Harvey, die VIII.


Dass PJ HARVEY sich vom Blues dem Folk zugewandt hat, das ist neu. Dass sie sich für ihr neues Album in die Kriegshistorie Britanniens eingearbeitet hat, nun ja, typisch. Denn ihre Kunst verlangt ständig nach Veränderung.

Keine Frage, Polly Jean Harvey hat sich ganz schön verändert. Trotzdem wollen wir jetzt für einen Moment alles beiseiteschieben, was wir über PJ wissen und was uns an ihr interessiert, um zur Abwechslung mal über etwas ganz anderes zu sprechen. Über die Dardanellenschlacht. Aus britischer Sicht nämlich wurde das traumatischste Kapitel des Ersten Weltkrieges nicht in Flandern geschrieben, nicht vor Verdun oder an der Somme – sondern auf türkischem Boden, auf einer schmalen Halbinsel südlich des Bosporus, fast in Hörweite der damaligen osmanischen Hauptstadt Konstantinopel. Bei der von England und seinen Verbündeten am Ende verlorenen Dardanellenschlacht auf der Halbinsel von Gallipoli starben 1915 auf beiden Seiten fast 250.000 Mann. Das ist Geschichte. Längst sind die Schützengräben wieder aufgefüllt, die Bunker eingeebnet, ist Gras gewachsen über die blutgetränkte Erde. Heute interessieren sich nur noch ein paar Historiker für das sinnlose Gemetzel – und Polly Jean Harvey.

Auf Let England Shake, ihrem achten Album, handeln mindestens drei Songs konkret und explizit von den Kampfhandungen, wie „On Battleship Hill“. Ein anderer beschäftigt sich mit Bagdad, es gibt Anspielungen auf Grabenkriege und den Zweiten Weltkrieg, wenn etwa Vera Lynns legendärer Durchhalte-Gassenhauer „White Cliffs Of Dover“ zitiert wird. Manchmal klingt Let England Shake wie ein Konzeptalbum über all die Kriege, die das Imperium geführt hat. „Fast anderthalb Jahre“ will sie an den Texten gearbeitet und in dieser Zeit „kein Instrument angerührt“ haben: „Ich genieße die taktilen Qualitäten des Schreibens mit einem richtigen Stift.“ Komponiert wurden die meisten Songs dann von ihr selbst – und ausnahmsweise mal nicht von oder mit John Parish – auf der Zither.

PJ Harvey ist hörbar geschmeichelt, dass der doch deutliche thematische Drall des Albums wahrgenommen worden ist: „Mein Ausgangspunkt war tatsächlich, einen Weg zu finden, um über die Welt zu reden, in der wir heute leben und die uns alle beeinflusst. Es ist eine Welt voller Konflikte, und die wollte ich erkunden. Wer solche Erkundungen ernsthaft betreibt, stellt schnell fest, dass das eine zeitlose Sache ist. Wir Menschen bekämpfen einander seit Anbeginn aller Zeiten. Also suchte ich nach einem historischen Blickwinkel auf vergangene und heutige Kriege – und damit auch auf das Wesen unseres Landes, wie es sich heute darstellt. Ich bin keine ausgesprochene Patriotin, aber andererseits auch einfach: Engländerin. Außerdem bin ich seit jeher fasziniert von Geschichte. Für dieses Album reichte das aber nicht, ich musste richtig recherchieren. Es ist eben thematisch völlig anders gelagert als alles, was ich davor gemacht habe.“

So, und hier wäre es angebracht, sich wieder an all die Rollen zu erinnern, die man PJ Harvey seit ihrem Debüt 1992 schon zugeschrieben hat. Riot-Grrrl war sie, Vorzeige-Indie-Girl, Braut, Muse oder doch wenigstens Duettpartnerin von Nick Cave, ordinäre Rockröhre, zuletzt, mit White Chalk, ein verhuschtes viktorianisches Gespenst, immer aber eine authentische Sirene des Blues, den sie bis in die letzten Winkel erkundet und dessen Reich sie kaum jemals tatsächlich verlassen hat. Bei jeder neuen Platte stelle sie sich die Aufgabe, sich so weit wie möglich von allem Vorhergehenden zu distanzieren: „Experimentieren ist ja immer eine Suchbewegung nach Wurzeln, die aus anderen, bisher unbekannten Dingen erwachsen. Wer experimentiert, verändert sich also notgedrungen. Ich kann unmöglich aufblühen, wenn ich nicht das Gefühl habe, etwas Neues lernen zu können.“

Nun ist sie also als trauernde Britannia inkarniert. Dabei ist der versponnene, hypnotische und durchweg mitreißende Folk auf Let England Shake tatsächlich eine Novität im Werk der Sängerin. Im eher verhuschten Folkgewand mag sie ihre allerersten musikalischen Gehversuche unternommen haben – aber es sollte nicht lange dauern, bis der prägende Musikgeschmack ihrer Eltern durchbrach. Blues, Blues also, noch mal Blues und zur Abwechslung: Blues – von Howlin‘ Wolf über John Lee Hooker und Robert Johnson bis zu den dekonstruktivistischen Zersplitterungen eines Captain Beefheart alias Don Van Vliet, mit dem sie sich später persönlich anfreunden sollte. „Sein Tod hat mich schwer getroffen“, sagt sie über den 2010 an Multipler Sklerose verstorbenen Musiker: „Wenn ich eine neue Platte aufgenommen habe, war er immer mein erster und wichtigster Kritiker.“

Ob dem Captain der Folk auf dem neuen Album gefallen hätte, wird also ein Geheimnis bleiben. PJ Harvey betont, diese Kehrtwende nicht geplant zu haben: „Das Wesen dieser Lieder besteht ja darin, Geschichten aus der Geschichte zu erzählen – und damit auch Geschichten aus der Gegenwart. Diese Struktur verlangt geradezu nach folkloristischen Elementen: Die Songs sind vor allem in den Strophen sehr erzählerisch, und im Refrain kommt dann bisweilen eine Gemeinschaft herein, wie ein Chor in der griechischen Tragödie. Dazu kommt, dass wir diesmal sehr viele akustische Instrumente und Samples benutzt haben.“

Aufgenommen wurde Let England Shake in einer Kirche an der Küste von Dorset im Südwesten Englands, in ihrer alten Heimat also, mit Blick auf das Meer: „Vielleicht zum ersten Mal habe ich beim Schreiben nicht in mich hinein-, sondern in die Welt hinausgeschaut“, sagt sie. Was sie dort fand, klingt allerdings nicht weniger düster als die schrundigen Geschichten verletzter Seelen, für die sie ansonsten bekannt ist. Wie wichtig ist eigentlich die Landschaft für den kreativen Prozess, der darin stattfindet? „Die Umgebung ist immer so wichtig, wie du es zulässt“, urteilt sie knapp. Aber hätte Let England Shake auch in Manhattan entstehen können? „Ich fühle mich schöpferisch immer inspiriert. Unabhängig davon, ob ich gerade in der Stadt oder auf dem Land wohne. Tatsächlich habe ich schon sehr gut Songs über das Landleben schreiben können, während ich in der Stadt wohnte. Bei White Chalk war das der Fall, da lebte ich gerade in Los Angeles. Für einen Künstler bedeutet das wohl, dass er nicht nur auf seine unmittelbare Umgebung reagiert. Als Schreiber lebst du zu einem guten Teil in deinem Kopf, in deiner Erfahrung oder deiner Einbildungskraft.“

Bei Let England Shake überlässt sie die visuelle Seite ihrer Kunst diesmal einem anderen, dem Fotokünstler Seamus Murphy, der für die Single „Last Living Rose“ einen stimmungsvollen Clip gedreht hat: „Er wird zu jedem einzelnen Song auf der Platte einen eigenen Film drehen und Bilder machen. Darüber hinaus arbeiten wir an einer Dokumentation über die Aufnahmen zu diesem Album, die ebenfalls dieses Jahr veröffentlicht werden soll.“ Beide verbinde eine künstlerische Auseinandersetzung mit der oft gewalttätigen Geschichte ihrer Heimat – sehr präzise, sehr klar und sehr reduziert: „Gerade beim Schreiben habe ich oft das Gefühl, dass am Anfang sehr viel mehr Information oder Material da ist, als ich brauche. Es geht dann darum, das alles wegzuschleifen oder abzuschlagen, bis das, was am Ende herauskommt, viel kraftvoller, aber auch kleiner erscheint als der Block, aus dem es geschnitzt wurde. Manchmal erinnert mich diese Arbeit aber auch an die Malerei, bei der du Schicht auf Schicht aufträgst, bis durch diese Verdichtung eine Atmosphäre entsteht, die beim Betrachter hoffentlich ein Gefühl auslöst.“

Über die Frage, ob dieses Gefühl auch politisch verstanden werden darf, hat sie schon lange nachgedacht, wie ihre Antwort verrät: „Jedes Kunstwerk ist politisch, alles hat eine Aussage. Ganz egal, ob das in der politischen Arena stattfindet oder nicht. Ich las neulich ein altes Interview mit Leonard Cohen, in dem ihm eine ähnliche Frage gestellt wurde, nämlich ob er seine Musik als politisch begreife. Und er sagte etwas, das mich zum Nachdenken brachte. Er sagte, selbst wenn er einen Song über die Einsamkeit schreibe, sei das politisch. Denn auch Einsamkeit sei ein politisches Thema, gehe es doch darum, warum Menschen keine Beziehung zueinander aufbauen können und nicht einmal einen Weg finden, ihre Isolation zu beenden, was wiederum ein Grund dafür ist, warum wir uns bekämpfen. Womit wir bei meinem Album wären, das sich mit Geschichte und Politik auseinandersetzt. Ich würde also sagen:, Ja, natürlich ist es ein politisches Album.'“

Vor dem Altern hat PJ Harvey, 41, keine Angst. Vor Krankheit schon, wie sie einräumt, aber vor dem Altern wirklich nicht: „Ich fürchte es nicht, nein. Ich glaube, es macht mich besser.“ Das gilt auch für ihre Stimme, die sie diesmal ungewohnte Kapriolen schlagen lässt. „Für mich ist die Stimme ein wichtiges Instrument, vielleicht das wichtigste überhaupt. Die Stimme dient dazu, die Worte zu vermitteln, und deshalb muss sie sich verändern, also sozusagen verfälschen. Damit der Sinn der Worte möglichst ungefiltert transportiert werden kann, eben unverfälscht. Es ist paradox“, räumt sie ein, „und zugleich ein wenig esoterisch. Die Stimme selbst wird tatsächlich von Saiten erzeugt. Ich habe neulich meinen Kehlkopf von innen gesehen, also Bilder von den Stimmbändern, die ja im Englischen ‚chords‘ heißen, also genau so wie ‚Akkorde‘. Dazu kommt, dass dieser anatomische Bereich auch noch herzförmig angelegt ist.“

Über ihre musikalischen Einflüsse will sie sich so wenig äußern wie über ihren Ex-Liebhaber Nick Cave, mit dem sie „Henry Lee“ gesungen hat. Da schwenkt sie dann doch lieber wieder zu der Frage nach den Einflüssen: „Wenn es etwas gibt, das ich immer geliebt habe, dann war das ‚Fratres‘ von Arvo Pärt, dem estnischen Komponisten. Worte können nicht ausdrücken, was mir dieses Stück Musik bedeutet.“ Und wo sie gerade in Fahrt ist, verrät sie noch ein weiteres musikalisches Vorbild: „Ihre Wucht, ihr Ideenreichtum, ihr Einfluss kann nicht überschätzt werden. Ich habe alle ihre Platten gehört, als ich noch ein Kind war, und ich höre sie heute noch mit unveränderter Begeisterung.“ Nein, nicht von Patti Smith ist die Rede. Sondern von Kate Bush. Haben wir erwähnt, dass Polly Jean Harvey sich ziemlich verändert hat?

Albumkritik S. 82