Einmal Beatle, immer Beatle


The Mill Studio bei Hastings in Südengland. Der Studiokomplex sieht aus wie ein umgebauter Stall, der halbrund um eine alte, liebevoll renovierte Mühle angelegt wurde. Die Umgebung mit ihren grünen Wiesen und der Kanalküste kommt mir bekannt vor. Klar, hier hat Paul McCartney das Video zum Song „Young Boy“ gedreht, der ersten Single aus seinem neuen Album „Flaming Pie“. Zwei Stunden nach dem geplanten Interview-Termin ist der Hausherr immer noch nicht eingetroffen. Zwar wohnt er gleich um die Ecke, aber heute sei er nach London gefahren, heißt es, doch er müsse jetzt jeden Moment eintreffen.

Genügend Zeit also für eine Runde durchs gemütliche, aber penibel aufgeräumte, holzvertäfelte Studio. In einer Ecke ist ein Schlagzeug aufgebaut, ein paar Gitarren stehen an die Wand gelehnt. Im winzigen Klo zeigen Drucke von alten Stichen, wie die Landschaft hier vor ein paar Jahrhunderten ausgesehen haben muß. Drei Stunden sind um. Immer noch kein Mc-Cartney in Sicht. Ich lehne mich im Flur an die Eingangstür. Die öffnet sich plötzlich mit einem Ruck, und Paul McCartney steht mir buchstäblich im Rücken. Während er seinen Allerwelts-Tweedmantel ablegt, unter dem eine nicht mehr ganz formstabile Cordhose und abgewetzte Turnschuhe zum Vorschein kommen – der Mann, der als der reichste Musiker der Welt gilt, liebt offensichtlich das Understatement erzählt er in fröhlichem Plauderton, gerade habe er mit Linda und Sohn James im Auto auf dem Rückweg von London seinen Song“Young Boy“ im Radio gehört, und der Moderator habe sich sehr positiv darüber geäußert. Beachtenswert, wenn man bedenkt, daß die Musikjournalisten in McCartneys Heimatland nie besonders zimperlich mit seinen Solowerken umgegangen sind. Diesmal scheint er bessere Karten zu haben. In der Tat klingt „Fläming Pie“, das Kritiker für eines seiner besten Soloalben halten,frischer und straffer als viele seiner Vorgänger. So, als hätte der 54jährige eine musikalische Verjüngungskur durchgemacht. Und in gewisser Weise hat er das auch: Die Arbeit an den Beatles-Anthologies in den letzten vier Jahren hat McCartney merklich Impulse gegeben. Auf „Flaming Pie“traut er sich, seine Songs wieder mehr nach Fab Four klingen zu lassen.“Vor allem während der Wings-Jahre habe ich mich immer krampfhaft bemüht, überhaupt nicht wie die Beatles zu klingen“,erzählt er.“Durch die Arbeit an unserer ‚Anthology‘ aber bin ich darauf gekommen, daß ich meine Beatles-Vergangenheit nicht zu verstecken brauche, daß ich aufhören sollte, mir darüber Gedanken zu machen. Im Gegenteil. Wenn alle andern bei den Beatles klauen können, warum sollte ich es nicht auch tun? Schließlich war ich ja ein Teil von ihnen.“

McCartney scheint immer noch verwundert über den großen Erfolg der dreiteiligen Anthology, mit der die drei übriggebliebenen Beatles sogar die Verkausrekorde der Fab Four zu ihren Lebzeiten übertrumpften. Fühlt er sich nachdem Run auf die alten Beatles-Songs dieser Tage eher wie ein Beatle oder wie Paul McCartney? „Wie ein bißchen von beiden“, sinniert er. Denn die Sache mit dem Ruhm sei ja eh ein zweischneidiges Schwert. „Du wächst mit deinem Körperauf, und der wird plötzlich berühmt.Aberdas, was da berühmt ist, ist ja nur mein Alter ego. Insofern fühle ich mich wie ein Beatle.“ Mit dem Privatmensehen, dem Vater und Ehemann Paul McCartney, habe dieses Alter ego aber nicht sehr viel zu tun, versichert er. Immerhin leistete es sich der Privatmensch Paul McCartney, seinen Sohn James für die neue Platte anzuheuern. Der 19jährige, der eigentlich Bildhauerei studiert, durfte in „Heaven On A Sunday“ Lead-Citarre spielen. Eine Zusammenarbeit, deren Qualität Paul McCartney überraschte:“Wir verstanden uns so gut, als hätten wir schon jahrelang in einer Band zusammengespielt.“ James hatte mit neun Jahren angefangen, sich das Gitarrespielen selbst beizubringen. Einen Lehrer anzuheuern, wie Daddy es ihm vorschlug, lehnte er ab. McCartney hatte Verständnis dafür:“Genauso habe ich als Junge reagiert, als mein Vater wollte, daß ich richtige Unterrichtsstunden nehme.“

James ist nicht der einzige McCartney-Sprößling mit künstlerischen Ambitionen.“Offensichtlich haben alle vier etwas von Lindasund meiner künstlerischen Ader geerbt“, freut sich der Herr Papa.Tochter Stella etwa nahm gerade als Designerin Karl Lagerfelds Platz bei Chloe in Paris ein. Heather hat kürzlich ihre Töpferkunstwerke in New York ausgestellt. Und Mary McCartney schließlich arbeitet als Fotografin und dreht Musikvideos.

McCartney betont, er habe seine Kinder nie gedrängt, als Künstler Karriere zu machen.“Linda und ich waren ja beide nicht besonders gut in der Schule. Jedenfalls nicht gut genug, um an die Uni zu kommen. In Lindas Familie, in der alle studiert hatten, galt das als großer Makel.

Wir waren beide eher die Typen, die in der Schule immer verträumt aus dem Fenster starrten. Deshalb entschieden wir uns, unseren Kindern Freiraum zu lassen und sie nicht unter Druck zu setzen.“

Bei den Aufnahmen zu „Flaming Pie“ verzichtete McCartney diesmal auf eine eigens rekrutierte Studio-Band. Die meisten Parts auf der Platte hat er selbst eingespielt, sogar die Drums:“Das macht mir nämlich richtig Spaß. Ich habe zwar keine besonderen Tricks drauf und bin handwerklich nicht gerade erstklassig. Aber ich habe ein gutes Rhythmusgefühl“, so McCartneys Selbsteinschätzung. Für drei Songs holte er sich dann aber doch lieber seinen alten Beatles-Weggefährten Ringo Starr dazu. Bei der gemeinsamen Session im Mill Studio entstand gar die erste McCartney/Starkey Komposition, „Really LoveYou“. Erzählt Paul: „Ringo setzte ein, ich schnappte mir meinen Hofner Bass, und dann legte Jeff Lynne an der Gitarre los. Den Text dachte ich mir aus, während wir spielten.“ Nicht nur während der Arbeit hatten Paul und Ringo ähnlichen Spaß wie in alten Zeiten. McCartney hält auch privaten Kontakt zum Beatles-Drummer, der sich vor ein paar Jahren aus dem Alkoholsumpf befreit hat: „Seit Ringo nicht mehr säuft, kann man wirklich wieder gut mit ihm klarkommen. Er hat sein Leben in den Griff bekommen.“

Weitere Unterstützung holte sich McCartney bei Steve Miller, den er noch aus den 6oern kennt, und mit dem er schon damals bei einer spontanen Session den Song „My Dark Hour aufgenommen hatte. Den Blues „I Used To Be Bad“ sangen die beiden zusammen in ein Mikrofon, und gleich beim ersten Versuch war das Ding im Kasten. Die Zusammenarbeit mit Steve Miller könnte Zukunft haben:“Steves Stimme und die meinige passen gut zusammen. Sie harmonieren ähnlich, wie das bei Linda und mir der Fall ist. Außerdem mag Steve das, was auch ich mag: Blues, Rhythm & Blues, Soul, gute Songs, knackige Gitarren. Wir kommen bestens miteinander aus.“

Die meisten Aufnahmen fanden unter der Regie des schon erwähnten, ehemaligen ELO-Oberhauptes Jeff Lynne statt, der auch schon bei den Beatles Anthologies mitgemischt hatte und ursprünglich über seine Arbeit mit George Harrison und den Traveling Wilburies Kontakt zu den Beatles bekommen hatte. McCartney hält große Stücke auf den schweigsamen und peniblen Lynne: „Jeff läßt keinen Mist durchgehen. Er spornt mich an, indem er sagt ‚Das könntest du noch ein bißchen besser machen‘. Jeff arbeitet jedes Detail akribisch aus.“

Dafür nahm sich McCartney beim Songschreiben die Freiheit,spontan und sehr schnell zu arbeiten.“Young Boy“ dachte er sich aus, während Linda mit einem Reporter der „New York Times“ ein dreigängiges Menü aus ihrem vegetarischen Kochbuch zubereitete. Um „nicht einfach nur dumm rumzuhängen, wie sonst immer bei solchen Gelegenheiten“, stellte er sich selbst eine Herausforderung: „Ich hab mir gesagt, ‚Wenn das Essen gar ist, hast du einen Song fertig. Und wenn Linda dann fragt,’Was hast du die ganze Zeit gemacht?‘, dann sage ich ganz beiläufig, ‚Ach, nur einen Song geschrieben.‘ Das Ganze war eine reine Frage der Konzentration“, meint McCartney. Und weil es sich schon bei „Young Boy“ bewährt hatte, wiederholte er das Prinzip mit dem Song „Some Days“, den er mal eben schrieb, während seine Frau eine Fotosession absolvierte.

Die McCartneys haben schwere Zeiten hinter sich. Ende 1995 mußte sich Linda einer Krebsoperation unterziehen. Seitdem scheint sie sich jedoch gut er holt zu haben. Jedenfalls sang sie bei „Flaming Pie“ mit und steuerte auch die Fotos für das Cover bei Paul half sich mit Songschreiben über die Krise.“Komponieren und Singen ist kathartisch für mich“, sagt er. „Statt mich beim Psychiater auf die Couch zu legen, erzähle ich meiner Gitarre meine Sorgen. Aber das geht wohl vielen meiner Kollegen so. Musikmachen kann ausgesprochen tröstlich sein.“ Und manchmal auch andere trösten. Den Song „Little Willow“ schrieb Paul McCartney für Maureen Starkeys Kinder, nachdem er eines Morgens aus dem Radio erfahren hatte,daß Ringos ehemalige Frau an Krebs gestorben war.

Was das Reisen betrifft, steckt McCartney zur Zeit zurück. Auf Tour wird er nicht gehen. Aber auch so wird er nicht arbeitslos. Immer wieder engagiert er sich für das Liverpool Institute Of Performing Arts, LIPA genannt, das er mit Hilfe von Spenden in seiner ehemaligen Schule einrichten ließ und mit dem er unter anderem Jugendliche aus weniger begüterten Familien von der Straße holen will. „Wir sind immer noch auf die Großzügigkeit anderer Menschen angewiesen. Wenn wir eine Produktion wie ‚Cats‘ auf die Beine stellen könnten, wären wir sicher aus dem Schneider“, sinniert er.

Außerdem arbeitet McCartney gerade an einem Zeichentrickfilm und an einer Ausstellung mit eigenen Werken besonderer Art. „Seit zehn Jahren male ich. Und nun bot mir kürzlich ein Galerist aus Siegen in Deutschland an, meine Bilder auszustellen. Und weil es das erste Mal war, daß jemand sich ernsthaft für meine Werke und nicht für den Namen dahinter interessierte, sagte ich zu.“ Der Eröffnungstermin für die Ausstellung steht allerdings noch nicht fest. Und dann ist da noch das Standing Stone-Unterfangen, McCartneys neues Klassik-Projekt: „Vor einigen Jahren habe ich ja das ‚Liverpool Oratorio’geschrieben. Das hat mir so viel Spaß gemacht, daß ich es gar nicht abwarten konnte, ans nächste Projekt dieser Art heranzugehen. Und dann kamen die Jungs von meiner Plattenfirma EMI auf mich zu und baten mich, anläßlich ihres 100jährigen Bestehens ein Stück zu schreiben.“ Das Werk wird im Abbey Road Studio aufgenommen und am 14. Oktober in der Royal Albert Hall aufgeführt. „Eine große Sache“, freut sich Paul:“lch muß große Orchesterpassagen schreiben. Danach hilft mir ein Komponistenteam dabei, daraus eine ordentliche Partitur zu machen.“ Denn nach wie vor hat McCartney hat ein Handicap: „Ich kann immer noch keine Noten lesen, habe dafür aber eine gute Entschuldigung. Meine Vorfahren waren Kelten. Und wenn du dir die Geschichte der Kelten ansiehst, wirst du feststellen,daß die nie irgendwas aufgeschrieben haben. Schon gar nicht irgendwelche Songs. Sorry, ich bin ein Kelte. Das ist doch eine gute Entschuldigung, oder?“