Doherty, Dosenbier und Derida


War es Ende 1977 wirklich schon vorbei mit dem Punk? Und was ist dann mit all jenen sogenannten Punk-Bands, in den 30 Jahren seither? Was macht Punk als Geisteshaltung eigentlich aus?

Es war wie so oft die Schulzeit, in der man ganz besonders aufpassen musste: Als ahnungslosem Pop-und Metal-Fan wurden einem gern Dosenbier-Leichen wie Normahl („Haut die Bullen platt wie Stullen“) oder The Exploited als Punk-Bands angedreht. Dabei war in den Achtzigerjahren niemand so weit von Punk entfernt wie die in Rathausnähe vagabundierenden „Haste mal ne Mark“-Punks mit ihren Iros und ihren Hunden. Na gut, vielleicht noch Steely Dan, aber die machten da sowieso gerade Pause.

Der „richtige“, unwiderlegbare Punk aber ist niemals gestorben, schon gar nicht mit Eintritt des Jahres 1978, in dem sich in San Francisco die Dead Kennedys gründeten und Patti Smith auf „Rock N Roll Nigger“ Punk als Zuflucht und Befreiung in zwei kurzen Sätzen auf den Punkt brachte: „Outside ofs ociety they’re waitin‘ for me / Outside of society, that’s where I want to be.“ Die Londoner Slits, einer der im Punk leider extrem seltenen All-Girl-Acts, dessen vom Dub und Reggae beeinflusste Rhythmusarbeit teilweise so seltsam war, dass man sie meist achselzuckend dem Post-Punk zurechnete, machten etwas später gar keine Gefangenen mehr: „If you like peace and flowers / I’m going to carry knives and chains / I’m going to be your number one enemy.“

Und dann, als das Jahr 1979 in den allerletzten Zügen lag, trat LONDON CALLING von The Clash in die Erdatmosphäre ein: Mehr darauf pfeifen, was „die Leute“ wohl denken, konnte man nicht, wenn man als Punk-Band auch noch Reggae, Ska, Folk, Pop, Dub, Jazz, Rock und Soul auf ein Doppel-Album haute und die Pistols-Platte Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols noch einmal nachträglich als den Dumme-Jungen-Streich entlarvte, als der sie ja eigentlich auch geplant war. Und an genau diesem Punkt legen wir bereits einen Stopp ein: Wie langweilig nämlich wäre jetzt ein weiteres Mal die alte Leier mit Black Flag, Gang Of Four, Orange Juice, The Pop Group und all den anderen Bands, die auch nach dem großen Punk-Jahr 1977noch „irgendwie“ Punk spielten? Und wie sinnlos ein weiterer Versuch, Post Punk und New Wave voneinander abzugrenzen?

Selbst Punk ist keine widerspruchsfreie Zone: Wire waren mal Kunststudenten und trotzdem Punk, Minutemen-Bassist Mike Watt sah früher schon aus wie der Leiter eines Autohauses, doch DOUBLE NICKELS ON THE DIME (Über 40 Songs in 74 Minuten) war 1984 mehr Punk als fast alles zuvor. Oder einfach gesagt: Auf die Haltung kommt es an – der Rest (schlechte Zähne, Sicherheitsnadeln, die erste Ramones-Single) ist erstmal nicht so wichtig. Entschuldigung an diejenigen, die ihn doof finden, aber: Um Pete Doherty kommt man, wenn es um Punk als Haltung geht, nicht herum: So wie Kurt Cobain schon mit Anfang 20 alles über die vergangene Musik und auch alles über den Weg, den die Musik von Morgen nehmen würde, zu wissen glaubte, sagte auch das Babyshambles-Stück „Fuck Forever“ dem Hörer vor allem: Ich bin zwar total im Arsch, aber ich habe trotzdem Recht. Und natürlich war es auch Pete Doherty selbst, der den ersten Grundsatz des Punk sogleich ad absurdum führte: Seine nonkonforme und (vielleicht unfreiwillig) provokante Attitüde wurde auch von Teilen des Mainstreams als „cool“ wahrgenommen. Dohertys Schlachtruf „Fuck Forever“ wurde zum „No Future!“ der Sex Pistols – mit anderen Mitteln. Das erste und letzte Libertines-Konzert in Originalbesetzung, das ich jemals sah, hatte ein paar Jahre zuvor mehr mit Punk zu tun als alle Konzerte, denen ich jemals davor oder danach beiwohnen durfte: Pete Doherty und Carl Barat spielten genau 28 (!) Minuten (inklusive Zugaben), so mancher Song von up the bracket schien noch einmal doppelt so schnell wie auf Platte zu sein. Nach dem Konzert zeigte Doherty mir seine Messersammlung, fragte höflich nach Drogen und blieb schließlich allein zurück, während der Rest der Band bis 6 Uhr morgens auf den Tischen eines Oma-Lokals auf der Hamburger „Großen Freiheit“ zu Beatles-Liedern tanzte. Während Carl Barat mit meiner späteren Freundin knutschte, kam die Polizei und ging wieder, wurde eine ganze Fotoausrüstung gestohlen, jagten wir den vermeintlichen Dieb erfoglos über die halbe Reeperbahn. Am nächsten Morgen wachte ich völlig zerschossen auf und fand nur noch ein krakeliges Autogramm von Pete in meiner Hosentasche. Diese Nacht war Punk.

Was Punk neben der bloßen Verweigerung gesellschaftlicher Konventionen und Übereinkünfte noch so alles war, fasste einmal die Berliner Band Mutter, die von Free Jazz bis Chanson alles kann, im Song „Was“ zusammen: „Du hast nicht automatisch Recht / Wenn du erfolgreich bist mit dem, was du tust / Du hast nur welche gefunden, die nichts Besseres finden als dich / Und erzähl mir nicht / Was erwartest du denn?“

Vor sechs Jahren sagte Mutter-Texter Max Müller in einem Interview dann auch einen Punk-Satz: „Die Strategie ist Eindeutigkeit. Bei uns gibt es kein ‚Das haben wir nicht so gemeint‘. „Als das reizende Folk-Pop-Liedchen „Die Erde wird der schönste Platz im All“ ein Mini-Hit wurde, machte die notorisch erfolglose Band auf dem nächsten Album einfach wieder Krach. Na klar: Punk ist kaum je subtil, Punk ist immer direkt, körperlich (man denke an die Zeilen „Your kiss so sweet / Your sweat so sour / Sometimes I’m thinking that I love you / But I know it’s only lust“ aus dem Gang Of Four-Klassiker „Damaged Goods“) und im Idealfalle unmissverständlich. Punk kann hässlich sein, illusionslos, unkünstlich, frei von Kompromissen und so schmucklos und nihilistisch wie das erste Cure-Album oder die erste Joy Division (beide 197g). Selbstverständlich sind auch die deutschen Bands Blumfeld und Tocotronic bis heute Punks geblieben: Beide Gruppen verfolgen eine klar links angesiedelte, rigide Abwehrtaktik gegenüber Vereinnahmungen jeglicher (vor allem nationaler) Art. Dirk von Lowtzow liebte, hasste und glühte in aller Klarheit und sang: „Ich werde mich nie verändern“, noch die allerletzte Blumfeld-Single „Tics“ löste ein altes und wichtiges Punk-Credo ein: Das Recht darauf, die Umstände anzuprangern, ohne gleichzeitig einen eigenen Lösungsvorschlag zu haben. Nur wer selbst Punk war, konnte einen echten Punk von einem falschen unterscheiden: Die Freaks in den Filmen von John Waters, das waren Punks. Die Außenseiter in den Wim-Wenders-Filmen sollten vielleicht Punks sein, waren es aber nie, nicht einmal Marquard Böhm. Einen Punk konnte man nicht spielen, man war einer oder nicht. Ach, und all die Momente, Gesten und Geschichten, die man als unfreiwilliger Popkultur-Teilnehmer so mitbekam und die zumindest eine Ahnung von Punk vermittelten: Unvergessen, wie sich Richey James Edwards von den Manie Street Preachers während eines Interviews „4 REAL“ in den Arm ritzte oder wie der spätere Pop-Autor Rainald Goetz sich beim Ingeborg-Bachmann-Preis 1983 während seiner Lesung mit einer Rasierklinge die Stirn aufschnitt. Wie Serge Gainsbourg, Klaus Kinski oder Christoph Schlingensief-alles Punks!-obszöne Dinge im Fernsehen sagten. Oder wie der Boxer Norbert Grupe („Prinz von Homburg“) im „Aktuellen Sportstudio“ einmal sämtliche Fragen mit eisigem Schweigen beantwortete. Oder die erste, wunderbare Szene in Jim Jarmuschs „Stranger Than Paradise“, in der Eszter Bahnt, eine Ungarin in New York, mit dem Ghettoblaster durch die Straßen läuft und Screamin‘ Jay Hawkins hört: auch Punk. Und ja, selbst als Scritti Politti, die größten Popper unter der Sonne, 1982 einsam auf weiter Flur in „Jacques Derrida“ davon sangen, in einen der am schwierigsten zu lesenden Philosophen überhaupt verliebt zu sein, war das Punk. Es hätte Sid Vicious nämlich so provoziert, dass er Green Gartside dafür die Fresse poliert hätte.