Extrem verantwortlich


Gallows wollen ihre Popularität nutzen, um uns was mitzuteilen. Die Anzahl ihrer Tattoos ist da erst mal zweitrangig.

„Die haben es nicht verstanden.“ Frank Carter ärgert sich immer noch. „Die standen da vor der Bühne und wunderten sich, warum diese Kids aus England so wütend sind, wo doch die Sonne so schön scheint.“

Auch wenn Carters Band Gallows in den USA beim angesehenen Punk-Label Epitaph unter Vertrag ist, zumindest ihre erste USA-Konzertreise im Rahmen der „Vans Warped Tour“ 2007 hat sich für die Briten nicht so sehr gelohnt:

„Wir haben uns fast jeden Tag mit irgendwem geprügelt. Was die meisten Bands da gespielt haben, war vielleicht laut und schnell, hatte mit Punk aber null zu tun. Das waren alles verdammte Hippies. „Gallows sitzen zwischen den Stühlen. Kein Pop-Punk der Good-Charlotte- oder Fall-Out-Boy-Bauart, kein Metalcore. Stattdessen Musik, die es eigentlich gar nicht mehr gibt, nämlich klassischer Hardcore mit leichter Streetpunk-Kante, die sich vor allem optisch manifestiert. Carter sieht aus, als hätte auf ihm eine Tattoo-Convention stattgefunden, ist aber unverschämt smart gekleidet. Dass vor der Veröffentlichung des Gallows-Debüts ORCHESTRA OF WOLVES 2006 nicht nur ein Major-Label mit einem üppigen Vertrag – kolporiert wird eine Million Pfund – bei der Band anklopfte, sondern auch die britische Mainstream-Poppresse mit den Füßen scharrte, lag laut Carter vornehmlich an diesen optischen Codes. Und an den extrem energetischen Live-Auftritten der Band aus der Kleinstadt Hemel Hempstead nördlich von London.“VWr spielen Hardcore, wie man ihn spielen sollte: blutig und verschwitzt“, sagt Carter und analysiert dann messerscharf, was seiner Meinung nach die herrschende Medien-Relevanz seiner Band vor allem ausmacht: „Niemand beim NME weiß wirklich, was das ist: Hardcore. Keiner von denen geht auf Punk-Konzerte. Und dann sehen die plötzlich uns. Wir sind laut, energetisch, ein Spektakel, das auch über die Optik funktioniert. Das ist es, was sie so aus dem Häuschen bringt. Unsere Musik ist für die meisten Journalisten wohl kaum interessant.“

Hardcore als visuelles Lifestyle-Accessoire? Ist das nicht etwas, das der Szene den Garaus machen könnte? Carter lacht und winkt ab. „Es gibt keine Hardcore-Sze?ie in England. Sicher, einpaar Bands sind wahnsinnig gut, aber eigentlich ist es ein inzestiöser Haujen. Wenn wir also jetzt den Niedergang beschleunigen – ich kann nicht sagen, dass das mir leidtäte.“

Aut ihrem zweiten Album GREY BRITAIN gehen Gallows die Dinge etwas anders an als auf dem Debüt. Die Lieder sind länger geworden, breiter, dampfwalziger. Gegen Albummittc tauchen Streicher auf, es dominiert ein allgemeiner Duktus, den man „apokalyptisch“ nennen darf und der wohl auch als Abrechnung mit Tony Blair und New Labour verstanden werden kann. “ Wir sind sicher keine politische Band“, sagt Frank Carter. „Aber es wäre extrem unverantwortlich, wenn wir die Popularität, die wir momentan genießen, nicht nutzen würden, um den Menschen etwas mitzuteilen. Die Umwelt geht vor die Hunde. Wir leben in einer Rezession. Und egal, was Politiker sagen: Es wird noch viel schlimmer werden. Darüber sollten wir reden — nicht über unsere Tattoos oder was wir auf der Bühne machen. Jetzt ist der Punkt, an dem die Leute entscheiden müssen, ob wir nur ein stylisches Hype-Ding sind oder eine Band mit Substanz.“

Albumkritik S. 91

www.gallows.co.uk