Die Einige Dreifaltigkeit


Für den Milos Forman-Film „Man On The Moon" schrieben R.E.M. zum ersten Mal in ihrer Bandgeschichte einen Soundtrack - Grund genug für Michael Stipe, Peter Bück und Mike Mills, dem Musikexpress in New York City Einzelaudienzen zu gewähren.

ABSURD: DIE SCHWARZE STRETCH-LIMOUSINE STECKT IM STAU fünf Meter vor dem roten Teppich geht nichts mehr. Das noble Gefährt ist eingekeilt zwischen Lieferwagen und Yellow Cabs. Wer sich hinter den getönten Fondscheiben verbirgt, bleibt einstweilen buchstäblich im Dunklen. Wir befinden uns mitten in Manhattan, 141 West 54th Street, direkt vor dem Ziegfeld Theater, das 1927 der legendäre Musical- und Revue-Impressario Florenz Ziegfeld erbauen ließ. Das für New Yorker Verhältnisse geradezu winzige Gebäude verfügt nur über einen sehr schmalen Bürgersteig vor dem Haupteingang. Also verlegte man den obligatorischen roten Teppich kurzerhand ein paar Meter nach rechts und führte ihn von dort über einen kleinen Platz zum Seiteneingang. An den schweren Eisengittern, die den improvisierten Promi-Laufsteg einzäunen, bleibt so genügend Raum für diverse internationale Presseteams. Nun, um kurz vor sieben, wartet man gespannt auf Celebrities, die sich hier zur Premiere des neuen Milos Forman-Films „Man On The Moon“ die Ehre geben. Der Passanten-Auflauf hält sich in überschaubaren Grenzen – vielleicht 50 Schaulustige bibbern im eisigen Abendwind. Und die für den großen Auftritt herausgeputzten Stars, unter ihnen die Hauptdarsteller Courtney Love und Danny DeVito, der auch co-produzierte, stecken fest in der frühabendlichen Rush Hour.

Endlich kann die schwere Limo zum vorgesehenen Haltepunkt vorrollen. R.E.M. klettern aus dem Wagen. Michael Stipe (40) mit unverkennbarer Glatze, Peter Bück (43) mit unvermeidlicher Sonnenbrille und Mike Mills (43) mit der Aura des freundlichen Toscana-Llrlaubers. Die drei formieren sich zur Phalanx, haken sich unter, Stipe in der Mitte, und trippeln gemeinsam von Kamerateam zu Kamerateam. Fast wirkt der Auftritt, als wollten die physisch robusten Musiker ihren zerbrechlich scheinenden Sängervorden pfeifenden Böen, dem Blitzlichtgewitter und den lästigen Fragen der Pressemeute beschützen. Angesprochen auf die Szene erklären sie einen Tag später im Interview unisono: „Wir wollten den Leuten zeigen, dass wir eine Einheit bilden.“ Mills fügt lachend hinzu: „Außerdem ist dies die beste Art, zu dritt für die Kameras zu posieren.“

Szenenwechsel:

St. Regis Sheraton Hotel, nur zwei Blocks vom Ziegfdd Theater entfernt. Ein prunkvoller Luxustempel, erbaut um die Jahrhundertwende und ausgestattet mit verschwenderischer Pracht sowie üppigen Freskenmalereien. Der Erste, der dem verdutzten Chronisten in der Lobby über den Weg läuft, ist kein Geringerer als Sir Elton lohn höchstselbst. Der kleine Mann mit der putzigen Ponyfrisur ist im Big Apple, um für seine AIDS-Foundation einen 500.000-DolIar-Scheck in Empfang zu nehmen. Jetzt entschwindet er in Begleitung eines Galans und zweier Bodyguards im Fond einer bereitstehenden Luxus-Limousine.

Keine Frage, hier sind wir richtig, hier verkehren die Großen der (Rock-) Welt. Also auch R.E.M. Heute Mittag, einen Tag nach der Filmpremiere, sollen in der Nobelherberge Interviews zum Stand der Dinge im R.E.M.-Lager stattfinden. Und der ist derzeit durchaus rosig: Soeben hat die Band ihren ersten Film-Soundtrack fertiggestellt. Und die ausgekoppelte Single, „The Great Beyond“, ein Song in der Tradition anderer R.E.M.-Evergreens wie „Man On The Moon“ oder „Losing My Religion“, allerdings im zeitgemäßen Produktionsgewand, schickt sich an, zum ersten Hit für Stipe und die Seinen seit Jahren zu werden – derzeit ziert das Lied Platz 1 der US-Radio-Charts. Nach dem gelungenen Hollywood-Ausflug plant man überdies, im Frühling die Arbeit am nächsten Album aufzunehmen.

Mills ist ein unkomplizierter Typ. Fragt man ihn, wie er mit dem Image des netten Kerls zurechtkommt, der das Band-Line-up komplettiert, aber nur selten im Rampenlicht steht, antwortet er gelassen: „Mich interessiert es nicht sonderlich, wie die Öffentlichkeit mich sieht. Fakt ist, dass wir als Trio eigentlich drei Anführer haben.“ Wie sehr der gebürtige Kalifornier den schönen Dingen des Lebens zugetan ist, zeigt sich als eine gut gewachsene Blondine vor dem Fenster vorbeistolziert. Mills verstummt augenblicklich, verrenkt den Kopf, stößt ein bewunderndes „Wow!“ aus und verfolgt hingerissen die elegant schwingende Heckpartie der unbekannten Schönen. Erst Sekunden später – die Dame ist längst außer Sichtweite – landet der Bassist wieder im Hier und letzt, entschuldigt sich breit grinsend und fragt, wo wir stehen geblieben waren. Äh, kein Problem.

Zur Audienz in Manhattan sind eine Handvoll loumalisten aus aller Herren Länder angereist. Die Plattenfirma hat für die Interviews nicht wie allgemein üblich eine Suite angemietet, stattdessen verteilt Promo-Dame Sue Wildish die einzelnen Musiker und ihre Gesprächspartner zwanglos im Hotel-Cafe. Schöne Bescherung. Denn die eher hektische Atmosphäre ist der Konzentration nicht eben förderlich. Zudem dürften die O-Töne der Herren Stars mit reichlich Tassen-Geklapper und Gäste-Gemurmel garniert werden. Sei’s drum. Die Musiker lassen einzeln bitten, leder Interviewer – es sind dies, frei nach Werner Höfer selig, zehn loumalisten aus fünf Ländern – darf sich jeden R.E.M.-Mann einzeln vorknöpfen. Fortan wird, frei nach Ottmar Hitzfeld, heftig rotiert zwischen den Tischen.

Mike Mills hält Hof in einer stilleren Ecke an einem kleinen Zweier-Tisch mit Blick auf die geschäftige 55th Street. Er schlürft einen Tee nach dem anderen, wirkt entspannt, und seine Statements kommen kompakt und pointiert. Hat er noch Spaß an Auftritten wie dem gestrigen auf dem roten Teppich? „Klar, es ist auch nach all den Jahren noch lustig. Obwohl man es nicht weiter ernst nehmen sollte. Die meisten Fotografen wissen eh in der Regel nicht, wer du bist.“ Als Bassist hat der 43-Jährige möglicherweise besonders unter dem Weggang von Drummer Bill Berry gelitten, der R.E.M. Ende 1997 den Rücken kehrte. Was also hält er vom neuen Drummer Joey Waronker, einem ehemaligen Beck-Sideman, mit dem R.E.M. ihre 1999er-Welttoumee absolviert haben?

Wie nicht anders zu erwarten, schwärmt Mills: „Ein wunderbarer Drummer. Und Joey ist ein absoluter Klasse-Typ.“ Warum steigt er dann nicht als vollwertiges Mitglied bei R.E.M. ein? Mills: „Es gibt keinen Grund, ihn fest in die Band aufzunehmen. Im Übrigen glaube ich, dass er da auch gar kein Interesse dran hätte.“ Kollege Peter Bück bestätigt dies später: „Joey hat gerade das Angebot von Beck abgelehnt, ihn auf einer 18-monatigen Welttournee zu begleiten. Er hat einfach keine Lust, sich für eine so lange Zeit an eine Sache zu binden. Bei uns spielt er, weil er ein Fan unserer Musik ist, und weil wir ihm Raum für allerlei andere Aktivitäten lassen.“

Vergnügungen lassen den bekanntlich sexuell geringfügig anders disponierten Frontmann Michael Stipe kalt; er gibt sich überhaupt weit weniger leutselig als die Kollegen – wird doch seine edle Künstlerseele von der Journaille notorisch ignoriert. Schnöde fragt man den Asketen mit der Denker-Hornbrille nach den Banalitäten des Rockstar-Daseins. Auch der Mann vom Musikexpress kennt keine Gnade: Hast Du, nachdem die letzten R.E.M.-Alben ja verkaufsmäßig nicht eben den hohen Erwartungen entsprachen, noch den Ehrgeiz, eine Hit-Single zu schreiben? „Ich denke nicht in solchen Kategorien.“ Punkt. Spröde kommt das. Fast frostig. Und zwischen den Zeilen ist die Warnung deutlich zu vernehmen: Frag mich nicht solch einen Scheiß. Der Frager indes zeigt sich uneinsichtig: Könntest Du nach all den Jahren noch auf deinen Status als Rockstar verzichten? Fast tonlos zischt der Künstler: „Ich finde es langweilig, über diese Dinge zu reden.“ Nun, den Leser könnte es interessieren, beharrt der Interviewer. Und nimmt dabei in Kauf, daß das Interview hier endet. Überraschend wiegelt Stipe ab, gar eine Spur versöhnlicher im Ton: „Ich sag das ja nur. Solche Dinge finde ich eben langweilig, viel lieber würde ich über Kunst und Kreativität reden.“

Klar, tun wir jetzt auch. R.E.M. haben für „Man On The Moon“ nicht nur den Titelsong zur Verfügung gestellt, mit dem kompletten Filmscore haben sich die Männer aus Athens, Georgia, offenbar auch einen lange gehegten Wunsch erfüllt. Stipe schwärmt: „Diese Sache hier wollten wir alle drei unbedingt machen. Milos Forman ist brillant. Und es ist eine große Ehre für mich, mit ihm zu arbeiten, zumal es sich bei diesem Film um die Geschichte von Andy Kaufman handelt, der einer meiner wichtigsten Einflüsse während meiner Teenager-Iahre war.“ Kollege Mills pflichtet bei: „Alles passte zusammen: Milos Forman bewundern wir sehr, das Thema ist toll, und wir wollten schon lange mal einen Soundtrack schreiben.“ Für Stipe war Andy Kaufman „mehr als nur ein Comedy-Künstler. Er war subversiv. Er kombinierte die Naivität und Neugier eines Kindes mit der Weisheit eines Erwachsenen.“

Milos Forman hat das Leben des 1984 mit erst 35 Jahren verstorbenen TV-Stars nun zum opulenten Kinoereignis verarbeitet. Ein Fest für den als Film-Freak bekannten Stipe, für den Forman eh der Größte ist. Mit leuchtenden Augen berichtet der Sänger: „Milos hat einige meiner Lieblingsfilme gedreht.“ Augenscheinlich liegt dem introvertierten Poeten dieses Thema – beim Stichwort „Amadeus“, dem Oskar-dekorierten Mozart-Film des Meisters, wird der hagere Glatzenmann gar richtig lebhaft. Er doziert: „Wahnsinn, diese Szene, in der dieser Rivale von Mozart wie hieß er doch gleich?“ Salieri. „Genau, als Salieri die natürliche Brillanz und Begabung Mozarts erkennt und feststellen muss, dass sein eigenes Werk, verglichen mit dem von Mozart, nichts wert ist, obwohl er doch sein Leben lang so hart daran gearbeitet hat. Für mich ist dies eine der zehn besten Filmszenen aller Zeiten, sowohl in der Inszenierung als auch von der schauspielerischen Qualität.“ Die Filmmusik war auch nicht ganz schlecht, möchte man anfügen.

Wo wir gerade von Musik sprechen – auf seine derzeitigen musikalischen Vorlieben angesprochen, gibt Stipe tlberraschendes zu Protokoll: „Ich höre gerne Bentley Rhythm Ace, Daft Punk, Björk, Patti Smith, Charles Mingns. Lind die Backstreet Boys.“ Äh, was? „Backstreet Boys.“ Du machst Witze. „Nein, wirklich, diese neue Nummer von denen ist ein toller Song.“ Für Interessierte: Jenes Wunderwerk der Songwriter-Kunst heißt „Show Me The Meaning Of Being Lonely“ und ist die neue BSB-Single.

Peter Bück, ein großgewachsener Southern Gentleman mit sonorem Südstaaten-Akzent und schwerer Lederjacke über dem blauen Hemd, hat sich derweil in einer dunklen Ecke des Cafes verschanzt. Durch die schwarzen Gläser seiner Sonnenbrille ist nicht auszumachen, in welcher Stimmung sich der Mann mit der zeitlos unmodischen Zottel-Frisur befindet. Seine Antworten kommen zunächst knapp und geschäftsmäßig. Erst nach und nach taut der Hüne auf, zumal wenn von den Feinheiten des Musikanten-Handwerks die Rede ist. Etwa in Sachen Filmmusik: „Eine tolle Herausforderung, das war wie Lirlaub vom Songschreiben, wo du ja immer einer bestimmten Logik folgst. Strophe, Refrain, Bridge und so weiter.“ Was war bei der Filmmusik so anders? Bück ist augenblicklich in seinem Element: „R.E.M.-Songs schreibe ich für mich selbst, sie müssen der Band und vielleicht dem Produzenten gefallen. Bei Filmmusik ist das ganz anders: Du musst zunächst mal die Vorstellungen des Regisseurs umsetzen. Dann sind da noch Schauspieler, Assistenten und was weiß ich wer noch.“ Zusätzlich zu den vielen Leuten, die in ein solches Filmprojekt involviert sind, gibt es einen weiteren Unterschied: Die rein handwerkliche Seite. Bück: „Das ist wie Mathematik. Du musst dauernd zählen, wieviele Beats du noch hast. Hey, genau 47 und ein halber Takt, und innerhalb dieser Spanne gibt es drei Szenenwechsel – also 17 Takte hier, 20 Takte da und so weiter.“

Vollblutmusiker. Und im Grunde ist der passionierte Plattensammler bis heute Fan geblieben. Für den 43-Jährigen wäre es undenkbar, seine Musik auf chartskompatibles Format zu trimmen. Lieber nimmt er den mäßigen Erfolg des experimentellen „LIp“-Albums von 1998 hin, als dass er auf den Komfort verzichten mag, das künstlerisch vertretbare Risiko zu suchen und neue Wege zu beschreiten. LInüberhörbar schwingt eine Menge Stolz mit, wenn er verkündet: „Wichtig war mir, dass ‚Up‘ ein perfektes Album wird. Nur das zählt unterm Strich.“ Plattenfirmen sehen das naturgemäß etwas anders, Mr. Bück. Er nickt: „Klar, aber die sind ja auch so eine Art Aktionäre. Du kannst nun mal nicht zu einem Aktionär gehen und sagen: Wir geben dieses Jahr keine Dividende, denn wir haben das beste Album aller Zeiten gemacht, das aber leider keiner gekauft hat. Mein Job ist es, tolle Musik zu machen. Die Plattenfirmen sollen versuchen, sie zu verkaufen. Wenn sie das nicht schaffen, kann ich nichts dran ändern.“

Wie seine Kollegen ist Bück ein Mann von festen Prinzipien, auch in Sachen Sponsoring. Wellen schlug vor einigen Jahren R.E.M.’s kategorisches Nein zum Angebot von Microsoft, die Millionen zahlen wollten, um einen R.E.M.-Song für die Markteinführung ihres Windows-Programms zu benutzen. Bück erinnert sich: „Sie waren der festen Überzeugung, dass jeder seinen Preis hat. Den sollten wir nennen, und sie wollten ihn zahlen. Sie konnten es dann einfach nicht fassen, dass wir unsere Musik nicht verkaufen wollten.“ Eine Entscheidung, die R.E.M.’s Ansehen beim Rockvolk nicht geschadet hat – kaum eine Band steht heute, im Zeitalter der globalen Marketing- und Sponsoring-Deals, so sehr für künstlerische Integrität. Die aufrechten Drei aus Athens scheinen nicht korrumpierbar – und darauf legen sie größten Wert. Stipe: „Du erlaubst ihnen, mit deiner Musik Jeans, Toilettenpapier oder Orangensaft zu verkaufen nein. Mag sein, dass das eine veraltete Denkweise ist, aber wir können uns erlauben, nicht jeden Mist mitzumachen.“ Mills fügt an: „Ich möchte nicht, dass die Leute einen R.E.M.-Song hören und dabei an Rasiercreme oder so etwas denken. Das entwertet die Musik.“ Bück kommentiert drastisch: „Wer seine Musik verkauft, kommt mir vor wie eine Hure. Wir haben solche Deals schon immer abgelehnt, auch als wir noch nicht so viel Geld hatten. Ich möchte meinen Kindern zeigen, dass einige Dinge auf dieser Welt nicht zum Verkauf stehen.“ Klare Worte, die ganz und gar nicht wie Floskeln rüberkommen.

Während sich in Seattle anläßlich der Konferenz der Welthandelsorganisaüon eine neue Protestgeneraüon gegen den globalen Imperativ des Mammons formiert, tun R.E.M. ungerührt das, was sie schon immer getan haben: Big Music fürs Big Business produzieren. Gleichzeitig aber beziehen sie Stellung, auch politisch, und präsentieren sich als untadelige Gutmenschen. Dass sie sich dabei medienwirksam und je nach Bedarf mal als hehre Künstler, mal als mutige Moralisten zu inszenieren wissen, sei gestattet. Das gehört lange schon zum Spiel. ¿