Die Zone lebt


Die Hühnerbrust nur notdürftig verhüllt von einem eher symbolischen Fetzchen T-Shirt, tobt Robert Beckmann über die Bühne. „After all these bad times/we’re going to the Future“, gröhlt er mit Grabesstimme — einen Moment später sägt der zerfetzte Geigenbogen über die zerschrammte Fiedel, daß es nur so kracht. Die Menge im Saal der restlos ausverkauften „Schorre“ in Halle rast. Die Luft dampft, der Schweiß tropft.

So ist es jeden Abend. Während hochgehandelte junge Westbands wie Nationalgalerie oder Rausch vor dreiviertelleeren Sälen spielen, sind Klubs wie der Dresdner „Starklub“ oder die „Easyschorre“ in Halle ausverkauft, wenn die Band mit dem zungenbrecherischen Namen The Inchtabokatables antritt. Sänger Robert Beckmann ist in Gera, Dessau und Dresden ein Star, dem die Mädchen hinter der Bühne auflauern. Seine von den Fans liebevoll „Inchies“ genannte FoLkpunk-Truppe hat seit 1991 zwei Platten bei einem kleinen norddeutschen Label herausgebracht und immerhin rund 50.000 Exemplare davon verkauft.

Daß die Inchtabokatables aus dem Osten sind, ist allerdings gar nicht wichtig. Das Publikum der Band ist nicht das diverser „Ostivals“, auf denen DDR-Altrocker wie Karat oder Lift noch einmal ein schwiemeliges „Ach-damals-war-es-doch-auch-nicht-sooo-schlecht“-Gefühl beschwören. City-Gitarrist Fritz Puppel, mit Sänger Toni Krahl Inhaber des Plattenlabels K&P Music, ist sich sicher: „Es reicht nicht, über irgendeine Band ,Ostrock‘ drüberzuschreiben und schon ist sie erfolgreich.“ Vom vielbeschworenen „Ostrock-Revival“ mag er nichts hören: „Mit Jammerveranstaltungen nach dem Motto ,Wir wollen die DDR wiederhaben‘ lockst du keinen hinterm Ofen hervor — was die Leute interessiert, ist die Musik.“

Die Inchtabokatables, in den neuen Ländern derzeit als die Entdeckung gehandelt, sind das beste Beispiel. Erst nach der 89er-Wende gegründet, singen sie nicht von damals und nur gelegentlich auf deutsch, ihre Musik hat nichts mit der alten DDRock-Schule zu tun. Die Inchies sind Ost, natürlich. „Aber“, ist sich Puppel sicher, „wenn ich’s nicht wüßte, ich würd’s nicht hören.“ Auch wenn die legendären Puhdys anläßlich ihres 25jährigen Bandjubiläums wieder auf Tour sind und begeistert gefeiert werden: Bestimmend für die Szene im Osten sind derzeit die jungen Bands, die „gar nicht DDR-Nostalgie sein können, weil es sie zu DDR-Zeiten noch gar nicht gar“, wie Toni Krahl erklärt. Die Berliner Skeptiker spielen den harten, geraden Punk der Dead Kennedys, Subway To Sally experimentieren wie die Inchies mit einer Art Mittelalter-Punk, Sandow dröhnen wie eine jugendliche Ausgabe der Einstürzenden Neubauten. Die Zöllner pflegen eine Art Großstadt-Soul, Herbst in Peking vermischen Anarcho-Posen und Neil-Young-Zitate und die Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot beantwortet Jimi Hendrix‚ zerfetzte Version der US-Hymne mit einer ebenso grandios gemeuchelten Sowjet-Hymne.

Die meisten der neuen Bands, die sich mit Vorliebe düstere Endzeit-Namen wie Love Is Colder Than Dead, Happy Cadavres oder Need A New Drug gegeben haben, verzichten wie die Erfurter Newcomer Anger 77 ganz auf die früher so beliebten belehrenden Textfloskeln. Stattdessen heißt es bei den Schweriner Heavy-Hip-Hoppern Das Auge Gottes lapidar: „Und morgen/ist vergessen/und vorbei, was mal war/und morgen/hält kein Traum/was er verspricht“. Keimzeit, mit mehr als 100.000 verkauften Platten die neuen Leitfiguren der Szene, nölen auf einen schlingernden Bluesbeat „Zwei plus zwei ist zweiundzwanzig/Wenn Du es glaubst/dann gib mir Bescheid“, und das Berliner Noise-& Painting-Duo Herr Blum lallt lautmalerisch „Die Frage/ist die Antwort/ist die Frage/ist“.

Wenn man singen kann, was man will, sind Texte nicht mehr die Frage. „Es geht nur um Musik“, versichert Bobolina, alias Christiane Hebold, Sängerin bei Bobo In White Wooden Houses. Sie fühle sich einfach nicht berufen, ihrem Publikum die Welt zu erklären, meint die 24jährige Pfarrerstochter, die in Gera Musik studierte, ehe sie über Nacht zum charmanten Lieblingskind der westdeutschen Pop-Presse und damit zum Nachwuchsstar avancierte.

Ohne solche Hilfe aus dem Westen geht es scheinbar nicht. Der Erfolg der Leipziger Prinzen ist nicht vorstellbar ohne die Schützenhilfe der Ex-Ideal-Sängerin Anette Humpe; Bands wie Bobo, die Inchies oder die Happy Cadavres wären ohne Plattenverträge mit alt-bundesdeutschen Firmen wahrscheinlich bis heute nicht aus dem Probekeller gekommen. Die Gefahr dabei: westliche „Entwicklungshilfe“ entwickelt nicht selten einen faden Nachgeschmack, Ost-Musiker können bisweilen mehr als ein Lied vom arroganten Besser-Wessi singen. Die existierenden Ost-Plattenfirmen kann man nach dem Exitus der ehemaligen Staatsfirma Amiga/Deutsche Schallplatten an zwei Fingern abzählen — neben K&P Music existiert als einziges reines Ost-Unternehmen der „Buschfunk“ des Berliner Verlegers Klaus Koch. Der hat mit seinen bislang zwei Dutzend Plattenproduktionen zwar „bis heute leider keinen Pfennig verdient, weil wir alles gleich wieder in die Firma stecken müssen“, bietet wichtigen Ost-Künstlern wie dem „Dylan der Tagebaue“ Gerhard Gundermann oder dem Liedermacher Gerhard Schöne die einzige Alternative zum Gang in den Westen, wo sich mancher Ostkünstler einfach nicht verstanden fühlt. „Die haben uns überall reingeredet“, schildert Subway To Sally-Chef Simon seine Erfahrungen, „und wenn wir uns nicht dran gehalten haben, haben sie’s hinter unserem Rücken so gemacht, wie sie wollten.“

Eine trotz aller Widerstände „unglaublich lebendige Szene“ macht Fritz Puppel zwischen Rostock und Suhl aus. Alles ist möglich: Punk, Gitarrenrock, Pop und Hardcore. Doch es fehlt an der Infrastruktur, die Kreativität umzusetzen. „Wir haben Demoband auf Demoband eingespielt“, erzählt Anger 77-Manager Colt, „aber wo sollen wir sie hinschicken?“.

Es ist im Osten im Moment schwieriger als anderswo, sich durchzusetzen. Nicht nur bei Toni Krahl, der während eines einzigen Konzerts schonmal drei Dutzend Demos zugesteckt bekommt, sondern auch bei den Veranstaltern stapeln sich die Tapes. „Aber“, beschreibt Schorre-Chef Dirk Götze seinen Zwiespalt, „wenn die Band keine Platte draußen hat, kommt auch keiner zum Konzert.“ Das Publikum hat wenig Geld — „die Leute schauen sehr genau hin, wen sie sich anhören“, meint Götze. Ohne Plattenfirmen keine Platten, ohne Platten keine Konzerttermine, ohne i Konzerte keine Platten. „Du mußt schon ganz schön überzeugt von dir selber sein, um trotzdem noch weiterzumachen“, winkt Anger-Sänger „Sigi“ Siegmund ab.

Die es schaffen, aus dem Teufelskreis auszubrechen, haben nur zu sagen, daß sie nichts zu sagen haben. „Wir wollen eher so ein Gefühl transportieren mit der Musik“, sagt Rajko Lienert, der die Gitarren bei der Erfurter Band Green Hill bedient. „Sollen die Leute sich doch dann selber was dabei denken“, empfiehlt er. „Muß man denn immer gleich hören, woher eine Band kommt?“, fragt sich Lienert. Bands wie TAM, Green Hill oder die Noise-Rocker Syksy haben wirklich nichts, was irgendeine Art Ost-Patriotismus speisen könnte. Musikalisch eher an auswärtigen Klassikern als an einheimisehen Denkmälern orientiert, die Texte in interpretationsfreundlichem Englisch gehalten und kein alter Hit im Repertoire, den „wir damals in den Stasikellern, Hände auf den Rücken gefesselt und so, immer nicht singen durften“ (Inchtabokatables).

Langsam, ganz langsam rockt so zusammen, was zusammengehört. „Bobo verkauft etwa halbe-halbe in Ost und West“, weiß die Plattenfirma der Pop-Fee aus Halle. Und auch die Inchtabokatables können nicht klagen. „Wir waren bisher nur für ein paar Auftritte im Westen“, meint Bandmanager Falco Richter, „aber Platten verkaufen wir – zu einem Drittel drüben.“