankells hat der junge Wallander der neuen schwedisch-britischen Koproduktion (noch) wenig gemein. Das bedeutet allerdings nicht, dass er nicht auch seine problematischen Seiten hätte. Stellenweise schrammt er haarscharf am White-Savior-Komplex vorbei.

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Von Schwedenhass und Schwedens Hass

Erst kürzlich von der Polizeiakademie abgegangen, schlägt sich Wallander (Adam Pålsson) zusammen mit seinem besten Freund Reza (Yasen Atour) mit kleineren Verstößen, die von umso größeren Ekelpaketen begangen werden, herum. Wenig befriedigende Einsätze, wegen Ruhestörungen und Ähnlichem, bestimmen seinen Alltag. Nach der Arbeit kehrt er zurück in sein kleines Apartment mitten in Rosengård, einem von Drogendealer*innen regierten Problemviertel in Malmö.

Eines Abends herrscht um den örtlichen Bolzplatz enormer Tumult, ein Pulk hat sich davor versammelt. Am Zaun ist ein junger, blonder Mann festgekettet, sein Gesicht in den Farben der Schweden-Flagge bemalt, der Mund mit Tape verklebt. Einige der Schaulistigen reißen Witze über ihn, andere sind schockiert. Als sich Wallander als Polizist zu erkennen gibt, um die Szene zu beenden, wird er zunächst als Verräter beschimpft. Dann stürmt ein Mann mit Kapuzenpulli nach vorn, reißt dem Opfer das Klebeband ab und gibt so den Blick auf eine Granate in dessen Mund frei, die wenige Sekunden später hochgeht.

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Die Reaktionen, die auf die scheußliche Tat folgen, katapultieren die Netflix-Serie mitten hinein in die aktuelle politische Wetterlage: Als Verdächtige werden schnell Migrant*innen vorverurteilt, deren vermeintlicher Schwedenhass als einzig mögliches Motiv verstanden. Eine von Rassismus durchtränkte Debatte über die schwedische Einwanderungspolitik kocht hoch, die Rechtsextreme und Nationalist*innen auf die Straßen und in die Talkshows lockt.

Richtig: Obwohl es sich um ein Prequel zu den Romanen handelt, spielt die Serie nicht etwa in den 1960er- oder 1970er-Jahren, als Wallander eigentlich in seinen Zwanzigern steckte, sondern im Schweden der Jetzt-Zeit. In einer Gegenwart, in der die rechtspopulistischen „Schwedendemokraten“ in den Umfragen regelmäßig über 20 Prozent der Zustimmung erlangen und somit noch vor den Sozialdemokraten stärkste Kraft im Land sind.

Blasse Figuren, blasse Serie

Weil Wallander mit dem Ort des Verbrechens vertraut ist, wird er prompt befördert und stürzt sich voller Inbrunst in den Fall. Er glaubt nicht daran, dass ein junger Nachbar der Täter war, generell nicht an ein Hassverbrechen. Bei seinen Ermittlungen wird er jedoch schnell mit rassistischer Voreingenommenheit aus den eigenen Reihen konfrontiert. Wahrscheinlich sind es auch diese Erfahrungen, insbesondere der Einfluss des abgebrühten Kommissars Hemberg (Richard Dillane), die ihn später selbst zu dem launigen Cop mit Alkoholproblem werden lassen, zu dem er nie werden wollte.

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Das ist allerdings schon das Höchstmaß an psychologischer Tiefenschärfe, die die (erste) Staffel über sechs Folgen erreicht. Überhaupt bleiben die Figuren, untypisch für Schwedenkrimis, erstaunlich blass. Das fällt natürlich vor allem bei der Hauptfigur stark ins Gewicht, die nicht einmal von einer charismatischen Besetzung zehren kann. Aspekte von Wallanders Leben, wie seine Einsamkeit, finden bislang keine Erklärung in seinem Charakter. Selbst der leicht forciert wirkende Handlungsstrang mit Love Interest Mona (Ellise Chappell) wird nicht zur Weiterentwicklung der Figur genutzt. Am Ende ist Wallander ein talentierter Verbrechensjäger mit dem Herz am rechten Fleck, dem allerdings jede Strahlkraft fehlt.

Obwohl sich der Plot schnell auf ein Szenario ausweitet, in dem es um illegalen Waffenhandel und die Frage, was Schwedens reichste Familie mit den Geschehnissen zu tun hat, ausweitet, kommt keine wahre Spannung auf. Insgesamt bleibt die Netflix-Produktion, obwohl sie zunächst Stichworte aufgreift, die den Anschein eines interessanten Debattenbeitrages erwecken, ebenso blutleer wie ihre Figuren.

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Die erste Staffel der Krimi-Serie „Der junge Wallander“ ist am am 03. September auf Netflix gestartet. Die sechs Episoden dauern im Schnitt 45 Minuten. Ob die Serie fortgesetzt wird, steht noch nicht fest.

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