Geil Praktiker


Die Praxis ist wieder eröffnet! Nach einer ambulanten Amputation ist das Berliner Trio DIE ÄRZTE zwar auf ein Duo geschrumpft, doch ihrem ärztlichen Schwur wollen Bela (l.) und Farin auch weiterhin treu bleiben: Sie sezieren die geheimnisvolle Welt des Teenagers mit all seinen sexuellen Dramen.

Berlin ist eine geteilte Stadt. Auch, was ihre Ärzte betrifft. Für die einen sind die drei Ulknudeln „das Schlimmste, was der Punkmusik passieren konnte“, für die anderen einfach „das lustigste Erlebnis, seit es Schokolade gibt“. Doch jetzt. und da sind sich diesmal alle einig, sind sie einer weniger. Denn Sahni. der Bassist, ist ausgestiegen. Gegröhle und Geheule, je nachdem, erfüllt die Stadt. Sind die Ärzte putt?

Noch nicht. Wahrscheinlich noch lange nicht.

Der Abgang war notwendig und erkennbar. Schon bei der letzten LP sah man lediglich den Schalten von Sahni im Studio. Körper und Geist hingegen grübelten lieber an der Uni über Betriebswirtschaftsthemen.

„Das war auch noch okay so“. meint Bela. „In unserer Dreieinigkeit war Sahni von Anfang an ,Money‘, während Farm der ‚Kopf‘ und ich der ‚Bauch‘ war. Sahni hat mich der ersten LP nur noch bei den Fotosessions live mitgewirkt. Doch nun hätten wir unsere Tourneepläne mit Rücksicht auf seine Semesterferien organisieren müssen. Das nervt. Und so haben wir uns gütlich geeinigt. „

Zu schade. Dabei waren die drei doch gerade dabei, die größte TeeniePopband aller Zeiten zu werden. Oder, so ähnlich.

„Bei Sahni hat das Sicherheitsdenken überwiegt. Er wollte mit den Ärzten ganz schnell ganz reich werden. Jetzt hat er erkannt, daß es ein wenig länger dauert, bis wir am Ziel sind.“

Musikalisch hinterläßt Sahni sicherlich keine Schnittwunde bei den Medizinern, aber beim Image und Outfit klafft ’ne große Lücke. Bela: „Unsere Fans sammeln schon überall Unterschriften, damit Sahni wieder mitmacht. Aber das wird nicht passieren‘. Auf der nächsten Tournee werden wir wahrscheinlich mit einem Bassisten und einem zusätzlichen Gitarristen als Backing-Band auftreten. „

Es geht also weiter mit den Ärzten. Die geronnene Sahne ist abgeschöpft und die dritte LP fertig. Und man höre und staune: Sie haben unter der glänzenden Regie von Spliffer Manne Praeker sogar gelernt, zu spielen und effektiv im Studio zu arbeiten. „Klar, wir wollen doch nicht als fröhliche Dilletanten in die Geschichte eingehen. Außerdem können wir, im Gegensatz zur SCHATTEN-LP, jetzt auch besser mit der ganzen Maschinerie im Studio umgehen. „

Bei so einer Aussage schwingt ungewohnte Einsicht und Selbstkritik mit. Vielleicht ist die von vielen Seiten geäußerte Kritik, sie seien zum peinlichen Abklatsch ihrer eigenen Ironie verkommen, doch nicht so spurlos an den selbstbewußten Großmäulern vorüber gegangen.

„Wir wollten damals noch etwas Dümmeres machen als die NDW; und das ist uns auch voll gelungen. Es wird aber jetzt Zeit, daß die Leute merken, daß wir es ernst meinen mit unserer Musik. Wir haben auf dieser Plane versucht, nicht jeden Text durch unsere bekannte Ironieschablone zu ziehen, also kopftechnisch zu bearbeiten. Jetzt ist vieles aus dem Bauch gekommen.“

Das macht aber nichts. Denn obwohl sie sich nun auch mit „ernsthaften“ Dingen beschäftigen, ist ihr fieser Witz keineswegs nach hinten weggekippt: Ausführlich beschäftigen sie sich bei „Geschwisterliebe“ mit Sandkasten-Inzest — und in der Vertonung des Pornocomics „Gwendolyne“ frönen sie ihren sexuellen Vorlieben wie Fesselsex und Peitschenbums.

„Bei ‚Gwendolyne‘ haben wir uns im Nachhinein selbst zensiert, weil einige fälschlicherweise annahmen, wir würden auf Vergewaltigung stehen.“

Trotz Zensur: Sie sind härter geworden, vor allen Dingen musikalisch. Einen schönen seichten und harmlosen Schlager wie „Zum ersten Mal“ zerfetzen sie mit einem Kettensägen-Massaker und powern und rocken auch sonst wie nie zuvor.

„Nachdem hier im Lande überall die von Amerika befohlene seichte Masche läuft und die Deutschrocker da stehengeblieben sind, wo sie vor 20 Jahren hingehört haben, muß man doch einfach mal so richtig losrocken. Manne Praeker, der im Studio den Baß schlug, hat uns da auch sehr schön unterstützt. „

Bei der Hammer-Disco-Nummer „Für immer“, auf der Farin Urlaub den Text seiner unsterblichen Liebe zu Marilyn Monroe widmet, hält auch Co-Spliffer Reinhold Heil mit seinen Tasten mit. Als größter Knaller zeigt sich allerdings ihre erste Coverversion, die sie bis jetzt nur zum Abschluß ihrer Konzerte gespielt haben, „um die Leute in Angst und Schrecken zu versetzen“.

Inhaltlich originalgetreu und in musikalischer Rohfassung gröhlen sie den Superschlager von Deutscher/Angelo „Jenseits von Eden“, der vor Jahren ganz Europa verrückt machte, auf die Giftmüll-Deponie deutscher Schlagergeschichte. „Nach ‚Marmor, Stein und Eisen bricht‘, diesem Grundstein, auf den niemand aufgebaut hat, ist ‚Jenseits von Eden‘ das Ding schlechthin, der ultimative Popsong, nach dem jede Band Zeit ihres Schaffens auf der Suche ist. Lind wenn wir schon ’ne großartige Band sind, dann können wir auch nur großartige Songs covern.“

Das hört man gern. Ich befürchtete nämlich schon, die Ärzte wären nach so viel Einsicht und Ernsthaftigkeit bescheiden geworden. Eine schreckliche Vorstellung. Doch auch ihr letztes Lied „Ich bin reich“ („ich bin schön, ich bin stark, ich bin grün, ich bin Jesus“) beweist das Gegenteil.

Bela: „Wenn das Stück ein Hit wird, höre ich auf zu trinken!“

Das muß nicht sein, denn die dritte LP ist auch mit diesem wohlkalkulierten Ausfall das musikalisch ausgefeilteste, die bestproduzierteste und abwechslungsreichste Album in ihrer kurzen Geschichte. Wem, außer Manne Praeker, aber haben sie das bloß zu verdanken!?

„Allen Leuten, die unser kulturelles Lehen beeinflußt haben, den Pornofilmern und grandiosen Darstellern, den ‚Hustler‘-Modellen, mit denen man automatisch konfrontiert wird, wenn man mit Manne zusammenarbeitet, und ganz besonders Eva.“

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„Eva ist eine von diesen Russ Meyer-Miezen. Nachdem wir Samantha Fox hinter dem Mischpult abgehängt und Eva aufgehängt haben, ging’s erst richtig los. Eva hat uns wirklich inspiriert.“

Deshalb also sind die Ärzte so bombastisch, hart und rockig geworden! Bei soviel Masse-Muse wird es bestimmt nicht überraschen, wenn die Ärzte nun. nachdem sie als eine der größten Teenie-Popband aller Zeiten angefangen haben, als einer der härtesten Rockbands des Jahrhunderts weitermachen.