Geiler is’schon…


Schnell noch einen letzten Blick durchs Schlüsselloch, bevor’s zu spät ist! Denn die Moralapostel aller Länder rüsten zum Kreuzzug gegen das Laster in dieser unserer Welt. Seien es „pornografische“ Texte, Plattencover oder Videos-in der Popmusik soll jetzt der große Besen fegen. ME/Sounds beobachtete die moralischen Müllmänner bei ihrem muffigen Manöver

„Sex in Rockvideos? Gibt’s doch gar nicht!“, ereifert sich Andreas Thiesmeyer, Produzent der beliebtesten deutschen Rocksendung „Formel Eins“. „Da sind doch in gewissen Illustrierten mehr nackte Mädchen zu sehen als in den Videos. Dort spielt sich doch nicht mehr ab, als daß sich Mädchen und Jungs kennenlernen. „

Thiesmeyer feiert gerade das Jubiläum seiner 100. Sendung. „Bisher haben wir noch keine Beschwerden wegen Sex gehabt, höchstens mal wegen Horror. Mit Michael Jacksons , Thriller’gab es Probleme. In Österreich lief das Video jeden Tag, aber bei uns fiel angeblich die Tochter eines Rundfunkrat-Mitgliedes in Ohnmacht. FGTH’s, Two Tribes‘ wurden beanstandet und die ,Wild Boys‘ von Duran Duran. Ansonsten leben wir seit einem Jahr in völliger Ruhe. Nur Hardcastles , 19′ war kritisch. Aber Clips wie ,lt ’s Raining Men‘ von den Weather Girls, das angeblich in den Staaten Ärger bekam, sind doch harmlos. Diese Art von Veräppelung der Sexualität gibt’s doch sogar im Ohnsorg-Theater“, feixt Thiesmeyer. Und: „Herr Sauer hat offensichtlich nicht genügend Videos gesehen, um das beurteilen zu können.“

Der Stuttgarter CDU-Abgeordnete Roland Sauer hatte kürzlich lautstark nach mehr Kontrolle über die Rockvideos gerufen, zeigte sich dann aber im Telefon-Interview nicht besonders sachkundig. Immerhin war die in den Staaten neu entfachte Diskussion über eine Zensur der Rockmusik sogar bis zu ihm durchgedrungen. Dort veranstalten nämlich gerade

zwei Elternvereinigungen, die PMRC (Parents Music Resource Centre) und die PTA (Parents/Teachers Association), ein Tauziehen mit der Plattenindustrie. Den nach Obszönitäten geradezu lechzenden Wachhunden ist der angeblich moralische Verfall der Rockmusik ein Dorn im Auge.

Deshalb fordern sie von den Plattenfirmen, daß künftig auf Schallplatten alle Texte abgedruckt werden und daß Platten mit mißliebigem Inhalt oder Hüllen spezielle Stickers erhalten. Das gilt für Produkte, deren Inhalt sexuell anstößig ist, sich im okkulten Bereich bewegt oder Alkohol- und Drogenmißbrauch verherrlicht.

A uch die entsprechenden Konzerte sollen künftig gekennzeichnet werden. Die Stadt San Diego machte in dieser Hinsicht einen Vorstoß: Ihre Stadtväter berieten darüber, wie man der drohenden Verrohung der Bevölkerung durch Rockkonzerte Einhalt gebieten könne.

Ein Teil des Startgeldes für die PMRC stammt von dem Beach Boy Mike Love; Verrat aus den eigenen Reihen also. Ganz zufällig sind einige der streitbaren PMRC-Dameh Ehefrauen von Mitgliedern des Senatsausschusses, der sich am 19. September mit dem Problem beschäftigte. Die Anhörung geriet zu einer Zirkusveranstaltung; man hatte nämlich Musiker wie Frank Zappa und Dee Snider zur Aussage eingeladen. Und die ließen die grauen Polit-Eminenzen wortgewandt abblitzen.

Dee Snider beispielsweise erschien in voller Twisted Sister-Montur und rührte die Anwesenden zu Tränen, als er erklärte, er sei ein christlicher Familienvater und von den Furien des PMRC verleumdet worden.

Die Senatoren ließen der Plattenindustrie nichtsdestotrotz ausrichten: „Entweder ihr beugt euch freiwillig den Forderungen nach einer Kennzeichnung, oder wir zwingen Euch dazu.“

Einen Erfolg haben die Moralschützer schon zu verbuchen: Die Plattenfirma Phonogram kann sich der Pioniertat rühmen, als Reaktion auf die brodelnde Diskussion das erste Album mit einem Sticker versehen zu haben: Es erwischte die neue LP der BarKays. Bisher haben sich erst acht Plattenfirmen in einer „Musical Majority“ zusammengefunden, um sich massiv gegen den Druck von oben zu wehren. Zu ihnen gehört Zappas Barking Pumpkin Label. Zappa, dessen Texte schon in den sechziger Jahren der Prüderie seiner Landsleute zum Opfer fielen, avancierte zu einer Art Wortführer der Opposition. Er wechselte kürzlich mit seinem Label vom MCA- zum Capitol-Vertrieb:

„MCA war schon dabei, das Dreifach-Album Thingfish zu pressen, das sich mit dem Thema AIDS beschäftigt, da hat sich so ein Frauchen in der Qualitätskontrolle über die Texte beschwert. Als nächstes weigerte sich ein christlicher Drukker, die Texte zu printen. „

Vor allem die Heavy Metal-Szene ist von dieser neuen Moralwelle betroffen. So beschwert sich Rudolf Schenker darüber, daß die Scorpions kaum im US-Rundfunk gespielt werden, obwohl sich die Fans die Tickets für die letzte US-Tournee buchstäblich gegenseitig aus den Händen rissen und auch die Platten drüben Bestseller sind.

Für Blacky Lawless, das Oberhaupt der HM-Horror-Band WASP, hat die Kontroverse letztlich gar noch einen reizvollen Aspekt. Er meint:

„ruck… immerhin haben wir mit Beginn der Diskussion gleich 50000 Alben mehr verkauft.“

Und Spencer Proffer, Produzent von Quiet Riot, beschwert sich über die doppelte Moral, die in der Diskussion gepflegt wird: „Sehr wenig Rocktexte verherrlichen Gewalt in dem Maße, wie das Fernsehsendungen zur Hauptsendezeit tun. „

„Im Übrigen“, sagt er, „könnte man dann ja auch gleich hergehen und Oldies wie , Rokky Racoon‘, .Maxwells Silver Hammer‘ und ,Why Don’t We Do It in The Road‘ mit Aufklebern versehen.“

T atsächhch wendet sichdie Streichwut der amerikanischen Tugendwächter auch gegen so harmlose Pseudo-Erotiker wie Madonna und Prince. Es behagt den frustrierten Hausfrauen in der PMRC gar nicht, wenn der lüsterne Prince in „Darling Nikki“ beschreibt, wie sich die Dame Nikki in der Empfangshalle eines Hotels mit einem Damenmagazin als Vorlage einen runterholt.

Jedem Medium seinen Verein: Gegen die Unbill auf dem amerikanischen Bildschirm hat sich natürlich auch schon eine Vereinigung zusammengerottet, die NCTV, National Coalition On Television Violence, in der u.a. der PR-Chef der Methodistenkirche sitzt. Die NCTV fordert, daß die Verderbung unschuldiger jugendlicher Früchtchen dadurch gemildert wird, daß zu bestimmten Tageszeiten nur artige Clips gezeigt werden. Dabei kommt keiner auf die Idee, den Eltern zu empfehlen, sich vielleicht einmal selbst mit ihren Sprößlingen zu beschäftigen, anstatt sie vor der Glotze abzuladen.

Die NCTV schlägt sogar vor, man solle spezielle Spots austrahlen, in denen auf die Gefahr von Gewalt-Fantasien hingewiesen wird.

Wenn die Moralapostel vom NCTV in die Kiste mit ihrem Erfahrungsschatz greifen, dann fördern sie gar Schlimmes zutage: Terri Nunn von „Berlin“ etwa richtet drohend ihr Feuerzeug auf einen Soldaten: und Joan Jett, dieses Luder, macht ein ganz böses Gesicht, während sie singt, und dann schlägt sich doch tatsächlich mit der Peitsche auf den Boden.

Ü berhaupt diese Frauen auch Pat Benatar sieht im Video zu „You Better Run“ gewalttätig und feindselig aus. Und Ted Nugent ergeht es in „Tied Up In Love“ ganz schlimm: Da läßt ein verruchtes Girl eine Tablette in sein Glas fallen; die Tablette haut ihn um, Hände greifen nach Nugent und ziehen ihn in ein Loch (diese Symbolik!). Eine Frau klaut ihm sein Gold. (Gewalt!) Dabei geht es in den amerikanischen Rockvideosendungen relativ harmlos zu. Wenn jeden Dienstag beim Super-Rocksender MTV vom zehnköpfigen Gremium entschieden wird, welches neu eingetroffene Video wie oft gezeigt wird, dann fallen von vornherein die Videos durch, die explodierende Köpfe, nackte Körper oder unschuldige Bierdosen ablichten.

Manchmal schnippeln die MTV-Macher auch selbt an Clips herum. Aus „Fire In The City“ von den Elvis Brothers wurde die Szene herausgeschnitten, in der eine Frau mit hochhackigen Schuhen über das Gesicht eines Mannes läuft. Das Video zu „Up The Creek“

von Cheap Trick gibt es in drei Versionen: einer mit ganz nackten Frauen, einer mit halbnackten Frauen und einer ganz züchtigen ohne nackte Frauen.

V iele Fernsehstationen zeigen Heavy Metal-Clips erst nach 18.00 Uhr. Linda Rosenfeld vom „Video 22“ in Los Angeles schmeißt die Streifen dann raus, wenn sie anstößige Wörter enthalten oder sich wie George Thorogoods „I Drink Alone“ mit dem Trinken beschäftigen. Aber auch Bryan Ferrys „Don’t Stop To Dance“ flimmert bei ihr nicht über den Äther, weil Nacktes gezeigt wird. Sandra Bernhards „Everybody’s Young“ und sogar Barbra Streisands „Left In The Dark“ eckten ebenfalls an.

Europa scheint bisher von dem Eingriff in die künstlerische Bewegungsfreiheit der Rockmusik weitgehend verschont zu bleiben. Die Vorstellung, daß sich ein Italiener etwa durch einen Sticker davon abhalten läßt, eine Platte zu kaufen, wirkt eher erheiternd.

In Deutschland wacht über die Konsumgewohnheiten der Jugendlichen die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in Bonn. Sie schreitet auf Antrag der Jugendämter ein. Der Vorsitzende Rudolf Stefen bedauert allerdings, daß sich die Jugendämter bisher kaum rührten. Platten wurden bisher nur beanstandet, wenn die Cover Motive mit Horrorfilm-Thematik aufwiesen.

Erschreckend aber ist es doch, daß gerade in Deutschland, wo die kulturelle Zensur eine besondere Geschichte hat, just von der älteren Generation nach mehr Kontrolle verlangt wird. „Das Video zum Hitler-Rap ,To Be Or Not To Be in dem Mel Brooks in Hitlerverkleidung davon erzählt, wie ein Verrückter Deutschland fertigmacht, wurde hier natürlich prompt als Verherrlichung des Nazi-Regimes mißverstanden“, erzählt Andreas Thiesmeyer. Der Clip mußte aus dem Programm gestrichen werden.

Der Produzent hält im übrigen eine Zensur, wie sie in den Staaten angestrebt wird, für lächerlich: „Da werden sich einige Gruppen extra einen Sticker auf ihr Album kleben, damit sie es besser verkaufen!“