Die 90er


Aufbruchstimmung und Orientierungslosigkeit zu Beginn des dritten Lebensjahrzehnts des MUSIKEXPRESS: Nach dem Fall der Mauer blickt man hoffnungsvoll, aber auch etwas misstrauisch auf das wiedervereinigte Deutschland. Die Skepsis gilt vor allem dem popkulturellen Vermächtnis der DDR, „wo der zahnlose Löwe als König gilt“ (M E 3/90). Ostdeutsche Bands wie City, Silly und die Puhdys bezeichnet der ME als „fossile Rock-Kombos“ und entfacht damit leidenschaftliche Diskussionen auf den Leserbriefenseiten der folgenden Ausgaben. Einigkeit herrschthmgegenbeimEngagement gegen rechtsradikale Tendenzen im Land: Der vom ME gestarteten Kampagne „Helfen statt Hauen“ schließt sich 1992 von Dieter Bohlen über Blixa Bargeld bis zu den Toten Hosen jeder an, der in der deutschen Musikszene Rang und Namen hat. Nur Herbert Grönemeyer fehlt aufgrund seiner Abneigung gegen den Mitinitiator Bundesinnenministerium, wie erim ME 1/93 erklärt: „Diehaben das Asylthema doch selbst hochgekocht, um sich die rechte Flanke hochzuhalten.“

Es lässt sich darüber streiten, ob die musikalischen Themen, die der M E zu dieser Zeit hochkocht, mehr Biss haben als der eingangs erwähnte DDR-Rock: Die Titelgeschichten orientieren sich an den großen Stars der 80er. Doch Billy Idol, George Michael und Guns N‘ Roses sind Auslaufmodelle, genau wie die alten Vinylplatten, die der ME im Mai 1992 symbolisch zu Grabe trägt. Bald werden die wichtigen Entwicklungen des jungen CD-Zeitalters aufgegriffen: Grunge, Hiphop und Big Beat.

Neue Trends wie House, Rave und das Remixen werden erkannt und erklärt („DanceMusik hat Massenappeal. Und wir brauchen Ekstase. Warum also nicht?“, steht im Artikel über die erste Loveparade), aber im Großen und Ganzen begegnet man elektronischer Musik eher zurückhaltend. Immer wieder beklagen Autoren und Leser den Niedergang „handgemachter“ Rockmusik, in den Liverezensionen werden Konzerte geradezu paranoid auf den Einsatz von verpöntem Playback untersucht. Umso wohlwollender nimmt der ME 1991 einen neuen Trend namens „Unplugged“ zur Kenntnis, ein Konzept, das Künstler dazu zwingt, ausschließlich akustische Instrumente zu verwenden, und somit „Playback-müde Rockstars auf den goldenen Boden des Handwerks“ zurückbringt. Doch schnell ist auch diese Idee ausgereizt. 1993 fordert der ME: „Der Saft ist raus: wir wollen unsern Stecker wieder haben.“

Der Stecker wird ab Mitte der 90er auch immer unverzichtbarer: Das Internet wird zum Massenmedium. Allerdings nicht über Nacht. Denn die für ein Massenmedium so konstitutiven Massen wollen erstmal gewonnen werden. Zunächst sind diese vom digitalen Messias noch enttäuscht. Der ME trägt dem in einem vierseitigen Report in Ausgabe 2/97 Rechnung: „Langweilige Homepages, auf denen so gut wie nichts läuft, Ladezeiten für mickrige Musik-Schnipsel, die Users ein Vermögen an Telefongebühren kosten (…) Und vergiß einfach mal die Videos.“

Kann man damals ja auch noch. Schließlich hat man teilweise bis zu fünf deutschsprachige TV-Sender, die rund um die Uhr milhonenteure Videos zeigen, die den Trend der 80er, den Clip als eigene Kunstform zu etablieren, fortsetzen. Ganz nebenbei generiert man hier auch noch Nachwuchs für Hollywood: Auf Alicia Silverstone und Liv Tyler wurde man in Aerosmith-Videos aufmerksam, und Kollege Koch arrangiert ein Interview mit der jungen Frau aus dem Stones-Video zu „Anybody Seen My Baby?“. Kurz darauf wird die Dame, mit Namen Angelina Jolie, zum Weltstar. Ebenfalls mit musikalischer Hilfe aufs internationale Parkett schafft es zu jener Zeit Gerhard Schröder. Wo seine britische Stylevorlage Tony Blair noch Noel Gallaghers Hand schüttelte, kann sich der werdende siebte Bundeskanzler Deutschlands allerdings gerade mal mit den Scorpions dekorieren. Aber mit einer bis dato historischen Bandbreite an Auftritten in den Medien pumpt sich der Nordrhein-Westfale so voller Pop, dass er auch für den ME ein Thema wird: Im Augustheft 1998 wird ein Wahlkampf-Gig Gerhard Schröders im Münchner Stadtteil Trudering rezensiert. Mit Diss-Sprüchen gegen die konservative Konkurrenz und Anbiederungen an die Bayern („Jetzt gebt mir doch mal ein Bier her.'“) geht es ins neue Jahrtausend.

Wir erinnern uns: der Millennium-Craze. Der nicht eingetretene Y2K-Bug, die uns nicht besuchenden Außerirdischen — und das „Millennium Special“ des ME. Von August bis Dezember fasst der ME das „Jahrhundert des Rock’n’Roll“ zusammen und bereitet auf die Disco 2000 vor. In der laufen dann aber auch erstmal Bands wie The Strokes und Franz Ferdinand. Das 20. Jahrhundert war eben noch nicht alles zum Thema Rock’n’Roll.