Interview

Feist im Interview: „Meine Songs sind Teile einer Frage“


Die Kanadierin im Interview über das Finden der Schönheit im Unklaren, über das Positive an der Leere und warum MULTITUDES auch eine egoistische Angelegenheit ist.

Sechs Jahre sind seit ihrer Platte PLEASURE vergangen. Die kanadische Künstlerin musste erst einmal gehörig Anlauf nehmen, um wieder neue Freude in diesen Wahnsinnszeiten zu finden. Denn mitten in der Pandemie fühlte sich Leslie Feist unfassbar isoliert – gerade als zum einen ihr Vater starb und sie sich zum anderen ihrem eigenen, kleinen Kind widmen musste. Alles änderte sich und gleichzeitig hatte die Sängerin und Gitarristin das Gefühl, dass während dieses weltweiten Ausnahmezustands doch auch jeder andere Mensch Dinge erlebt und mit Emotionen zu kämpfen hat, die einander gleichen. We contain multitudes – und Feist hat gleich ein ganzes Album daraus gemacht.

Doch bevor wir im Zoom-Interview auf ihre sechste Platte MULTITUDES zu sprechen kommen, müssen wir erst einmal über das Offensichtliche reden. Über Pflanzen. Denn die Musikerin, die früher einmal Mitglied der Band Broken Social Scene war, sitzt vor einem fast kahlen Hintergrund. Lediglich ein Bild ziert die sonst weiße Wand, wohingegen auf der Seite der Interviewerin Efeututen und Monstera den Raum einnehmen …

Feist: Das ist ja ein Gewächshaus bei dir, wie schön! Mit dem ganzen Grün um sich herum, kommt man auch gut durch die kalten Monate.

MUSIKEXPRESS: Hoffentlich. Meine Sorge ist immer, dass sie den Winter nicht überstehen und es nachher noch wie bei dir aussieht.

Feist: (lacht) Also für mich sehen die Pflanzen alle sehr gesund aus. Und eigentlich bin ich diejenige, die sich heimlich um traurig oder mickrig aussehende Gewächse kümmert, wenn ich sie bei Freund:innen zuhause entdecke.

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ME: Damit machst du dich natürlich richtig beliebt. Warum sehe ich bei dir dann so viel Weiß?

Feist: Warte, schau‘ mal hier, (nimmt den Laptop in die Hand und läuft durch ihr lichtdurchflutetes Zimmer in Los Angeles mit jeder Menge Pflanzen) da steht eine Pflanze, die mittlerweile viel zu groß fürs Haus ist und schon die Decke berührt. Und es gibt noch so einige mehr … (zeigt auf weitere riesige Gewächse, die eher Bäumen ähneln)

ME: Oh ha, diese „MTV Cribs“-Führung macht echt neidisch. Wie fühlt es sich sonst für dich in Los Angeles an?

Feist: Es ist irgendwie … easy hier.

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ME: Easy klingt gut. Und wie leicht fällt es dir im Hier und Jetzt zu leben?

Feist: Meine Wunsch-Herangehensweise an jeden Tag ist: nur im Hier und Jetzt zu sein. Doch es fällt mir schwer, weil ich immer sehr diffus werde, wenn ich eine Antwort suche. Dann mache ich das jenseits des unmittelbaren Raums oder des unmittelbaren Zusammenhangs. Alles wird dadurch undurchsichtiger und ich weiß nicht, wo ich meine Komfortzone finden und Antworten freilegen kann. Aber um dieses Schwammige zu überwinden, versuche ich nun ganz bewusst im Alltag innezuhalten, meine Füße auf dem Boden zu spüren, um mich im Anschluss umzusehen und mir zu sagen: In diesem Raum liegt die Antwort. Das ist wie ein Spiel. Diese Matrix, die mich umgibt und die ich mein Leben nenne, ist der Ort, an dem die Antwort liegt. Das ist der Ort, an dem ich Trost finde. Das hilft, um ein Bewusstsein dafür zu bekommen, dass selbst ein leerer Raum ein Fundament für etwas sein kann.

ME: Leere muss nichts Negatives sein, richtig? Sie kann die Basis für das Entwickeln eines Gefühls sein. Oder eines neuen Zuhauses. Oder eben von Kunst.

Feist: Wenn ich Tier-Dokus gucke, finde ich es wirklich rührend, wie darin gezeigt wird, was selbst kleinste Lebewesen erschaffen können. Zum Beispiel ein Kugelfisch, der so lange an Spiralen und Formen am Meeresboden arbeitet, bis aus dem Nichts ein perfektes Kunstwerk entsteht und er mit dieser Art von Skulptur Partnerinnen anlocken kann. Oder Laubenvögel, die nur so wie sie glänzende Dinge für den Nestbau sammeln. Mir hilft das, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass sich viele Tiere, wie auch wir Menschen, am liebsten mit etwas umgeben, was uns eine Verbindung zum Außen fühlen lässt und dennoch unsere eigene Ästhetik widerspiegelt. Es ist doch immer der Versuch dabei, in allem eine Schönheit hervorzuholen und sich selbst so schön fühlen zu lassen.

ME: Bekommst du das auch mit deiner eigenen Kunst hin – also hilft dir die Musik, die Schönheit der Dinge zu sehen?

Feist: Alben fertigzustellen, fühlt sich für mich an, als würde ich Brotkrumen im Wald hinterlassen, während ich immer tiefer hineinlaufe und mir dabei erlaube, mich im Dickicht zu verirren. Ich suche dort nach dem Vergangenen, das ich in Geschichten und schließlich in Songform festhalten kann, sodass ich mich weniger verloren zwischen den vielen Bäumen fühle. Es hat schon etwas von Alchemie, wenn ich an meine Art des Songschreibens denke. Und auch wenn es schwer zu erklären ist, finde ich immer wieder Leute, die mein Vokabular verstehen und mir bei der Fertigstellung eines Stückes so helfen, dass es fertig bekleidet existieren kann und größer wird als ich. Die Lieder werden dann sie selbst. Sie werden schön. Und das spendet mir Trost.

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ME: Um jetzt mal bewusst provokativ nachzufragen: Heißt das, dass du eine sehr egoistische Person bist, wenn du in allererster Linie dir selbst mit deinen Songs helfen willst?

Feist: Es ist schon lustig, dass du das fragst, weil ich darüber zuletzt auch viel nachgedacht habe. Wenn ich ein Album aufnehme, geschieht das mit so einer kleinen Gruppe. Wir sind dann eigenes Ökosystem, das zusammen die Luft der Stücke atmet. Und für mich ist es immer wieder der Wahnsinn, dass die Songs, die nach der Fertigstellung erst einmal als Files auf meinem Computer liegen, irgendwann bei Freund:innen auf der anderen Seite der Welt gehört werden. Und da komme ich ins Grübeln, ob es für uns im Inneren des Ökosystems okay war, allein diese Luft zu atmen. Hätten wir mehr Leute dazu holen sollen? War es sonst egoistisch? Wahrscheinlich schon. Wobei es keine Art von Egoismus ist, die anderen etwas wegnimmt. Es tut niemanden weh, wenn ich meine Brotkrumen verteile. Sie helfen mir schließlich, aufrecht gehen zu können. Musik hilft mir, mich selbst zu verstehen und meine Eigenwilligkeit einzuordnen. Und wenn Leuten Mittel an die Hand gegeben werden, um ihre Einzigartigkeit zu erkennen, dann sollte man sie ergreifen. Denn dann kann ein Song ein Beitrag fürs Kollektiv sein. Wir brauchen doch unabhängige Gedanken, um uns so als Gemeinschaft fühlen zu können. Kultur zeigt uns, dass es viele Perspektiven und Deutungsmöglichkeiten gibt. Nichts ist Schwarz und Weiß. Nichts ist nur Richtig oder Falsch. Bei allem sind wir trotzdem Teil eines Mosaiks.

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ME: So sehr diese Vorstellung Sinn ergibt, so stressig erscheint sie mir in mancherlei Hinsicht. Weil die Struktur fehlt, die auch mal dabei unterstützen kann, Dinge einzuordnen. Es lässt meinen Alltag regelrecht aus den Fugen geraten, wenn morgen alles auf dem Kopf stehen könnte. Woran kann ich mich dann festhalten?

Feist: Es gab Zeiten, in denen ich ganz froh gewesen wäre, wenn ich nicht über das Chaos nachgedacht hätte, welches das Mosaik für mich und meine Umwelt bedeutet. Wenn ich mich nur damit beschäftigt hätte, was gerade ansteht. Doch dann bin ich Mutter geworden und habe gleichzeitig einen Elternteil verloren. Da war es schier unmöglich, meine vielen, sich widersprechenden Eigenarten zu ignorieren. Ich musste mir mit mehr Sanftheit begegnen und keine Strukturen auferlegen, nur weil man Sachen so oder so nun mal macht. Aber als ich kürzlich eine Kehlkopfentzündung hatte, merkte ich erst, wie sehr ich an Worten als festen Strukturteil in meinem Leben festhalte. Sie machen mir so viel Freude und haben dabei noch eine irre Macht. Und mit einem Mal durfte ich nicht sprechen und ungefähr 95 Prozent meiner Gedanken verließen nicht meinen Kopf. Sonst nutze ich das Sprechen als Verdichten meiner Gedanken – und in der Zeit kamen einzelne Gedankengänge hoch wie Wellen und mussten dann wieder zurückschwappen. Das entspannte mich irgendwann sehr, weil ich mich nicht mehr für jeden einzelnen so verantwortlich fühlte und ihn in einen logischen Ausdruck pressen musste. Ich verstand, dass ich in den Worten eine Art bequemes System gefunden hatte, von dem ich mich nun aber auch mal lösen und dabei sogar etwas Neues über mich lernen konnte.

ME: Ich bekomme gerade einen fantastischen Einblick, wie dein Kopf so funktioniert. Und dazu bist du auch noch eine Storytellerin, die weiß, wie man etwas so erzählt, dass alle im Raum ein Bild vor Augen haben und die Geschichte greifbar erscheint. Fällt dir das so leicht wie es auf mich wirkt? Kannst du mich da bitte kurz mitnehmen?

Feist: Da das Album jetzt final vor einem liegt, wirkt es so intakt. Es legt die Vermutung nahe, dass es sich um ein Werk handelt, dessen ich mir absolut sicher war. Sonst würde ich es nicht in die Welt hinauswerfen, oder? Aber mit der Veröffentlichung kehrt auch eine seltsame Art der Trauer wieder. Mir zeigt die Platte, wie tief mich die Trauer eingesaugt hatte in den vergangenen zwei, drei Jahren. Dass ich Teile von mir selbst regelrecht verbrannt habe, an denen ich vorher sehr hing. Einfach weil ich das als Mutter, die zugleich ihren Vater verloren hatte, so machen musste. Es ist ein unmögliches Paradoxon, dass ich gerade mein Herz ganz offen für die Liebe zu meinem Kind zeigte, und genau dann meine Stütze, mein Vater, verstarb. Das Songwriting kenne ich nun mal als Möglichkeit des Problemlösens. Durch Schwierigkeiten hindurchschreiben. Aber trotzdem höre ich die Stücke nun und weiß, dass nicht alle Probleme geklärt sind. Ich wache morgens immer noch mit dem Gefühl auf, nicht zu wissen, wie ich meinen Tag bewältigen soll oder wie ich meiner Tochter beim Wachsen helfe. Ich will ihr klarmachen, dass ihre Stärke etwas Gutes ist. Denn sie ist sehr stark. Gleichzeitig möchte ich, dass sie Verantwortung dafür übernimmt, aber auch Sanftheit und Mitgefühl bei sich zulässt. Wenn ich also damit zu tun habe, ihr beizubringen, ein Mensch zu sein, während ich selbst noch komplett im Lernprozess hängenbleibe, dann gebe ich auch keine klaren Antworten in meinen Songs. Dann sieht es nur leicht aus. Aber ich möchte die Lieder auch noch mit 75 Jahren singen und aus ihnen etwas Neues lernen können. Ich sehe meine Songs als Teil einer Frage.

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ME: Das bringt mich auf die deutsche Band Die Sterne, die in ihrem Song „Aber andererseits“ erklärt: „Es geht mir wirklich schlecht. Obwohl, wenn es mir so richtig schlecht geht, das geb‘ ich zu, dann red‘ ich nicht so viel darüber.“

Feist: Ich kriege gerade richtig Gänsehaut. Das ist cool. Und auch wahr für mich. Wenn ich an einem Tiefpunkt angelangt bin, kann ich nicht mehr an meinen Computer gehen und etwas schreiben oder sonst irgendwie kreativ sein.

ME: Und dann – wie lockst du dich wieder zurück?

Feist: Meine Herangehensweise ans Schreiben war immer eine sehr einsame Sache. Manchmal grub ich mir ein Loch noch tiefer, um etwas zu finden, was mich wieder herausholen könnte. Ich machte es also zunächst eher schlimmer als besser. Aber mit dem neuen Album habe ich mich aus der Isolation rausbewegt, weil mich meine Freund:innen auf „Song A Day“ gebracht haben. Schon seit Jahren gibt es diese Art Spiel, bei dem sieben Tage lang jeden Tag ein neues Stück entstehen muss. Beck, Mac DeMarco, Adrianne Lenker und Sylvan Esso nahmen mit mir daran teil – also Musiker:innen, die ich respektiere und die mich einschüchtern. Das hatte so einen positiven Druck für mich. Wir alle mussten morgens pünktlich nach New Yorker Zeit unser Werk des Vortages präsentieren. Manche holten Lieder heraus, die schon richtig fertig und rund klangen und die sie in ihrem Heimstudio aufgenommen hatten, andere – mich mit inbegriffen – lieferten Songs ab, die sie einzig mit Gitarre auf ihrem Diktiergerät festgehalten hatten. Egal, in welchem Stadium sich der Track befand – man wollte ihn abgeben, damit man nicht disqualifiziert wurde und das eigene Stück in einem Soundcloudlink mit den anderen zusammengefasst wurde. Manche Künstler:innen befanden sich zu der Zeit in Australien, Island und Europa und mussten für das Projekt teils die Nächte durcharbeiten. Dieses Gefühl einer klaren Deadline, der man aber in der Gemeinschaft entgegenarbeitet, hat mich bestärkt. Und ich hatte wie früher in der Schule Angst, dass ich durchfalle, wenn ich nichts vorzuweisen habe. Letztlich entstanden fasst alle Lieder von MULTITUDES in der Zeit des Spiels. Natürlich war es am Ende mehr als nur ein Spiel. „Song A Day“ funktionierte perfekt, um mit dem Nachdenken aufzuhören und einfach etwas zustande zu bekommen. Ich drehte mich nicht mehr ewig um mich selbst, sondern fischte direkt in mir, um da etwas hervorzuholen, was ich in einem Song verarbeiten konnte. Der Druck lockte mich also wieder zurück zum Computer.

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ME: Druck ist ein passendes Stichwort, gerade weil uns die Interview-Zeit davonrennt. Noch eine letzte Frage zu deinem Gefühl zu Konzert versus Album: Welches Medium gibt dich ungefilterter wieder, was meinst du?

Feist: Ich würde sagen, ein Konzert. Alle Stücke der neuen Platte waren zuerst mit mir auf Tour, erprobten sich dort, bevor sie ihren Platz auf dem Album fanden. Es war jedoch schon eine ambitionierte Angelegenheit, weil sich die Stücke in Workshops und im kleinen Team immer weiter veränderten und sich dann direkt vor Publikum behaupten mussten. Es fühlte sich radikal an, auf diese Weise wieder mit der Welt in Verbindung zu treten. Aber diese Zeit zeigte mir auch, dass wir alle erst einen neuen Zugang zum Draußen ertasten mussten. Dass wir aufgrund der Pandemie allesamt etwas verloren hatten und jetzt mit neuer Perspektive auf die Dinge um uns herum schauten. Für mich waren die Konzertabende echte Höhepunkte, weil mich der Austausch mit dem Publikum aus meiner Introspektion herausrüttelte. Die Intimität dieser Shows möchte ich auch in Zukunft bei meinen Tourneen ermöglichen. Konzerte sind für mich der Ort, an dem sich die Songs weiterentwickeln können. Sie sind meine fortlaufende Übungsplattform.

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