Grateful Dead – Die Legende lebt weiter


Die große Zeit von San Franzisko ist vorüber, die Hippies verschwunden und die meisten der Bands, die den Sound dieser Stadt schufen und verbreiteten, ebenso. Nur GratefulDead, die Freakband, die konsequenteste und experimentierfreudigste unter ihnen, ist geblieben. Während Jefferson Airplane sich in der soundsovielten Besetzung immer mal wieder aufrafft, Quicksilver sich gerade erneut zu einem Comeback entschlossen haben und Country Joe (ohne seine „Fische“) verbittert allein durchs Land zieht, ist die Dead-Family nach wie vor die Band, die das Frisco-Banner hochhält – sehr hoch hält. Aber auch sie haben Erfahrungen hinter sich, haben gelernt und sich verändert…

Durch ihre Konzerte und den Slogan: „There Is Nothing Like A Gratetul Dead roncert“ wurde die Band ebenso becannt wie legendär. Jahrelang zählten die mit den Stones, den Who und den Allman Brothers zu DEN Live-Attrakionen der Rockgeschichte. Im Schnitt lauerten Dead-Auftritte zwischen fünf jnd sieben Stunden, und die Musik wurie über ihre unvergleichliche Live-Anage in Hi-Fi-Qualität wiedergegeben. Die waren immer die kommunikativsten und um das Wohl ihrer Fans und Anhänger besorgt. Und jetzt hört man plötzlich, daß sie sich nunmehr eher als Studiogruppe sehen und ihre Konzerte immer seltener werden.

Nur wenige Konzerte

Nur wenige Konzerte Ende letzten Jahres kündigten sie eine mindestens einjährige Bühnenabstinenz an, und von ein paar Ausnahmen abgesehen, hielten sie sieh daran. Aber inzwischen sind keinerlei Pläne für eine neue Tour publik geworden. Die einzelnen Mitglieder der Family haben sich in der Zwischenzeit in solch zahlreiche Einzelaktivitäten gestürzt und verstrickt, daß es einen nicht wundern würde, wenn es künftig bei höchstens zehn Konzerten im Jahr bleiben würde.

Jerry, der Vielseitige

Ein Grund mehr vielleicht für Jerry Garria, seines Zeichens Chefideologe Leadgitarrist und Sprecher der Band, sich neuen Interessen zu widmen, um seine immensen Energien umsetzen zu können. Die Platten und Gruppen, die in den letzten Monaten unter anderem seinen Namen aufwiesen, sind ebenso zahlreich wie vielseitig. Mit seinem alten Freund, dem Organisten Merl Saunders, spielt er bereits seit Jahren Session-Platten e.in. Inzwischen sind es mindestens fünf. Mit Merl, Ron Tutt, dem Ex-Elvis-Drummer und dem Bassisten John Kahn, der übrigens Jerry’s zweites Soloalbum produzierte, existierte zeitweise sogar eine aktive, funktionierende Band, die sich Leeion Of Marv

Die Jerry Garcia Band

Daneben spielt er öfter Bluegrass-Musik, die ursprünglichste Country & Western-Musik, die es gibt, mit Leuten wie z.B. Vassar Clements oder Peter Rowan unter dem Namen „Old And In The Way“ und selbstverständlich fehlt er auch nicht auf deren Erstlingswerk. Seine neueste Kreation allerdings nennt sich schlicht und ergreifend: Jerry Garcia Band. Seine alten Kumpel John und Ron sind dabei und Keyboard-As Nicky Hopkins, der ja bekanntlich von Quicksilver angefangen bis zu den Rolling Stones schon überall mitmischte. Diese Band scheint für Garcias Verhältnisse erstmals etwas seriöser zu sein, denn sie tourt derzeit zwei Monate an der US-Ostküste, worauf vielleicht gar ein Album folgen wird . ..

Jeder versucht es allein

Weir’s Kingfish

Diese anderweitigen Aktivitäten machen es der Family nicht immer leicht, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Wohl oder übel mußten (und wollten sicherlich auch) die restlichen Deads nicht hinter Jerry zurückstehen. Jeder einzelne ist ein ausgereifter, sensibler Musiker, und es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht ebenfalls im Alleingang etwas auf die Beine bringen würden. Das bewiesen sie in den letzten Monaten denn auch ausgiebig. Fast alle von ihnen brachten Solo-Produktionen auf den Markt. Bis auf Phil Lesh, den fantastischen und einmaligen Bassisten, der sich momentan mehr mit elektronischer Musik auseinandersetzt und dem Drummer Bill Kreutzmann, der als cern Besehener und beliebter Sessionmann in und um San Franzisko alle Hände voll zu tun hat und sich dabei wohl fühlt.

Bob Weir hat offenbar seine Liebe zu alten Rocknummern entdeckt, denn vor einiger Zeit verkündete er noch, daß er bis auf Rockmusik so ziemlich alles anhören würde. Seine neue Truppe Kingfish, in der er mit einem weiteren Gitarristen, einem Drummer und dem New Riders Of Purple Sage-Bassisten Dave Torbert zusammenspielt, huldigt den alten Rockern denn auch in ausreichendem Maße. Das Debüt von Bob’s Gruppe fand Anfang März dieses Jahres statt, und seitdem wird sie bei jedem Konzert stürmisch gefeiert. Nebenbei bemerkt, dominiert Weir’s Gitarrenspiel bei den Dead heute ebenso wie das von Garcia. Die reine Rhythmusfunktion früherer Zeiten hat er hinter sich – nunmehr steht er gleichberechtigt neben dem „Captain“.

Keith und Donna

Die zuletzt engagierten Dead-Musiker, Keith Godchaux, der Organist, und seine Frau Donna eine gospelverwandte Soulstimme, besitzen ebenfalls seit geraumer Zeit ihr eigenes Spielzeug: Sie nennen es einfach Keith and Donna, und genauso einfach ist ihre Musik, der Blues. Ihre erste gemeinsame LP spielten sie schon letztes Jahr auf dem Famüy-eigenen Round Records-Label ein, und die Platte bekam durchweg begeisterte Kritiken. Mickey Hart’s Plattenerstling (Rolling Thunder) erschien zwar bereits 1972, wurde aber in ähnlicher Weise begrüßt und aufgenommen. So hat also jeder mit sich selbst zu tun. derweil das Dead-Projekt ruht . . . Die Band könnte somit erstmals als eine Art musikalischer Interessengemeinschaft angesehen werden, deren Aktivitäten man ebenso gemeinsam wie getrennt beurteilen kann – und sollte.

Die Dead-Familie

Die Musik der Grateful Dead war von jeher einmalig. Ebenso einmalig wie ihre Funktion als Großfamilie. Als erste Rockband versuchten sie mit einem über 40 Mann starken Troß, eine selbständige, soziale Gemeinschaft zu bilden, die, wie man heute weiß, auch die meiste Zeit funktionierte. Es gibt bei ihnen niemanden der Befehle erteilt oder für andere Pläne schmiedet. Einzig und allein die Gemeinschaft als Ganzes zählt, und Entscheidungen werden nur im Kollektiv getroffen. So kam es, daß mit den Tagen jeder einzelne Roadmanager ebenso wichtig fürs Funktionieren des ganzen Apparates war, wie Garcia, der Oberguru und Gitarrengott des Frisco-Sounds. Jeder trug seinen Teil zum Gelingen bei, und jedes Rädchen war wichtig.

Gegen Veränderungen gewappnet

Selbst all die sozialen und personellen Wechsel der letzten Jahre konnte ihnen, ihren Ideen und ihrer Musik nichts anhaben. Dank des tiefen Gemeinschaftsgefühls und der langjährigen Gruppenexperimente waren sie ein so verschworener und geschlossener Haufen geworden, daß sie ohne die geringsten Schwierigkeiten mit den härtesten Veränderungen und Bedingungen fertig wurden. Aber das war nur der Anfang, sie planten weiter . . . Und einer der ersten Angriffspunkte bildete für sie die Abhängigkeit von der Plattenindustrie. Dieses Ziel der totalen Freiheit hatten sie schon lange im Auge, und eine eigene Firma stand ebenso lange auf der Tagesordnung. Konsequent wie sie immer waren, gründeten sie also Mitte ’73 nach langwierigen Vorbereitungen, ihre eigene Plattenfirma: Grateful Dead-Records.

Grateful Dead-Records

Der gravierendste Unterschied /u den meisten anderen kleinen Firmen und Band-eigenen Betrieben besteht darin, daß die Dead nicht nur ihre LP’s aufnehmen und das Cover dafür selbst entwerfen und drucken, sondern daß sie zusätzlich die Pressung der Platten im Werk überwachen, das Rohmaterial (Vinyl) prüfen und ihre Scheiben bis vor kurzem selbst vertrieben haben. Und besonders das Vertriebssystcm suchte seinesgleichen: Unabhängige Zwischenhändler vertrieben die Platten an den Großhandel und an einzelne Plaltenläden. Selbst die Dead-Heads, die innieda einschalten. Somit erhielt lange Zeit kein Schallplatten-Gigant die Möglichkeit, seine Finger in die Sache zu stecken. Die Dead hatten sämtliche Fäden in der Hand und besaßen jede nur denkbare Kontrolle über ihre Produkte.

Sonstige Dead-Firmen

Neben Grateful Dead-Records existiert noch die Schwesterfirma Rotind-Records, unter deren Etikett die einzelnen Mitglieder ihren Solo-Ambitionen nachgehen können. Garcia machte mit seiner zweiten Platte den Anfang, Mickey folgte und Bob mit „Ace“. Selbst Robert Hunter, der Textschreiber der Gruppe, brachte hier zwei Solo-LPs heraus („Tales Of The Great Rum Runners“ und „Tiger Rose“). Aber nicht nur Schallplaiten werden selbständig in Angriff genommen. Daneben besitzt die Family eine eigene Reisegesellschaft Namens „Fly By Night Travel“, die sich um Flug, Hotel, Restaurants usw. kümmert und die Konzertagentur „Out Of Town Tours“, die die Konzerte für die Dead und die befreundeten New Riders Of Purple Sage besorgt und überuacht.

Zukunftsweisend (?)

Alles in allem ein avantgardistisches Unternehmen, das im Zusammenhang mit der sozialen Struktur der Family gesehen, sieh als ein erfolgversprechendes Zukunftsprojekt weit ab der verträumt-romanischen Hinaus-aufs-Land-Bewegung und revolutionärer Weltverbesserungs-Theorien erweist und oft genug seine Funktionalität unter Beweis gestellt hat. Zumindest funktionierte es lange Zeit. Nun aber scheint es Schwierigkeiten gegeben zu haben. Nicht umsonst unterschrieb Grateful Dead-Records kürzlich uieder einen Vertrag mit United Artists, der UA als Vertriebsfirma der Deadplatten vorsieht. Und vermutlich werden die einzigartigen Konzerte der Band nicht ohne Grund seltener und seltener. Haben sich die Musiker etwa mit ihren weitläufigen und verschiedenen Interessen so weit voneinander entfernt, daß das ganze Unternehmen in Gefahr ist“

Musikalische Änderungen

Die Musik allerdings blieb bisher von allen Schwierigkeiten verschont. Sie wandelte sich natürlich mit der Zeit. aber es war eine langsam fortschreitende konsequente Veränderung, die sich hier vollzog. Die experimentelle Trip-Musik, die Acid-Improvisationen und die etwas dünnen Countryrock-Songs gehören heute der Vergangenheit an und haben neuer, selbstbewußter Dead-Musik Platz gemacht. „Wake Of The Flood“, das erste gemeinsame Album tintci eigener Flagge, stand „!? noch auf recht wackligen Beinen, aber bereits „From Mars Hotel“ ein Jahr später schlug wie eine Bombe ein. Es zeigte zudem allen Anhängern der Gruppe, wo’s künftig .langgehen würde, und wie das nächste Kapitel aussehen würde. Mit dem brandneuen Album „Blues For Allah“ wird denn auch jeder Zweifel hinweggefegt: Sie haben wieder zu viel selbst gefunden und damit nicht /ulet/.t ihre persönliche Toleranz den einzelnen Mitmusikern gegenüber unter Beweis gestellt und bewiesen, daß die Band es noch immer verkraftet, selbst unterschiedlichste Einflüsse zu verarbeiten.

Live- oder Studioband?

Insbesondere Garcia liebte es von jeher, sich mit den verschiedenartigsten Stilrichtungen herumzuschlagen, um sein musikalisches Bewußtsein vor Grenzen zu bewahren. Er ist nach wie vor der Vertretet der Live-Band Grateful Dead. während Bob Weir. der sicher mit ebenso vielen Stilarten zurechtkommt, dafür plädiert, vorwiegend Studiomusik zu fabrizieren. Wie die letzten drei Alben beweisen, hat sich der Rest der Gruppe offenbar für Bob’s Argumente entschieden und der starke Rückgang der Konzerte spricht für sich. Dass irgendwann einmal diese Meinungen und vielseitigen Interessen aufeinanderprallen und sich vereinigen würden, war seit langem absehbar. Und jetzt ist es soweit‘ Die Dead seit „Mars Hotel“ sind die amerikanischste aller amerikanischen Bands. Sie vereinigen in sich die besten Momente der Allmans, der Doobies, von Steely Dan, des Mahavishnu Orchestras, von Soul-, Reggae- und Country-Gruppen, von emotionaler wie künstlicher Ausdrucksweisen.

Doch das Erstaunlichste daran ist die Tatsache, daß sie trotz dieses begeisterten Eklektizismus unumstößlich und typisch nach Grateful Dead lingen. Sämtliche Merkmale, die sie zu Legenden werden ließen, sind noch in jeder Note greif- und hörbar: Garcia’s zarte, ästhetische Gitarrensoli, Phil Lcsh’s verbindende, scheinbar grenzenlose Baßfiguren. Weir’s traumwandlerische und mitreißende Rhylhmusgitarre. der Drive und die Sensibilität der beiden Drummer und Keith’s vielseitiges Tastenspiel.

Die Dead haben genausowenig an Kraft, Energie und Einfühlungsvermögen verloren, wie sie an Attraktivität und zeitgemäßer Experimentierfreude eingebüßt haben. Sie waren bei ihrer Gründung or knapp zehn Jahren dem Gros der Rockbuntls um Jahre voraus und sind es heute, mit völlig anderen Mitteln und auf einer völlig anderen Ebene wieder.