Gedanken zum Gegenwärtig*innen

Hail To The Thief: Wie Boygenius Nirvana kopieren und was ChatGPT damit zu tun hat


Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert? Und wie und warum hängt das alles zusammen? Hier Folge 26, in der Julia Friese erklärt, was genau sich hinter ChatGPT verbirgt.

Drei Beobachtungen:

1. ai, ai, ai (artifcial intelligence / künstliche intelligenz)

In Filmen, wie dem mehrfach ausgezeichneten „Close“ von Lukas Dhont über eine Freundschaft zwischen zwei Jungen, die zu zart war, als dass die gesellschaftskonform verhärteten Jungs in der Schule sie hätten tolerieren können, sieht man Veränderungen kommen. Überdeutlich, groß. Im wahren Leben gehen Veränderungen mit subtileren Konsequenzen einher, es dauert, bis sich ihr Ausmaß zeigt.

AI Song Contest: Der Sound der Künstlichen Intelligenz

Diesen letzten Satz habe ich nicht geschrieben, nur leicht lektoriert, ChatGPT hat ihn geschrieben. Seit Monaten spielen wir online neugierig mit artifiziellen Intelligenzen. Wie junge Katzen, denen man ein wenig Alufolie gibt, rollten wir uns erst die grob verpixelten Bilder aus Dall-E-Mini zu, machten aus etlichen Fotos ein Lensa-AI-Selfie, und lasen dann noch im „Paris Review“ Sheila Hetis „Hello World“ – einen fünfteiligen, natürlich in existenziellen Fragen gipfelnden Dialog mit Eliza dem Chat-Bot. Mittlerweile steht uns der versiertere Bildgenerator Dall-E 2 offen, auf dessen zum Teil erschreckend realistischen Bildern haben Menschen zu viele Zähne und wissen nicht, wohin mit ihren Händen.

PR in Zeiten von Künstlicher Intelligenz: David Guetta reproduziert Eminems Stimme

ChatGPT ist die Sprach-AI, wie eine Suchmaschine, mit der man sich unterhalten kann. Sie antwortet so angenehm schnell, dass man nicht mehr weiß, warum man Freund:innen noch fragen soll, Fehler gibt sie auch zu. Unumwunden schreibt sie langweilige Songtexte zu Themen, über die man sich zuvor mit ihr unterhalten hat. Verlässt man einen Thread jedoch, erinnert sie sich beim nächsten Besuch an nichts. Hey ChatGPT, nenn’ mir zwei Romane, die die Ideen Jean Baudrillards verarbeiten!

2. „weißes rauschen“ von don delillo, „die versteigerung von no. 49“ von thomas pynchon

Als wir das letzte Mal mit etwas online spielten, das neu war, ohne absehen zu können, wie dieses „Neu“ unseren Alltag verändern würde, hießen die Dienste noch Knuddels und Chatcity. Wir waren berauscht davon, mit Fremden per Computer reden zu können. Nie hätten wir gedacht, dass das Online-Kommunizieren mit Fremden – ach was, Streiten! – bald schon das Allgegenwärtigste sein würde.

Eine Geschichte der Sitcoms: Die ikonischsten US-Comedy-Serien der 2000er-Jahre

Auf dem Streamingdienst Twitch läuft derweil eine AI generierte Pixel-Sitcom. „Nothing, Forever“ setzt sich unter anderem aus Seinfeld-Skripten zusammen. „Hast du jemals daran gedacht, dass das hier einfach nur ein Witz sein könnte?“, fragte darin AI-Elaine. „Ich meine, warum sind wir hier?“ – „Na, um Witze zu erzählen natürlich“, antwortete AI-George. Dieser Dialog wurde aus dem Englischen übersetzt, aber nicht von mir, sondern von DeepL – dem präzisesten Übersetzer der Welt. Der Laughing-Track setzt verspätet und blechern ein.

3. hail to the thief

AI existiert, weil Menschen Kopierwesen sind. Etwas gutes Neues erinnert immer an gutes Altes, ist nur an entscheidenden Stellen verfremdet. Boygenius lassen sich für ihr 2023er „Rolling Stone“-Cover ablichten wie Nirvana 1994. Die herben, blauen Nadelstreifenanzüge stehen ihnen, wie auch die Mimik, die Haare, alles wirkt wie ein Original. Drei weiblich gelesene Personen wollen deckungsgleich werden mit dem zumeist männlich gelesenen musikalischen Genie.

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Bereits 2018 saßen sie auf ihrer selbstbetitelten EP in der gleichen Formation auf der Couch, wie Crosby, Stills und Nash auf ihrem Debüt. Boygenius’ Debüt, THE RECORD (2023), hätten sie auch „The White Album“, „Beach Boys“ oder „In Rainbows“ nennen können, sagen sie im Interview. Wobei „In Rainbows“ als Titel natürlich die schönste Verschiebung gewesen wäre: Von etwas Altem, männlich Gelesenem, Heterosexuellem zu etwas weiblich Gelesenem, Lesbischem, per Kopie, die original scheint, aber den Kopiervorgang doch in sich trägt.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 04/2023.