Ethno Touristen in Lateinamerika


Im Atlas schlagen wir eine neue Seite auf: war es im vergangegen Jahr Afrika, das die musikalischen Globetrotter durchforsteten, so geht die Expedition diesmal nach Südamerika. Allen voran David Byrne und Paul Simon, die schon als Führer des Afrika-Korps Geglänzt hatten. Ist die Reise in den Regenwald diesmal mehr als ein flüchtiger Flirt? ME/Sounds Mitarbeiter Steve Lake bleibt skeptisch

Als David Byrne und Brian Eno 1980 ihren Ausflug in den (afrikanischen) „Bush Of Ghosts“ unternahmen, brauchten sie nichts weiter als die Adresse des nächstgelegenen Import-Plattenladens, eine Schere und viel Geduld, um ihr 1000-Teile-Soundpuzzle zusammenzusetzen. Paul Simon dagegen unternahm gleich einen mehrwöchigen Trip nach Johannesburg, um die basic tracks für GRACELAND aufzunehmen – ahnungslose Gemüter sahen ihn fortan als neuen Schutzheiligen der afrikanischen Musik. Ein Jahr später hatte das Afrika-Fieber auch die Talking Heads erfaßt; an den Aufnahmen für NAKED waren allerdings hauptsächlich Musiker aus Salif Keitas Band beteiligt, die bereits seit einiger Zeit in Paris lebten. In einem kürzlich in der New York Times erschienenen Artikel wurden die diversen „Tribute“ weißer Popstars an die Weltmusik mit Kohleabbau über Tage verglichen: man finde ein vielversprechendes Areal, plündere es so schnell wie möglich und bewege sich dann unverzüglich weiter.

Seit neuestem verkünden zynische Pop-Zungen, Afrika sei bereits „abgehakt“. In Wahrheit wurde nur ein wenig an der musikalischen Oberfläche des Schwarzen Kontinents gekratzt, aber immerhin hat man die fröhlicheren Töne aus den Ghettos und Slums von Algerien bis Soweto heftigst gesampelt und archiviert, um jederzeit eine exotische Gewürzmischung für die nächste Generation fader Disco-Platten im Regal zu haben.

Nun wird im Atlas wieder eifrig nach dem nächsten angesagten Landstrich gestöbert, und allgemein heißt es. Südamerika sei der diesjährige Beat-Hotlieferant. Nur gut, daß die Öffentlichkeit bereits Regenwald-bewußt ist und dank Sting und seinem Kumpel Raoni, dem Typen mit der interessanten Unterlippe, zumindest ungefähr ¿

weiß, wo Südamerika liegt. Mittlerweile verbringt jeder, der etwas auf sich hält, einige Zeit dort unten, wobei beliebtestes Objekt für Feldstudien die synkopenreichen Rhythmen Brasiliens sind. Und wie immer wird die Karawane angeführt von David Byrne und Paul Simon.

Für Simon ist ein bißchen Latino-Exotik ja nichts neues. Bereits 1970 schielte er mit „El Condor Pasa“ südwärts, und sein Hit von 1981, „Late In The Evening“, war mehr als nur ein bißchen Salsa-beeinflußt.

Byrne dagegen, der zwar als echter Workaholic unbedingt überall einen Fuß in der Tür haben muß. scheint es mit seinem Engagement für lateinamerikanische Klänge wirklich ernst zu sein. Wer bei NAKED aufmerksam zugehört hat, hätte aus dem (kubanischen) Mambo-Beat von „Mr. Jones“ bereits auf Byrnes neue Leidenschaft schließen können. Von Afrika nach Südamerika: Das ist ein logischer Schritt, nicht nur für den Trend-Touristen, sondern auch für den Ethno-Musikwissenschaftler, denn südamerikanische Musik basiert zum großen Teil auf etwas abgewandelten oder neu kombinierten afrikanischen Rhythmen. Die spezielle brasilianische Rhythmus-Rezeptur zum Beispiel erklärt sich aus der Tatsache, daß die Portugiesen früher einen regen Handel mit Sklaven aus Südafrika, Angola und dem Kongo betrieben, die ihre jeweiligen Percussion-Instrumente und Rhythmen mitbrachten. Die sich daraus ergebende rhythmische Vielfalt wurde noch komplexer durch den Einfluß der Shingu-Indianer, die bereits dort lebten, bevor die weißen Siedler eintrafen … Eine komplizierte Geschichte, die Byrne auf seinem Streifzug durch die lateinamerikanische Musik aufzudröseln versucht.

Letztes Jahr veröffentlichte er den „Brazil Classics“-Sampler BELEZA TROPICAL, eine Sound-Sammlung in der Tradition des brasilianischen tropicalismo, vertreten durch Künstler wie Milton Nascimento, Caetano Veloso und Gilberto Gil. Ein Album voll honigsüßen Brasil-Pops, perfekte Tarnung für die teilweise ziemlich radikalen Texte. Der eindeutige Widerspruch zwischen der Harmlosigkeit der Musik und der darin verbreiteten Botschaft – zu einer Zeit, als jegliche politische Stellungnahme von der Militärregierung mit Gefängnisstrafen oder schlimmerem beantwortet wurde – faszinierte Byrne, denn, so sagte er, „vielleicht sind diese Songs eine menschlichere Form politischen Pops als unsere Rock-Epen zum Mitklatschen, die sich oft zu sehr nach Nationalhymnen oder Märschen anhören. „

Das zweite, vor kurzem veröffentlichte Album dieser Reihe, O SAMBA, präsentiert die perkussivere Tanzmusik der Metropole Rio, und ein drittes, das sich dem Form widmet, einem Tanzstil aus dem Nordosten Brasiliens, soll Anfang 1990 erscheinen. Byrne verbrachte außerdem einige Monate in Brasiliens Bundesstaat Bahia, wo er „Ile Aiye (The House Of Life)“ drehte, einen Dokumentarfilm über die Candomble-Religion, einem auf Trance-Zuständen und Ritualtänzen basierenden Kult, dessen Wurzeln im uralten afrikanischen Kaiserreich Yoruba liegen.

Im September schließlich moderierte Byrne einen Abend mit „Music Of The Spirits“ in der New Yorker Town Hall, an dem afro-kubanische Santiera-Priester, der Conga-Spieler Milton Cardona mit seiner Band und Vertreter haitianischer Voodoo-Musik vorgestellt wurden.

Als ob all das noch nicht genug wäre, begibt sich Byrne auf seinem neuesten Album REI MOMO. dem ersten seiner Solo-Ausflüge, der es tatsächlich auf kommerziellen Erfolg anlegt, auf eine weitere, ausgedehnte Expedition ins Latino-Reich. Byrnes typische, schräge Texte werden unter anderem auch von ein paar brasilianischen Percussionisten untermalt, die meisten der treibenden Rhythmen auf REI MOMO kommen jedoch aus der Karibik – genauer gesagt aus Kuba und der Dominikanischen Republik – in Gestalt der mittlerweile in Amerika beheimateten Salsa-Größen Willie Colon und Johnny Pacheco.

Die Aktivitäten des musikalischen Weltreisenden Byrne stoßen nicht überall auf ungeteilten Beifall. Die Zeitschrift 20/20 hielt REI MOMO (der Titel bedeutet „König des Karnivals‘) nur für ein weiteres Beispiel des „Weißen, der in den Untiefen uralter schwarzer Kultur herumpaddelt“.

Der New Yorker Bassist Melvin Gibbs, früher bei Defunkt und mittlerweile bei den Ambitious Lovers, der Band des in Brasilien aufgewachsenen Gitarristen Arto Lindsay, stellt die Frage: Wo bleibt David Byrnes eigene Musik? „Als ich noch bei Defunkt war, kam David Byrne immer mit einem Notizblock zu unseren Auftritten. Dann wurde aus den Talking lleads plötzlich eine Funk-Band. Als ich ihn bei Arlos Gigs wieder dauernd im Publikum sah, wußte ich, der ist bald auf dem Brasilien-Trip. „

Lindsay selbst scheint Byrnes Kultur-Anleihen etwas toleranter gegenüberzustehen. Er hat zusammen mit Byrne Songs geschrieben – einer davon, „Office Cowboy“, ist auf der CD-Version von REI MOMO enthalten -, steuerte Übersetzungen der portugiesischen Texte für den ersten Brasilien-Sampier bei und schrieb auch die linernotes.

Mittlerweile vergnügt sich die amerikanische Presse jedoch damit, die beiden als angebliche Konkurrenten gegeneinander auszuspielen. Bis jetzt hat Lindsays eigene, mit einem kräftigen Schuß brasilianischer Sounds angereicherte Noise/FunV Pop-Mischung, außerhalb der New Yorker Post-Punk-Szene wenig Aufsehen erregt. Aufgrund seines brasilianischen Backgrounds verfügt er jedoch, im Gegensatz zu anderen Ethno-Tounsten, über profunde Südamerika-Kenntnisse und ist deshalb im Zuge der Entwicklung zu so etwas wie einem kulturellen Botschafter geworden. Caetano Velosos ESTRANGEIRO, von Lindsay produziert, ist in der amerikanischen Latino-Bevölkerung bereits ein großer Hit und ein gutes Beispiel für den interkulturellen Verkehr.

Puristen melden da natürlich auch sofort Protest an. Nicht so David Byrne, der den typisch europäisch/amerikanischen Denkmustern eher skeptisch gegenübersteht: ,“OK, bleib‘ bei deinen Leisten. Was du machst, ist in Ordnung, aber versuch‘ dich nicht an unseren Sachen. Betrete unser Territorium nicht, und wir kommen dir auch nicht in die Quere.‘ Das ist Blödsinn. „

Wenn man sich strikt an historische Fakten hält, macht es sowieso keinen Sinn, im Zusammenhang mit brasilianischem Pop von „Unverfälschtheit“ zu sprechen, denn Brasiliens Musiker haben sich schon immer gerne aus dem amerikanischen Jazz-Fundus bedient. Ende der Fünfziger wurde Brasilien dann auf einmal selbst zu einer Inspirationsquelle für die Pop-Kultur. Zu verdanken hatte es das dem aus Rio de Janeiro stammenden Komponisten Antonio Carlos Jobim, der mit Songs wie „Desafinado“ und „The Girl From Ipanema“ den Bossa-Nova-Boom einläutete und damit nebenbei Stan Getz und Astrud Gilberto zu internationalen Stars machte. Jobims Beitrag zur populären Musik bestand darin, brasilianische Folk-Rhythmen mit Cool-Jazz-Harmonien zu verbinden.

Was außerhalb Brasiliens nur eine vorübergehende Modeerscheinung war (auf die der Pop in seinen zyklischen Jazz-Revivals“ alle zehn Jahre einmal zurückkommt), wurde in Jobims Heimatland zur bleibenden Basis („Bossa Nova war eine Revolution des guten Geschmacks“, meint Arto Lindsay.) Jazz/Rock-Gitarrist Pat Matheny machte sich vor drei Jahren auf nach Brasilien und schwärmt seitdem von der Musik des Landes. „Ich war schon als kleines Kind ein Bossa-Nova-Fan“, sagt er. „Genauer gesagt, seit dem Zeitpunkt, als ich mich in Astrud Gilberto verliebte, da war ich sieben. Und als ich schließlich in Brasilien spielte, 1980, wußte ich, das ist der Ort, nach dem ich mein ganzes Leben gesucht habe. Auf die Straße zu gehen, zu sehen, wie die Leute sich bewegen, wie ihr Leben von Rhythmus bestimmt wird, schon allein das ist ein ständiger Einfluß für mich.

Brasilien ist wahrscheinlich das einzige Land der Well, wo Popmusik mit wirklich raffinierten Harmonien gemacht wird. Unsere harmonische Palette ist während der letzten 25 Jahre Rock ’n‘ Roll immer uninteressanter geworden. Nicht wie in Brasilien, wo man irgendwas völlig Abgedrehtes im Radio hört, und das ist dann gerade die Nummer eins der Hitparade.“

Während der Siebziger, als sich Rock immer mehr in eine selbstgewählte Isolation begab, waren es die Jazz-Musiker, die die musikalische Entwicklung Brasiliens im Auge behielten, und oft ließ sich nur schwer feststellen, wer nun eigentlich wen beeinflußte. Miles Davis zum Beispiel, dem Trend immer eine Nasenlänge voraus, heftete sich an die Spuren des brasilianischen Avantgarde-Komponisten und Arrangeurs Hermeto Pascoal. Ergebnis war die Zusammenarbeit auf Miles‘ Album LIVE/EVIL. Pascoal reagiert ziemlich eingeschnappt, wenn man ihn heute darauf anspricht: „Die Leute denken, ich hätte für ihn gearbeitet, aber es war genau umgekehrt. Die Amerikaner glauben, sie wären die Herrscher der Welt. Für die Politik mag das vielleicht gelten, aber musikalisch sind sie schon längst gestorben. Miles macht heute schreckliche Musik! Lateinamerika steht an der Spitze der Weltmusik, und die US-Amerikaner rangieren irgendwo unter ferner liefen. „

Wie auch immer, auf jeden Fall kehrte Miles mit Pascoals Percussionisten Airto Moreira im Schlepptau in die USA zurück und löste damit einen wichtigen Jazz-Trend aus. Bandleader wie Keith Jarrett und McCoy Tyner rüsteten ihre Gruppen ebenfalls mit brasilianischer Percussion auf. Airto wurde zum erfolgreichen Pendler zwischen Chick Coreas Return To Forever (die ganz zu Anfang fast wie eine Samba-Band klangen) und Weather Report. 1974 heuerte Carlos Santana Airto und seine Frau Flora Purim für das Album BORBOLETTA an. Weather Report beschäftigte über anderthalb Jahrzehnte eine ganze Armada brasilianischer Super-Drummer.

Der individuellste südamerikanische Percussionist ist vielleicht Nana Vasconcelos, der auf vielen brasilianischen Aufnahmen Nascimentos spielte. Er lernte sein Handwerk in den Straßen von Recife, spielte dann in Symphonie-Orchestern und tauchte schließlich im Dschungel unter, um bei den Shingu-Indianern zu leben und von ihnen zu lernen. Die Sounds, die er von dort mitbrachte, waren allerorten sehr begehrt – für ein Maximum an geheimnisvoller Exotik ist immer Nana zuständig.

Verwunderlich ist nur, daß Peter Gabriel – der andere emsige Ethno-Tourist – in Sachen Südamerika nicht so recht von der Stelle kommen will und außer dem Album des kubanischen Orquesta Reve, das auf seinem Label Real World erschienen ist, nichts zu bieten hat. Mr. Gabriel scheint den lateinamerikanischen Markt der Konkurrenz zu überlassen und widmet sich dafür lieber etwas näher gelegenen, zumindest Latino-ähnlichen Gefilden. Wie man hört, wird er demnächst eine einstündige Fernsehsendung über spanische Flamenco-Musik (Titel „Magic Flamenco“) moderieren, die im Frühjahr auch auf deutschen Bildschirmen erscheinen soll, und beschäftigt sich mit der Frage, wie er wild geschrubbte akustische Gitarren und klappernde Kastagnetten in seiner Musik unterbringen kann. „Ich möchte wissen“, sagt Peter, „was dabei herauskommt, wenn man Rock und Flamenco verbindet. „

Sagt also nicht, man hätte Euch nicht gewarnt.