Elektronische Musik


Elektroakustik, Ambient, Disco, Electro, House, Techno, Minimal, Electro-Pop, Drum’n’Bass, Clicks and Cuts, Ambient Dub, Breakcore, Electronic Listening, Laptop-Musik: Diese 50 Platten aus sechs Jahrzehnten elektronischer Musik stehen sicherlich nicht in jeder Sammlung, wären dort aber sehr gut aufgehoben.

50 Platten ausgewählt und besprochen von: Albert Koch

Die Geschichte der elektronischen Musik ist mindestens genauso vielseitig und spannend wie die der sogenannten handgemachten. Das liegt unter anderem daran, dass es die elektronische Musik gar nicht gibt. Was es gibt, ist eine seit bald 60 Jahren wachsende und wuchernde Vielfalt von Stilen elektronisch erzeugter Musik, die sich wechselseitig adaptieren, zitieren und beeinflussen, woraus sich Fusionsprodukte und neue Substile entwickeln. Von frühen elektronischen E-Musikern wie Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis, die in den 50er-Jahren mit Oszillatoren und Ringmodulatoren Töne erzeugt haben, über Kraftwerk (die hier nicht vertreten sind) bis hin zu aktuellen Entwicklungen in Techno und House lässt sich eine kontinuierliche Linie ziehen.

Elektronische Musik kann zwischen Avantgarde und reiner Funktionalität so einiges sein: Experiment, Novelty, Ambient, Disco, Electro, Electro Pop, House, Techno, Minimal, Drum’n’Bass, Electronic Listening und sämtliche vorstellbaren Mischformen daraus. Seit Beginn des vergangenen Jahrzehnts lässt sich ein Trend zur Zweitverwertung beobachten. Es wird recycelt, revivaled und Bezug genommen – vor allem auf den Electro-Pop der 80er-Jahre und auf Acid House. Es gibt lokale Szenen, in denen sich von Zeit zu Zeit die Kreativität ballt: Deutschland mit den experimentellen Elektronikern der Siebziger, Detroit und Chicago, Köln und die Minimal-Techno-Posse der Neunziger, die Disco-Punk-Szene der Nullerjahre in New York. Das alles findet sich in der folgenden Liste wieder.

Aber: Darf eine Band wie Atmosfear, deren Musik nur zu einem geringen Teil elektronisch erzeugt wird, auf diesen Seiten überhaupt auftauchen? Oder ein Jazzmusiker wie Herbie Hancock, der für einige Alben den Synthesizer entdeckte? Wir meinen, ja. Weil ihr Einfluss auf heutige elektronische Musiker unermesslich ist. Dürfen legendäre Disco-Produzenten wie Arthur Russell oder Patrick Cowley und Meilensteinalben wie MINIMAL NATION von Robert Hood und LIFE’S A GAS von Love Inc. (Mike Ink) hier erscheinen? Wir meinen, ja. Weil diese Musik im Mainstream der Minderheiten bisher durch das Aufmerksamkeitsraster gefallen ist.

Silver Apples

Silver Apples (1968)

Der erste Song auf dem ersten Album der Silver Apples war die Visitenkarte des Duos aus New York. „Oscillations“ beginnt mit auf- und abschwellenden elektronischen Sounds aus dem Oszillator. Simeon Coxe und Danny Taylor waren die ersten, die die elektronische Musik in einen Rockkontext setzten. Mit ihren psychedelischen Songs, die teilweise einen starken Hippieeinschlag hatten, waren die Silver Apples auf der Höhe der Zeit, allerdings machte die Elektronik den Unterschied. Feine Störgeräusche, Wimmern aus dem Oszillator, atonale Effekte, Soundcollagen kontrastierten den repetetiven Minimalismus dieser Lieder. Martin L. Gore von Depeche Mode ist Fan der Silver Apples.

Gershon Kingsley

Music To Moog By (1969)

Dem Deutsch-Amerikaner Gershon Kingsley ging es vor allem darum, die Möglichkeiten des damals neuartigen Moog-Synthesizers auch als Substitut für echte Instrumente auszuloten. So entstanden Songsammlungen zwischen Avantgarde und Pop, mit Coverversionen (Beatles, Beethoven, Simon & Garfunkel) und Eigenkompositionen. Eine solche Neuschöpfung – nämlich „Pop Corn“ – wurde durch die Retortenband Hot Butter ein weltweiter Hit.

White Noise

An Electric Storm (1969)

„Das macht Spaß“, sagt irgendwann im Verlauf des Albums eine weibliche Stimme. Es stimmt, es macht Spaß, drei Londoner Nerds aus dem „BBC Radiophonic Workshop“ zuzuhören, wie sie eben mal im Vorbeigehen einen immer noch gültigen Klassiker der elektronischen Musik geschaffen haben. Freaky Psychedelic Music wird mittels Tapemanipulationen und dem frühen britischen Synthesizer EMS VCS3 zu einem minimalistischen Soundvergnügen.

Vangelis

Sex Power (1970)

Bevor Vangelis Papathanassiou zum Synthie-Muzak-Hersteller für den Mainstream und Boxsportauftritte wurde, hatte er ein paar abenteuerliche Alben zwischen Avantgarde und Elektronik aufgenommen. Wie diesen Soundtrack zum Film von Henry Chapier, sein erstes Soloalbum. Zwar hält sich hier der Einsatz der Elektronik in Grenzen, allerdings ist der Geist aus Experimentierfreude und Minimalismus wegweisend für zahlreiche Subgenres, die da noch kommen würden.

Cluster

Cluster II (1972)

Krautrock ohne Kraut und Rock. Das Konzept: endlose Wiederholungen, marginalste Soundverschiebung-en. Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius gelang mit dem zweiten Album als Cluster (mit „C“) ein Stück Musik, das ebenso Proto-Industrial wie Proto-Ambient ist. Frei von Beats wabern tiefschwarze Synthie-Sounds über gefrorenen Klanglandschaften.

Wendy Carlos

Sonic Seasonings (1972)

Ende der Sechziger popularisierte Wendy Carlos den Moog-Synthesizer mit Adaptionen klassischer Musik (SWITCHED-ON BACH). SONIC SEASONINGS ist ihr erstes Album mit Eigenkompositionen. Synthesizer als eigenständige Klangfarbenlieferanten in vier über 20-minütigen Tracks, die als Tongemälde den vier Jahreszeiten gewidmet sind. Dazu field recordings von Windgeräuschen, Vogelzwitschern, Gewitterdonner, Regenplätschern. Ambient, der nicht Teil der Umwelt sein will, sondern sich seine eigene Umwelt schafft.

Herbie Hancock

Sextant (1973)

Auf früheren Alben hatte Jazzpianist Herbie Hancock auch schon Synthesizer benutzt. Bei SEXTANT wurde der elektronische Klangerzeuger zum Hauptinstrument. Freie Improvisation mit Jazz-Funk-Einschlag ist die Pflicht, seltsame Sounds aus dem ARP 2600 und dem Mellotron die Kür. „Rain Dance“ wird von Synthie-Sounds und -Rhythmen dominiert, die als geloopte Samples in jedem frühen Detroit-Techno-Track denkbar wären. Weiter als hier ist Hancock nie mehr gegangen.

Conrad Schnitzler

Blau (1974)

Es ist eine Schande, dass Conrad Schnitzler (geb. 1937 in Düsseldorf), eine der Hauptfiguren der frühen deutschen elektronischen Musik, durch das Wahrnehmungsraster fällt. Wenn es darum geht, Pionierleistungen zu würdigen, werden immer andere genannt: Kraftwerk, Neu!, Tangerine Dream. Schnitzler war (fast) immer dabei, wenn sich Geschichtsträchtiges ereignete. Er gehörte einer frühen Besetzung von Tangerine Dream an, als diese sich mit konventionellen Instrumenten an elektronischen Meditationen versuchten. Er gründete mit Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius die erste Inkarnation von Kluster (mit „K“) und veröffentlicht seit 1973 eine unüberschaubare Anzahl von Soloalben. BLAU erschien 1974 in einer Auflage von 500 Exemplaren und lieferte mit dezenten Dissonanzen, leicht angeglitchten Sounds, die sich aus der Wiederholung heraus fast unmerklich zu einem Klimax steigerten, die BLAUpause für den experimentellen Minimal-Techno der 90er-Jahre.

Arne Nordheim

Electric (1974)

Wie nah experimentelle U- und E-Musik beieinander liegen können, oder wie sinnlos solche Unterscheidungen überhaupt sind, zeigt das 1974er Werk ELECTRIC des norwegischen Komponisten Arne Nordheim, der im Juni 2010 mit 78 Jahren starb. Es ist eine verstörend abenteuerliche Reise durch den elektroakustischen Klangraum mit Ausflügen in die Musique concrète und Proto-Ambient.

Giorgio Moroder

From Here To Eternity (1977)

Auf dem Backcover ließ der Produzent aus Süd-Tirol vermerken, auf diesem Album seien ausschließlich elektronische Instrumente verwendet worden. Dieser Prototyp von Hi-NRG-Disco erschien gleichzeitig mit dem von Moroder produzierten „I Feel Love“ von Donna Summer, dem ersten Song der Disco-Ära mit ausschließlich elektronischer Begleitmusik. Nicht nur die Musik, sondern auch der durchgängige Mix der Tracks auf Seite eins von FROM HERE TO ETERNITY bedeuteten eine Vorwegnahme von House um Jahre.

Space

Magic Fly (1977)

„Magic Fly“ war 1977 weltweit in den Top 10 der Singlescharts, in Deutschland sogar auf Platz eins. 33 Jahre später kennt kaum mehr jemand das Projekt des Franzosen Didier Marouni. Zu unrecht. Erstmalig kam hier der experimentell-kosmische Charakter der elektronischen Musik mit der Tanzbarkeit von Disco zusammen. Anklänge des melodiösen und barocken Electro-Pop von Space sind in der Musik von Franzosen wie Air, Sébastien Tellier und Justice zu finden.

Klaus Schulze

Mirage (1977)

Im Innencover seines achten Soloalbums seit dem Ausstieg bei Tangerine Dream bezeichnete Klaus Schulze die Kompositionen als „Eine elektronische Winterlandschaft“. Der Berliner Musiker schuf eine symphonische Dichtung für Synthesizer, ein tönendes Gemälde aus zwei knapp halbstündigen Tracks – kosmische Musik, Proto-Ambient, sphärisch, ohne Beats, eiskalt und kristallklar wie eine Winternacht.

Pyrolator

Inland (1979)

1979, ein Jahr vor dem Der-Plan-Debüt GERI REIG, veröffentlicht Pyrolator, ein Gründungsmitglied von Deutsch-Amerikanische Freundschaft, Mitglied bei Fehlfarben und den genialen Dilettanten von Der Plan, sein erstes Soloalbum. Mit einem frisch gekauften Korg-Synthesizer und einem Sequencer macht er sich daran, politischen Widerstand in Instrumentals auszudrücken. Auftrag erfüllt – mit nerviger Radikalität, ambientartigen Strukturen und Poppigkeit.

The Flying Lizards

The Flying Lizards (1979)

Beinahe beiläufig gelangen dem britischen Avantgardekomponisten David Cunningham mit Coverversionen zwei mittlere Hits: „Summertime Blues“ und „Money“. Minimalistische Dekonstruktionen von Klassikern der Rockgeschichte, die als Ironie missverstanden wurden, passten wunderbar in die bilderstürmerische New-Wave-Ära – und die Plattenfirma verlangte nach einem Album. Sie bekam THE FLYING LIZARDS mit elektronischen, dub-nahen Experimenten im Poprahmen und einer seltsamen Version von Brecht/Weills „Mandelay Song“.

Silicon Teens

Music For Parties (1980)

Der Mann hinter der einflussreichen 1978er One-Single-Punk-Band The Normal („Warm Leatherette“) war der Gründer von Mute Records, Daniel Miller. Zwei Jahre später nahm Miller ganz allein mit seinem Synthesizer ein Album auf. Die fiktive Band Silicon Teens spielte mehrheitlich Versionen von Rockklassikern aus den 50er- und 60er-Jahren.: „Yesterday Man“, „You Really Got Me“, „Let’s Dance“ in fiepsig-piepsigen, dem Zeitgeist der New Wave entsprechend beschleunigten, minimal-elektronischen Arrangements.

Patrick Cowley

Megatron Man (1981)

Giorgio Moroder war Ende der Siebziger für die volle Elektronifizierung von Disco verantwortlich. Der Produzent Patrick Cowley, 1982 mit 32 Jahren als frühes, prominentes HIV-Opfer gestorben, führte die Idee fort. Galoppierende Rhythmen, Four-to-the-floor-Beat, hymnische Melodielinien, perlende Arpeggios, atemberaubende Effekte und Vocoderstimmen bestimmten seine Songs. Hi-NRG wieder als Keimzelle von House.

Antena

Camino Del Sol (1982)

Die französisch-belgische Band hatte das Pech, ihre Platten auf dem belgischen Ableger des Factory-Labels (Joy Division, New Order) zu veröffentlichen, in das die Mutter in England nicht viel Energie steckte. Trotzdem wurde das Minialbum CAMINO DEL SOL und vor allem sein Titelsong über die Jahrzehnte immer wieder neu entdeckt – zuletzt 2006 durch den Re-Release des Labels Permanent Vacation, das Antena den Neo-Disco-Jüngern näherbrachte. Die Musik: fluffig-leichter, beizeiten melancholischer Bossa-Nova-naher elektronischer Dreampop, der die Musik von Bands wie Stereolab und Air um ein Jahrzehnt vorwegnimmt.

Reinhard Lakomy

Das geheime Leben (1982)

Komponist Reinhard Lakomy aus Magdeburg ist vor allem durch Kinderhörspiele bekannt. In den Achtzigern veröffentlichte er in der DDR drei Platten mit elektronischer Musik. DAS GEHEIME LEBEN orientiert sich an der Sequencer-getriebenen Musik der mittleren Tangerine Dream, circa 1977, dazu ein paar rhythmisch aufgeladene Passagen, die eine fast italo-discoide Stimmung verbreiten.

Cybotron

Enter (1983)

Kurz darauf kam Detroit Techno: Cybotron, 1980 von Juan Atkins und Richard Davis gegündet, fusionierten als frühe Elektroband den Funk von George Clinton mit dem Techno-Pop Kraftwerks zu einem hypnotischen, futuristischen Proto-Techno. Der Titeltrack ist ein Musterexemplar an frühem Eklektizismus in der elektronischen Musik: ein vokaler, quietschiger, vom Funk beeinflusster Synthiepop-Song mit Metal-Gitarren.

Virgo

Virgo (1989)

Die großen Vergessenen des Chicago House: Eric Lewis und Merwyn Sanders hätten allein mit ihren zwei ersten 12-Inches für das Trax-Label, die auf diesem Album versammelt sind, Legendenstatus erreichen müssen. Das zwischen Techno und House hin und hergerissene „In A Vision“, das piano-getriebene „Going Thru Life“ sind so zeitlos in Melodie und Sounddesign, dass sie auch auf einer aktuellen DFA-Maxi vorstellbar wären.

Karlheinz Stockhausen

Elektronische Musik 1952-1960 (1991)

Am Anfang war Karlheinz Stockhausen (1928 – 2007). Der Mann aus Mödrath bei Köln war nicht der Erste oder Einzige, der sich in den 50er-Jahren mit elektronischer Musik beschäftigte, doch übte keiner einen nachhaltigeren Einfluss aus auf die, die nach ihm kommen sollten. Die Kausalkette von Stockhausen über Kraftwerk zu House und Techno ist ein Mantra in der Geschichte der elektronischen Musik. Die Compilation enthält fünf Werke Stockhausens. Während zwei frühe „Studien“ von 1953/54 nicht viel mehr sind als (modifizierte) Sinustöne, ist „Kontakte“ von 1960 das Schlüsselwerk, das in seiner soundästhetischen Radikalität noch 50 Jahre später fasziniert.

Thomas Köner

Teimo (1993)

Multimediakünstler Thomas Köner war eine der wichtigsten Figuren der experimentellen Musik in den 90er-Jahren. TEIMO ist ein Schlüsselwerk, das das Ambient-Genre aus der New-Age-Ecke holte, in die es zu Unrecht gestellt worden war. Düstere Soundschichten und tiefe Drones schleppen sich zäh wie Lava über eine Distanz von 40 Minuten.

Robert Hood

Minimal Nation (1994)

Das Album, das dem Genre seinen Namen gab. Robert Hood, zusammen mit Jeff Mills und Mike Banks, Gründungsmitglied der Detroit-Techno-Posse Underground Resistance, ließ den sphärischen Schnickschnack zeitgenössischer Technoproduktionen weg und konzentrierte sich auf das Wesentliche, den Beat und von Acid-House beeinflusste Sounds. Wenig später war Techno (fast) nur noch Beat. Und minimal. Bis heute.

Model 500

Deep Space (1995)

Auf dem Cover ein galaktischer Nebel. Die Tracks tragen Titel wie „Milky Way“, „Orbit“ und „Starlight“. Juan Atkins nahm als Model 500 die alten elektronischen Themen Futurismus und Weltraum wieder auf – so wie es Techno-Beeinflusser wie Kraftwerk und Tangerine Dream in den Siebzigern gemacht hatten. Ein ultradeepes Album entstand, mehr experimentell als tanzbar. Danach nannte man Atkins den „Godfather Of Techno“.

Bill Laswell & Terre Thaemlitz

Web (1995)

In den Neunzigern war Bill Laswell u.a. mit der WordSound-Posse aus Brooklyn an der Fortentwicklung vieler elektronischer Musikrichtungen beteiligt: Ambient, Dub, Electro, Underground-Hip-Hop, Drum’n’Bass. Dabei gelang ihm – bei einem unüberschaubaren Output von mehreren hundert Alben – das ein oder andere definitive Statement zu einem Genre. Wie zum Beispiel WEB. Hier arbeitete Laswell mit Terre Thaemlitz, Musiker, Transgenderaktivist und Gründer von Comatonse Recordings. WEB ist ein Konzeptalbum über das damals eben mal vier Jahre alte World Wide Web, das tatsächlich gerade weltweit wurde. Man kann Dark Ambient dazu sagen. Die Sphärensounds, die Dissonanzen, die tiefen Bässe erzeugen eine sonderbare Melancholie, die dem Thema angemesen ist: keine Technologiefeindlichkeit, sondern die kritische Distanz zu neuen Kommunikationsmitteln.

Love Inc.

Life’s A Gas (1996)

Der Albumtitel – von einem T.-Rex-Song geliehen. Das Cover – eine Collage aus Plattenhüllen: Kraftwerk, Tangerine Dream, Miles Davis, DAF, T. Rex. Im Inneren eine Art Wappen mit den drei Buchstaben „NCN“ – „No copyrights necessary“. Wir hatten verstanden: Wolfgang Voigt aka Mike Ink, Gründer des Kölner Kompakt-Labels, brachte als Love Inc. dem jungen Minimal Techno ein bisschen Pop bei. Unter Zuhilfenahme exzessiven Samplings der auf dem Cover abgebildeten Musiker. Selten waren die Quellen dieses ersten großen Samplingalbums so leicht zu identifizieren wie in den beiden Versionen des T.-Rex-Songs „Hot Love“. Der große Rest: funky Minimal Techno aus mikroskopischen Soundschnipseln hergestellt.

Bill Laswell meets Style Scott

Dub Meltdown (1997)

Wenn es ein Neo-Dub-Album sein soll, dann dieses: Lincoln „Style“ Scott, Drummer von Dub Syndicate, im Studio mit dem Produzenten Bill Laswell. Scotts reduziertes Schlagzeugspiel und Laswells melodisch-blubbernder Bass grundieren diesen dunkelgrauen Ambient Dub, Professor Shehab und Laswell waren zuständig für die spooky bis esoterischen Samples, Loops und Echokammer-Effekte.

Mick Harris/Eraldo Bernocchi

Overload Lady (1997)

Mick Harris, Ex-Drummer der Grindcore-Band Napalm Death, hatte sich mit seinem Dark-Ambient-Projekt Scorn als Musiker im Grenzbereich etabliert. Mit dem Soundexperimentator Eraldo Bernocchi nahm Harris ein Drum’n’Bass-Album auf, das ultrapuristisch die Crossover-Bemühungen des Genres Richtung Jazz und Pop sabotierte und auf endloses Geklöppel, schwere Ambientflächen und fiese subsonische Industrial-Effekte setzte.

Iannis Xenakis

Electronic Music (1997)

Nur ein Bruchteil seines Gesamtwerks widmete der Komponist Iannis Xenakis (1922-2001) elektronischer Musik, aber er kam immer wieder darauf zurück. Diese Compilation fördert sechs Werke der Jahre 1957 bis 1992 zutage. Sie erzählen nicht nur von den Pioniertaten früher Elektroniker, sondern auch vom technischen Fortschritt der Hardware – vom mit Oszillatoren hergestellten Proto-Ambient „Diamorphoses“ (1957) bis hin zu den komplexen Soundverschiebungen von „S. 709“ (1992), die mithilfe eines Computerprogramms aufgenommen wurden.

Plaid

Not For Threes (1997)

Das erste Album des Londoner Duos auf Warp war auch ein Schritt des Labels auf dem Weg von der abstrakten Experimentiererei (Aphex Twin, Autechre, LFO) Richtung Electronic Listening. Zwar gefielen sich auch Plaid darin, das Tempo eines Tracks spontan zu verändern, auch hier hat es verfrickelte, verzerrte Breaks der Warp-Schule, aber die stehen friedlich neben poppigen, niedlichen Melodien. Und in „Lilith“ darf Björk singen.

Drexciya

The Quest (1997)

Das Konzept: absolute Anonymität der Protagonisten. Das Anliegen: Musik als politische Waffe. Die Musik: Oldschool Electro-Funk plus 80er-Jahre Detroit Techno mit Acid-Elementen ergibt elektropoppigen Techno-Funk. THE QUEST kompiliert die Mehrzahl der Tracks, die Drexciya seit 1992 für das Underground-Resistance-Label aufgenommen hatten. Die Identität James Stinsons als Hauptmitglied wurde erst nach seinem frühen Tod 2002 gelüftet.

Various Artists

Electro Beats – Best Of Electro On

Celluloid (1997)

Eine Compilation des New Yorker Hip-Hop-Electro-Labels Celluloid – mit FrühAchtziger-Tracks des großen Turntablisten Grandmixer D.ST., Time Zone, Afrika Bambaataa, John Lydon und Futura 2000 With The Clash (!) die metallisch-synthetischen ELECTRO BEATS zeigen, wie nah sich damals Electro und Hip-Hop waren.

Pole

1 (1998)

Das Knacken in der Rille: Ein defekter 4-Pole-Waldorf-Filter gab Stefan Betke aus Berlin nicht nur den Künstlernamen, sondern vier LPs lang eine musikalische Identität, die einflussgebend war auf Minimal. Betke hatte das Gerät aus Versehen fallenlassen und danach festgestellt, dass sich die seltsamen Geräusche zum Musikmachen eignen. Knacken und Knistern aus dem Filter, dubbige Basslines und dezente Halleffekte passten perfekt zum gerade aufkommenden Minimal-Techno, der die oft hymnische, streicheraufgeladene Musik auf ihre wesentlichen Bestandteile herunterrechnete. Die komplexen Rhythmen auf 1 waren weniger zum Tanzen geeignet, doch manchmal – wie im Track „Fragen“ – schälte sich aus der rhythmischen Komplexität, den Dissonanzen und den Störgeräuschen ein überirdischer Groove heraus.

Soul Center

Soul Center (1999)

Es ist eine Geschichte, die Thomas Brinkmann, eine der Hauptfiguren des Minimal Techno der Neunziger, mit Soul Center erzählen wollte. Die Kausalität Soul, Disco, House, Techno. Ein Album, das um Samples, oftmals mikroskopisch kleine Vocal- und Instrumentalschnipsel, aus Soulsongs der Sechziger und Siebziger kreist. Brinkmann baute gar nicht mal so minimalistische Beats und Percussions darum herum. Die Quellen: George Clinton, The Undisputed Truth, The Temptations, Four Tops, Martha Reeves And The Vandellas.

Frank Bretschneider

Rand (1999)

Minimal Techno an der Schwelle zum Nichts. Der Mitinhaber des Raster-Noton-Labels führte auf seinem ersten Album unter eigenem Namen in 20 elektronischen Miniaturen das Genre an seine Grenzen. Skizzenhafte Soundkonstruktionen, fragmentarische Rhythmuspatterns, Clicks und Cuts. Manche Tracks entwickelten aus zwei gegenläufigen Mikro-Beats einen eigenartigen Groove. In der Retrospektive zeigt rand auf, dass seit damals im Minimal Techno nicht viel passiert ist.

Atmosfear

Dancing In Outer Space (2000)

Der größte Beitrag der britischen Jazz-Funk-Band Atmosfear 1979 war der fast zehnminütige Underground-Disco-Hit „Dancing In Outer Space“. Diese Compilation versammelt alle Aufnahmen von Atmosfear für das Elite-Label. Grundlage ist ein jazz-eingefärbter Funk, zu dem die Elektronik die kosmischen Klangfarben beisteuert. Man darf auch Space-Disco dazu sagen. In den Neunzigern waren Atmosfear das Objekt der Begierde zeitgenössicher Remixer wie Masters At Work und Dimitri From Paris.

Jim O’Rourke

I’m Happy And I’m Singing And A 1, 2, 3, 4 (2001)

Jim O’Rourke, Multitalent, Musiker, Produzent, Filmemacher, Ex-Mitglied von Sonic Youth, könnte mit seinem unüberschaubaren musikalischen Output in mindestens vier von fünf Abteilungen dieser Geschichte auftauchen. Auf dem zwischen 1997 bis 1999 aufgenommenen I’m Happy And I’m Singing And A 1, 2, 3, 4 entdeckte der Mann aus Chicago die Möglichkeiten, die in einem Powerbook stecken. Reine Computermusik zwischen Knispelelektronik in Tonschleifen, durch Cuts aufgebrochene Minimalmusik und dekonstruierter Symphonik.

Silicon Soul

Pouti (2003)

Ein sehr spätes Debütalbum. 2003 veröffentlichte das Münchner Label Disko B pouti von Silicon Soul. Das New Yorker Kunst-Pop-Duo Olgalyn Jolly und K.L. Schafer, sie Sängerin und Tänzerin, er Soundforscher und Synthesizerspieler, hatte die Songs zwischen 1981 und 1987 aufgenommen. Das Adjektiv zeitlos ist eine Untertreibung, um die Musik von Silicon Soul zu beschreiben, diese Mischung aus visionärem Synthiepop und Gesang aus dem Musiktheater. Hier natürlich auch mit drauf: das 1981er „Who Needs Sleep Tonight“, ein Jahrzehnt später von DJ Hell zum europäischen Clubhit gemacht.

Alexander Robotnick

The Disco-Tech Of … Alexander Robotnick (2004)

Maurizio Dami, alias Alexander Robotnick, Synthie-Pop- und Italo-Disco-Produzent der 80er-Jahre, mit seinen Tracks „Problèmes d’Amour“ und „Dance Boy Dance“ Einflussgeber für Chicago House und Detroit Techno. Seine Mix-CD soll stellvertretend stehen für Hunderte andere, die seit Mitte der 90er-Jahre den Markt überschwemmen. Robotnick mixt Synth-Pop („Enola Gay“ von Orchestral Manoeuvres In The Dark, „Fade To Grey“ von Visage), Italo-Disco („Penguin Invasion“ von Scotch) mit New Order („Bizarre Love Triangle“) und zeitgenössischem Electro (Miss Kittin & The Hacker mit „Frank Sinatra“) und zeigt mit seinem erstklassigen DJ-Mix die Zusammenhänge zwischen den Jahrzehnten auf.

Jason Forrest

The Unrelenting Songs Of The 1979 Post Disco Crash (2004)

Das erste full-length-album des „Artist fomerly known as DJ Donna Summer“ war eine Sample-Orgie mit der Abrissbirne, irgendwo zwischen Breakcore und den damals schicken Mash-ups. Jason Forrest collagierte hunderte (hoffentlich geklärte) Samples aus allen denkbaren Tanzmusiken, gerne auch 80er-Jahre-Schweinerock-Gitarrensoli aus deinen schlimmsten Alpträumen, zu einem irrwitzigen, polternden Soundclash. Außer einer Akustikgitarre, so lässt Forrest auf dem Backcover wissen, „wurden keine echten Instrumente bei den Aufnahmen dieses Albums benutzt.“ Wir sind stolz auf ihn.

Arthur Russell

The World Of Arthur Russell (2004)

Der ideale Einstieg in THE WORLD OF ARTHUR RUSSELL, des im Jahr 1992 im Alter von 40 Jahren an den Folgen einer HIV-Infektion verstorbenen Komponisten, Cellisten und vor allem Produzenten von Disco-Musik. Diese jüngst wiederaufgelegte Compilation (auf zwei CDs oder drei LPs) legt den musikalischen Schwerpunkt auf die mehr cluborientierten Tracks Arthur Russells, unter anderem mit Remixen seiner Zeitgenossen wie etwa Larry Levan, Walter Gibbons und François Kevorkian. Diese Post-Disco-Produktionen sind es, die dieses früh verstorbene Genie neben Patrick Cowley zum wichtigsten Produzenten der Proto-House-Ära machen.

Funkstörung

The Return To The Acid Planet (2005)

Als das zigste Acid-House-Revival gerade auf seinem Höhepunkt war, kam dieses nur auf Vinyl und als Download erhältliche Album der Innovatoren aus Rosenheim gerade recht. Abenteuerlich quietschende Acid-Lines, wahnwitzige Breaks, Windungen und Verschlingungen. Michael Fakesch und Chris De Luca rekonstruierten/updateten ihre eigenen Tracks, die sie am Anfang ihrer Karriere für das Bunker-Records-Sublabel Acid Planet aufgenommen hatten. Ein musikalisches Denkmal für die Roland TB-303 Bassline und die Roland TR-808 Drummachine.

Atomx{2122}

Acid Evolution 1988-2003 (2005)

Ein weiterer Beitrag zum Acid-Revival, hier vom Vielveröffentlicher Uwe Schmidt, der unter den unterschiedlichsten Namen arbeitet: Atom Heart, Atomx{2122}, Lassigue Bendthaus, LB und Señor Coconut. Schmidt erzählt auf dieser vermeintlichen Compilation eine kurze Geschichte von Acid House – und alles ist gelogen. Die 16 Tracks, die angeblich in 16 Jahren von 16 verschiedenen Acts (mit Fantasienamen wie „Hüllkurve“, „21 Brothers“ und „Phresh Phantasy“) aufgenommen worden sein sollen, wurden alle von Schmidt selbst produziert. Er rekreierte quietschende Sounds, Basslines, Vocoderstimmen und die Minimallyrik und schuf damit die beste „Compilation“ zum Thema.

Kid606

Pretty Girls Make Raves (2006)

Kid606 hat sich der elektronischen Musik immer von einer Meta-ebene aus genähert. Es ging um Kommentare zur Lage der elektronischen Nation, um Umdeutungen aktueller popkultureller Bezüge. Gerade aus diesem Grund ist ihm manches abschließende musikalische Statement gelungen. Zum Beispiel sein 2002er Album the action packed mentallist brings you the fucking jams, mit dem er alles zum damals hoch aktuellen Thema Mash-up/Bastard-Pop gesagt hatte. Mit PRETTY GIRLS MAKE RAVES griff der Venezulaner den Trend der Selbsthistorisierung im elektronischen Lager auf, gleichermaßen Hommage an den Analogsynthesizer und den Techno der mittleren Achtziger bis frühen Neunziger: straighter 4/4-Beat, quietschende Acid-Lines, crazy Gesang inklusive.

The Ones

The Ones (2007)

Ihr „Flawless“ war ein Underground-Disco-Hit in New York, schaffte es im Jahr 2001 in die britischen Top Ten und wurde drei Jahre später in der Version von George Michael ein weltweiter Hit. The Ones, Trio aus New York mit Verbindungen zur Modedesignerin Patricia Field, spielten Electro Funk für Fortgeschrittene, Post-Punk-informiert, von Old-School-Electro und Disco inspiriert, mit Exkursionen in postmoderne New Yorker Disco-House-Territorien. „Scissor Sisters ohne Faschingskostüme“ hat einmal ein kluger Kopf über The Ones geschrieben.

Ricardo Villalobos

Fabric 36 (2007)

Eine bemerkenswerte CD, die der Berliner Produzent und DJ Ricardo Villalobos für das englische Fabric-Label kompilierte und mixte. Villalobos benutzte für den Mix, der sonst der Verbeugung vor den Beeinflussern dienen soll, oder die aktuelle Positionierung des DJs kundtut, ausschließlich eigene, unveröffentlichte Tracks. Im Mittelpunkt steht zwar der mikroskopische, minimalistische Groove, den Villalobos allerdings mit ungeraden Rhythmen und abstrakten Sounds versieht. Ein Spiel mit den Erwartungen an Techno/House als Funktionsmusik – und große Kunst.

Syclops

I’ve Got My Eye On You (2008)

Eine Phantomband, hinter der wahrscheinlich ganz alleine Maurice Fulton steht, Mitglied von Mu, House-DJ und Produzent und Remixer (u.a. Hot Chip, Annie). Dieses Album bewegt sich irgendwo zwischen Maschinen-Funk und Left-Field-House. Es hat hier zwirbelige Space-Age-Effekte, quietschige Synthesizer, dräuende Ambientflächen, jazzy Bass und Percussions, Breakbeats und noch ein bisschen mehr Elemente, die die elektronische Musik in den vergangenen 30 Jahren erfunden hat. Manchmal kann man zu dieser Musik auch tanzen.

Minitel Rose

The French Machine (2009)

Es ist noch nicht das letzte Wort im 80er-Jahre-Revival gesprochen; hier die Verwurstung der mainstreamigen Ausläufer des Jahrzehnts. Diese disco- und elektropoppigen Franzosen klingen mehr nach den Achtzigern als jede Band aus den Achtzigern. Synthie- und Sequencersounds, käsig, kristallklar, perlend, Electro-Funk, Gitarren aus dem Mainstreamrock plus heavy drumming. Minitel Rose sind wie Justice ohne den großen Bumms. Und sie dürfen Giorgio Moroder danken für die Inspiration zum Albumtitel.

Black Meteoric Star

Black Meteoric Star (2009)

Gemeinsam mit Delia Gonzalez arbeitete der New Yorker Gavin Russom Mitte der Nullerjahre an einem psychedelisch-flirrenden Post-Ambient mit Hippie-Einschlag. Die Hauptinstrumente waren die selbst gebauten Analog-Synthesizer des New Yorkers, der zu dieser Zeit in Berlin lebte. Ebenfalls in Berlin entstanden drei 12-Inches für das DFA-Label, die auf dem Album BLACK METEORIC STAR zusammengefasst wurden. Russom verhandelte als Black Meteoric Star maximal intensiv klassischen Techno und (Acid-)House, der nur wenig Spielraum für Elemente außerhalb von Trommel und Bass bereithält: etwa eine psychedelische Gitarre, die unter den maschinellen Beats von „Worldeater“ ihre Kreissägenarbeit verrichtet. Die Bedingungen auf diesem Album sind so analog, dass in den leisen Passagen der Tracks ein stetiges Brummen der Maschinen zu hören ist. Heute ist Russom wieder weiter. Unter dem Namen The Crystal Ark macht er, mittlerweile in New York, dunkel-brodelnden Techno für den Dancefloor.

Krazy Baldhead

The B-Suite (2009)

Es war die Veredelung des Ed-Banger-Sounds auf höchstem Niveau, die der studierte Jazzmusiker Pierre-Antoine Grison als Krazy Baldhead auf seinem Debüt betrieb. Zwischen Old-School-Moog-Synthesizer-Niedlichkeit, gemäßigtem Ed-Banger-Filter-House, Instrumental-Hip-Hop und abstrakten Rhythmen vermitteln die Tracks ein jazziges Gefühl und die Erkenntnis: „Es wird immer weitergeh’n, Musik als Träger von Ideen“.