Der große Bierdosenhagel


Als Frank, der spätere "Herr Lehmann", 1980 nach Berlin kommt, bricht der Wahnsinn über ihn herein. So landet er in "Der kleine Bruder", dem neuen Roman von Sven Regener, auch gleich auf einem grotesken Punkkonzert - und findet ausgerechnet dort seine Erfüllung...

Im Jahr 2001 veröffentlicht Sven Regener, Sänger der Band Element Of Crime, seinen Roman „Herr Lehmann“: Frank Lehmann, „Herr Lehmann“ genannt, lebt auf seiner Kreuzberger Insel mit seinem Kneipierjob, neurotischen Freunden und einer frischen Liebe. Und am Ende fällt urplötzlich die Mauer. Das Debüt verkauft sich über eine Million mal;2OO3 verfilmt Leander Hausmann „Herr Lehmann“. 2.004 erscheint der Nachfolger „Neue Vahr Süd“. Regener erzählt darin die Vorgeschichte von Franks letzten Bremer Tagen zwischen Elternhaus, WG und Bundeswehr. Mit dem Mittelteil „Der kleine Bruder“ (Eichborn; VÖ: 1. 9.) schließt er jetzt die Trilogie ab und begleitet Frank durch seine ersten Tage in Berlin. Der ME geht mit Frank im folgenden Vorabdruck aus dem Roman auf ein groteskes Punkkonzert. Das Kapitel heißt:

6. SCHOCK

Der Weg zur Zone war nicht weit, nur die Straße, an der der Grieche lag, hinunter und unter der Hochbahn durch, dann waren sie auch schon bei der Zone. Karl lief so schnell voran, dass Frank und Chrissie Probleme hatten, mitzukommen. „Renn doch nicht so, du Arsch“, rief Chrissie mehrmals, aber Karl lachte immer nur und rief, ohne sich umzudrehen: „Trödel doch nicht so, du kleine Nichte“ in den Nachthimmel. Frank wunderte sich ein bisschen, dass Chrissie so hartnäckig versuchte, an Karl dranzubleiben, sie könnte doch auch alleine gehen, wenn sie ihn für einen Arsch hält, dachte er, oder mit mir, dachte er, obwohl, eigentlich kennen wir uns ja überhaupt nicht, dachte er, da wäre es komisch, wenn sie mit mir ginge, ohne dass Karl dabei wäre, obwohl, irgendwie scheint das auch egal zu sein, dachte er, hier kennt ja offensichtlich sowieso keiner keinen, dachte er, sie wissen ja nicht einmal, wo Freddie ist, obwohl sie alle seine Freunde sein wollen oder was, und vielleicht, dachte er, will sie ja wirklich eigentlich mit mir gehen und muss sich dann bloß deshalb so beeilen und Karl beschimpfen, weil ich an Karl dranbleiben will, was dann irgendwie ziemlich ungerecht wäre, dachte er, und dann rief Chrissie wieder „Renn doch nicht so, du Arsch“, und Karl lachte wieder und rief „Trödel doch nicht so, du kleine Nichte“ in das Eisengeflecht der Hochbahnbrücke, und irgendwie, dachte Frank, ist dann ja auch mal alles scheißegal, und dann kamen sie auch schon vor der Zone an, aber Karl kümmerte sich nicht darum, er marschierte an dem Hofeingang, über dem groß das Wort „Zone“ auf ein Bettlaken gesprüht war, und in dem sich ein Haufen Leute drängelte, vorbei. „Ich denk, wir gehen in die Zone“, schrie Chrissie, die vor dem Eingang stehen geblieben war, hinter ihnen her, „Karl, du Arsch, ich denke, wir gehen in die Zone!“ „Bin gleich wieder da, kleine Nichte!“ rief Karl. „Das ist das Problem mit den Verwandten von Erwin“, sagte er zu Frank, der jetzt zu ihm aufgeschlossen war. „Die sind genau wie Erwin. Auf diese Weise hat man nie Feierabend irgendwie!“ Er betrat einen Döner-Imbiss und begrüßte den Besitzer mit Handschlag. „Gib mal erst mal eine Palette“, sagte er zu ihm. Der Imbissmann nickte und reichte ihm eine Palette Dosenbier über den Tresen. Karl gab ihm Geld, und sie gingen wieder auf die Straße. „Was willst du denn damit?“ fragte Frank. „Ist für Klaus“, sagte Karl. „Erklär ich dir später. Wo ist denn Chrissie jetzt schon wieder?“

Sie fanden sie nach kurzem Suchen in der Menge vor dem Eingang der Zone. „Ist ausverkauft“, sagte Chrissie. „War doch klar“, sagte Karl. Er ging voran und drängelte sich durch die Leute bis zum Einlass, wo er die Türsteher mit „Hallo Jungs!“ und „Nachschub für Klaus!“ begrüßte, woraufhin sie ihn durchließen und, nachdem er „Die wollen auch zu Klaus, haha!“ hinzugefügt hatte, auch Frank und Chrissie. „Verdammtes Hippiepack“, sagte Karl, als sie durch waren und unter seiner Führung einen Innenhof durchquerten. „Die wollen und wollen das einfach nicht kapieren!“ „Was jetzt? Welches Hippiepack? Die Leute vom Einlass?“ „Nein, die anderen, die da herumstehen und reinwollen. Was sind das für Leute? Was stehen die da rum? Worauf warten die? Sind die blöd?“ Er steuerte auf eine Tür zu, hinter der, das konnte man auch hier draußen gut hören, ordentlich laut Musik gemacht wurde. Karl öffnete sie, und sie standen vor einer Wand aus Menschen, die ihnen den Rücken zukehrte und auf Zehenspitzen stand. „Und ob das ausverkauft ist!“ brüllte Karl gegen die Musik an. „Wir müssen erstmal zu Klaus!“ Sie warfen sich in den Saal, und Chrissie verschwand gleich irgendwo im Gewühl. Frank blieb bei Karl, und der zeigte nach vorn und rief: „Schau mal, da spielen ja schon Dr. Votz!“ Frank schaute auf die Bühne. Da arbeiteten sich fünf oder sechs Musiker an der Musik ab, genau war das nicht zu erkennen, es ging da ziemlich drunter und drüber, vielleicht waren es auch nicht alles Musiker, einige spielten Instrumente, aber dawar auch einer, der nur rechts am Bühnenrand stand und mit beiden Armen in die Menge hineindirigierte, die ihn mit Bierdosen bewarf, während neben ihm der Sänger mit heruntergelassener Hose in sein Mikrofon brüllte. „Welcher ist P. Immel?“ fragte Frank. „Der Sänger“, schrie Karl. „Gleich zeigt er seinen Genitalschmuck! „Seinen was?“ schrie Frank. „Seinen Pimmel-Ohrring. Er hat einen Ohrring im Pimmel, den zeigt er gleich, das macht er immer irgendwann!“ schrie Karl. In diesem Moment taumelte der Bassist von hinten gegen den Sänger, der dadurch fast von der Bühne fiel. Der Sänger drehte sich um und schlug den Bassisten mit der Faust ins Gesicht, der taumelte ein paar Schritte zurück und spielte dabei immer weiter auf seinem Bass herum. Der Mann am Bühnenrand dirigierte dazu im Bierdosenhagel die Menge oder ein unsichtbares Orchester oder was auch immer, und nur ab und zu traf ihn eine leere Dose oder ein Plastikfeuerzeug.

Karls Weg endete an einem Tisch, hinter dem ein kleiner, dünner Typ stand und Dosenbier verkaufte, und als Karl mit seiner Palette dazukam, rief der kleine, dünne Typ „Endlich!“, obwohl hinter ihm noch viele Paletten Dosenbier derselben Sorte aufgestapelt waren. Dann gab er Karl Geld und Karl schrie ihm irgendwas ins Ohr, und Frank schaute lieber wieder zur Bühne, wo sich das Programm nicht groß geändert hatte, die Band spielte ihre brüllend laute Musik, und der Typ am Bühnenrand dirigierte ins Leere und die Menge bewarf das alles mit leeren Bierdosen. „Das ist Freddies Bruder“, brüllte Karl und klopfte Frank dabei auf die Schulter, „Frank, sag mal Hallo zu Klaus“, und Frank drehte sich um und sagte „Hallo“ und schaute dann wieder zur Bühne, er konnte nicht anders, er musste da immer wieder hingucken, es sah so grotesk aus, was da lief, und jetzt eskalierten die Dinge auch ein wenig, es flogen nun andere Dinge als nur leere Bierdosen, ein Schuh zum Beispiel, und langsam begann der Dirigent auf der Bühne auch richtig sauer zu werden, er hörte auf zu dirigieren und kickte wie wild die vielen auf der Bühne herumliegenden Bierdosen zurück ins Publikum, und dann nahm er den Mikrofonständer des Sängers und warf ihn hinterher, und der Sänger hörte daraufhin auf zu singen und schrie den Dirigenten an, woraufhin der von der Bühne sprang, den Mikrofonständer zwischen den Leuten aufsammelte, wieder hochwarf und dann zurück auf die Bühne stieg, was Frank sehr rätselhaft fand, warum hauen sie ihn nicht um, wenn sie ihn so hassen, fragte er sich, warum lassen sie ihn in Ruhe, wenn er unten ist, aber bewerfen ihn, wenn er oben steht, das ist doch widersinnig, dachte er, und er spielte mit dem Gedanken, ganz nach vorne zu gehen, um sich das mal alles etwas genauer anzusehen, als plötzlich Chrissie neben ihm stand. „Das ist H.R.“, schrie sie in sein Ohr. „Das ist H.R.“, wiederholte sie, „das Arschloch da auf der Bühne.“ „Welches Arschloch?“

„Der da rumhampelt!“ Chrissie drehte sich zu Karl und Klaus um. „Ich will mal ein Bier!“ schrie sie. „Zwei Mark“, brüllte Klaus.

„Du spinnst wohl!“ schrie Chrissie zurück. „Gib mir ein Bier oder ich erzähl alles Erwin!“

Klaus zuckte mit den Schultern und warf ihr eine Bierdose zu. Chrissie öffnete die Dose, nahm einen Schluck und schrie dann in Franks Ohr: „Der andere, der da singt, das ist P. Immel!“ „Ich weiß!“

Die Musik brach ab, nur der sturzbetrunkene Bassist hämmerte weiter auf seinem Instrument herum und torkelte dabei wieder nach vorne an den Bühnenrand. P. Immel gab ihm von hinten einen Tritt, und er fiel ins Publikum und verschwand. Der Dirigent versuchte, die Situation auszunutzen und dem Sänger den Mikrofonständer wieder wegzunehmen, aber der wollte ihn nicht hergeben, und so rangen die beiden unter dem Gejohle des Publikums, aber ohne Musikbegleitung miteinander herum, wobei P. Immel durch seine heruntergelassene Hose eindeutig im Nachteil war. Der Rest der Band mischte sich nicht ein.

Anders Chrissie: Sie nahm einen Schluck aus ihrer Bierdose, stieß ein Geheul aus und warf sie dann mit einer ungeahnten Wucht auf die Bühne, wo sie dem Dirigenten auf die Brust klatschte und dabei weißen Schaum verspritzte. Der Sänger lachte. Der Dirigent ließ von ihm ab, hob die Bierdose auf und schleuderte sie zurück ins Publikum, genau in Franks und Chrissies Richtung. Das Geschoss kam in hohem Bogen herangesegelt, so hoch, dass Frank sicher war, dass es über ihn hinweggehen würde, aber er duckte sich vorsichtshalber dennoch, im Feld darf man kein Risiko eingehen, erinnerte er sich der Worte eines Fahnenjunkers aus seinem früheren Leben, und tatsächlich, die Büchse senkte sich über ihm ziemlich schnell ab, und im Umdrehen konnte Frank gerade noch sehen, wie sie Klaus, der gerade ein Bier verkaufte, kurz über dem Auge an der Stirn traf, und zwar mit solcher Wucht, dass sich sofort eine Platzwunde auftat und ihm Blut über das Gesicht schoss, bevor er auch nur die Hand davortun oder gar schreien konnte. Aber schreien tat er dann doch, und zwar ordentlich. Frank lief schnell zu ihm hin, ebenso Karl, während die Leute, die sich eben noch vor seinem Verkaufstisch gedrängelt hatten, weiträumig zurückwichen, wie um dafür zu sorgen, dass alle etwas sehen konnten. Als Frank bei Klaus ankam, war Karl schon bei ihm und stützte ihn, denn Klaus war weiß wie die Wand, jedenfalls an den Teilen seines Gesichts, die nicht mit Blut bedeckt waren, und er taumelte hin und her. Die Band begann in diesem Moment wieder zu spielen.

„Schock“, rief Frank, sich seiner Hilfssanitäterausbildung erinnernd, „Schock!“

„Ja und?“ rief Karl. „Was denn sonst!“

„Flachlagern, schocklagern, ansprechen, was zu trinken geben, nicht rauchen“, begann Frank die 20 Schockregeln aufzuzählen, bin wohl selber nicht ganz bei mir, dachte er zugleich, aber Karl hörte sowieso nicht zu, sondern nahm Klaus hoch und legte ihn sich über die Schultern.

„Der muss hier raus!“ schrie er.

„Ich helf dir!“

„Nein“, schrie Karl. „Hilf nicht mir, hilf ihm!“

„Wie das denn jetzt?“

„Ich bring Klaus weg. Aber du musst den Stand hier weitermachen, sonst klauen die Hippies das hier alles weg.“

„Aber…“

„Den Stand weitermachen. Zwei Mark die Dose!“

„Aber…“

„Zwei Mark die Dose!“ wiederholte Karl und ging mit dem über seiner Schulter liegenden und dabei mit den Beinen strampelnden Klaus einfach weg. „Zwei Mark! Und pass auf, dass die Ärsche dich nicht beklauen.“ Und dann war er verschwunden, und Frank war an seinem neuen Arbeitsplatz allein.

Die Sache war nicht ganz so einfach, wie er zunächst dachte. Eine Dose Bier für zwei Mark, das kann nicht schwer sein, das kann jeder Depp, dachte Frank zunächst, aber noch bevor er das richtig zu Ende gedacht hatte, drängelten sich ganz schnell ganz viele Leute vor seinem Tisch und wollten Bier, gerade hatten sie noch etwas Abstand gehalten und Frank und Karl und Klaus und sein blutiges Drama begafft, doch kaum hatte sich die Menge hinter dem klausschleppenden Karl wieder geschlossen, brandete sie, so schien es Frank jedenfalls in seiner überreizten Wahrnehmung, auch schon bierverlangend gegen seinen Tisch an, und Wechselgeld, fiel ihm in dem Moment ein, in dem die ersten Leute ihm Zehnmarkscheine entgegenhielten, hatte er auch nicht, und an der angebrochenen Palette auf dem Tisch begannen die ersten Leute herumzuzerren, man versuchte, ganz wie Karl es vorhergesehen hatte, ihn bzw. Klaus oder wen auch immer zu beklauen, also ging Frank erst einmal daran, sich Respekt zu verschaffen, das geht nicht ohne Gewalt, dachte er und haute mit einer Bierdose einem Kerl, der an der Plastikhülle seiner Dosenbierpalette herumzupfte, ordentlich was auf die Finger. „Zwei Mark“, rief er dann und kassierte in schneller Folge mit der rechten Hand mehrere ihm entgegengestreckte Münzen ab und steckte Bierdosen, die er mit der linken Hand aus der Palette zog, in die dazugehörigen Hände.

Bald war die Palette auf dem Tisch alle, aber hinter ihm an der Wand waren ja noch viel mehr solcher Paletten, von denen er aber erst einmal nur eine an den Tisch holte, sich gleich mehrere auf einmal hinzustellen war ihm zu heikel, denn das war ihm schon klargeworden, dass man wegen der Klauer immer eine Hand auf der Palette haben musste. Der Verteidiger des Privateigentums, dachte er, während er die Plastikfolie über den Bierdosen der neuen Palette an einer Seite aufriss, wandelt hier auf einem dünnen Eis, dachte er, und jetzt denke ich schon so, wie Martin Klapp sonst immer redet, dachte er außerdem und war allerdings, wie er erfreut feststellte, jetzt auch schon locker in der Lage, den Leuten auf ihre Scheine herauszugeben, er hatte schon die ganze rechte Hand voller Münzen und steckte davon erst einmal einen Teil in die Hosentasche, nahm mit links Scheine entgegen, zählte mit rechts Münzen in Handteller und wurde dabei nervös, weil er jetzt keine Hand mehr auf der Palette hatte, irgendwie war die Sache unübersichtlich, ihm war zuvor, als Klaus noch hier gestanden hatte, nicht aufgefallen, dass so viel zu tun gewesen war, Klaus hatte ja noch Zeit gehabt, mit Karl zu quatschen und höchstens mal sporadisch eine Dose verkauft, wahrscheinlich ist bei Dr. Votz die Luft raus, dachte er, denn die Band spielte zwar noch, aber die Leute schienen sich nur noch fürs Saufen zu interessieren, vielleicht hat P. Immel die Hosen wieder hochgezogen, dachte Frank, oder endlich seinen Perus- Ohrring gezeigt oder was auch immer, dachte er und verkaufte und verkaufte, bis es ihm zu blöd wurde, sich ständig nach Nachschub umzudrehen, und er alle noch verbliebenen Bierdosenpaletten so neben sich auf dem Boden aufstapelte, dass er mit einem einzigen Handgriff eine neue Palette hochziehen und, die Hand im Plastiküberzug verkrallt, die Palette dabei so auf den Tisch schleudern konnte, dass sich dort, wo er sie festhielt, zugleich das Plastik öffnete, das macht die Sache eleganter und effektiver, fand er, und dann verkaufte und verkaufte er und dachte an gar nichts mehr, und tiefer Friede kam über ihn, er verkaufte wie in Trance und kam erst wieder zu sich, als längst eine andere Band als Dr. Votz spielte und es dadurch etwas ruhiger wurde und außerdem Chrissie auftauchte und ihn fragte, was er dort eigentlich mache und wo Klaus sei, und er ihr sagte, sie solle nicht die Ahnungslose spielen, sondern lieber fünfzig Mark nehmen und neues Bier vom Döner- Imbiss holen.

Da fiel ihm überhaupt erst auf, wie viel Spaß ihm das machte, dass er noch nie so viel Spaß und Befriedigung bei einer Arbeit empfunden hatte wie hier, bei dieser vollkommen hirnlosen, idiotischen Bierdosenverklappung, wie er es in Gedanken nannte. Und auch als das Bier dann ganz alle und Chrissie noch nicht wieder zurück vom Döner-Imbiss war, und er also keine andere Wahl hatte, als herumzustehen und ein bisschen nachzudenken, konnte er sich das alles nicht erklären, aber das war ihm dann auch egal, Spaß ist Spaß, dachte er, man muss nicht alles erklären können, manchmal, dachte er in der fünfminütigen Zwangspause zwischen dem Verkauf der vorletzten Bierdose und dem Wiedererscheinen Chrissies, muss man die Dinge auch mal nehmen, wie sie kommen, jedenfalls die positiven, fügte er in Gedanken hinzu, auch mal positiv denken, sonst kommt man irgendwann drauf wie Wolli, dachte er, das ist wie mit dem Kudamm, dachte er, vielleicht ist er schlecht, aber vielleicht auch nicht, rauschte es ihm sinnfrei durch den erfrischend leeren Kopf, während er hinter seinem Tisch stand und die letzte Bierdose, die er für sich selbst zurückgehalten hatte, leerte und dazu eine Zigarette rauchte und sich die Band auf der Bühne anguckte, wenn das überhaupt eine Band war, denn soweit er es erkennen konnte, waren das wohl nur zwei Leute, und er war sich nicht sicher, ob man bei zwei Leuten überhaupt von einer Band sprechen konnte, und diese zwei Leute waren hinter irgendwelchen Synthesizern verschanzt und ließen sie fiepen und brummen und sonstwas.

H.R., der Dirigent von Dr. Votz, der hier wohl eine Art Conferencier war, hatte sie eben gerade als „die wahre Weihnachtsmesse, weil die wahren Bettnässer“ angekündigt, und nun also ließen sie es brummen und fiepen, und immer mehr Leute gingen raus oder kamen bei Frank an den Tisch und schauten ihn ratlos an, aber er achtete nicht darauf, sie konnten ja sehen, dass kein Bier mehr da war, was sollte er da mit ihnen reden, und oben kam nun noch eine Frau auf die Bühne und begann auf eine komische Weise und ohne richtigen Text zu singen, oder vielleicht ist das auch bloß eine ganz seltsame Sprache, dachte Frank, ohne dass es ihn besonders interessierte, die Musik, die da gegeben wurde, war seine Sache nicht, und dann kam endlich auch Chrissie wieder und hatte zwei Paletten Bier dabei, und das war auch höchste Zeit, denn die Leute liefen ja in Scharen aus dem Saal, vielleicht wegen der Musik, vielleicht aber auch, weil es kein Bier gab, und Frank wollte auf keinen Fall schuld daran sein, dass die drei da oben auf der Bühne bald kein Publikum mehr hatten, an mir soll es nicht liegen, dachte er, das werden die selber verantworten müssen.

Chrissie knallte die Bierdosen auf den Tisch. „Der Arsch wollte mir keinen Rabatt geben“, brüllte sie in Franks Ohr. „Eine Mark pro Dose!“ „Warum sollte er dir denn Rabatt geben?“

„Weil wir Wiederverkäufer sind!

„Weil wir was sind?!“ Die Punks werden auch immer komischer, dachte Frank. Chrissie antwortete nicht, sondern schaute sich die Band an. Frank verkaufte die Bierdosen, und es dauerte keine zehn Minuten, bis auch sie alle verkauft waren bis auf zwei, die Frank für sich und Chrissie reserviert hatte. „Was ist das denn für ein Scheiß?“ brüllte Chrissie ihm ins Ohr, als er ihr die Dose reichte.

„Was?“

„Der Scheiß auf der Bühne da!“

„Das ist die Weihnachtsmesse. Oder die Bettnässer oder beides oder was weiß ich.“

„Woher weißt du denn sowas?“

„Das hat der Typ gesagt, H.R., der hat die angekündigt.“

„Ich kenn die Frau!“

„Ja. Aber wir haben kein Bier mehr, willst du nochmal los?“

„Ich kenn die Frau.“

Der Saal war jetzt fast ganz leer, und Frank entschied, dass es sich nicht mehr lohnen würde, noch mehr Bier zu besorgen. Das Synthesizergefiepe und -gebrumme ging ungerührt weiter, und auch die Frau sang noch aus vollem Halse, aber es hörte kaum noch einer zu. „Die heißt Edith!“ schrie Chrissie zu ihm rüber, aber Frank ging darauf nicht ein, er zählte die Pappunterlagen der von ihm verkauften Bierdosenpaletten, um herauszufinden, wie viele Bierdosen er insgesamt verkauft hatte.

„Ich kenn die!“

„Mal ehrlich“, sagte Frank, „wenn du findest, dass das Scheiß ist, was die machen, warum ist es dann wichtig, dass du die Frau kennst?“

„Ich kenn die“, wiederholte Chrissie nur, „ich weiß aber nicht mehr, woher.“

„Soso!“ sagte Frank.

„Soso!“ echote es hinter Frank. Es war Erwin. „Soso!“ wiederholte er. „Was ist denn hier los?!“

„Was soll schon los sein“, rief Chrissie.

„Ist hier schon Feierabend?“

„Nein, die spielen doch noch!“ rief Frank, aber genau in diesem Moment brach die Musik ab, und die drei auf der Bühne gingen weg.

„Und wo ist dann Klaus? Wo ist das Bier? Wo ist mein Geld?“

„Phantastisch!“ rief der Mann, der H.R. genannt wurde und jetzt auch dazukam. „Phantastisch. Wo ist Klaus! Wo ist das Bier! Wo ist mein Geld! Herrlich, Erwin!“

„Das wird man ja wohl noch fragen dürfen!“ rief Erwin aufgebracht.

„Wer ist das denn?“ sagte H.R. und zeigte auf Frank.

„Das ist Freddies Bruder!“

„Freddies Bruder?“

„Ja, Freddies Bruder.“

„Ah, ach so, ja stimmt, das sieht man ja auch, der sieht ja auch aus wie Freddie, phantastisch, das wird ja immer besser!“

„Das Bier ist verkauft und das Geld habe ich!“ sagte Frank zu Erwin. „Jedenfalls von dem Teil, den ich verkauft habe.“

„Stop!“ schrie H.R. „Kein Wort mehr. Alle ins Büro!“

„Wieso denn?“ sagte Erwin.

„Weil ich das aufnehmen will!“

„Weil du was aufnehmen willst?“

„Euer Gespräch! Das ist phantastisch!“

„Ich tret dir gleich in den Arsch!“ sagte Erwin.

„Phantastisch“, sagte H.R. „Ich liebe dich, Erwin.“

„Ich dich nicht!“ sagte Erwin. „Ich scheiß langsam mal auf diese Kunstkacke!“

„Super, das können wir doch alles im Büro besprechen“, sagte H.R. „Karl ist auch schon da!“

„Was hat Karl denn damit zu tun? Und wo ist überhaupt Klaus jetzt?“

„Das ist…“, wollte Frank erklären, aber H.R. unterbrach ihn.

„Nichts sagen“, sagte er zu Frank. „Nichts sagen. Es soll eine Überraschung sein!“

„Leck mich, H.R., dann gehen wir halt ins Büro“, lenkte Erwin schlecht gelaunt ein.

„Moment“, sagte Frank und hob die Palettenböden auf.

„Was willst du denn damit?“ fragte Erwin.

„Das ist meine Abrechnung“, sagte Frank.

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