„Hey Jungs! Wir sind die Beatles!“


Die Get Back Sessions oder wie in eineinhalb Jahren aus 29 Stunden Musik doch noch irgendwie ein Album geworden ist. Hauptrolle: The Beatles. In Nebenrollen: Phil Spector und Glyn Johns.

Der berühmteste Liveauftritt der berühmtesten Band der Welt endet nach 42 Minuten. Durch den beherzten Einsatz eines Polizisten. Es ist Donnerstag, 30. Januar 1969. Mittagszeit. Ein arschkalter Wintertag im Herzen Londons. Die Beatles geben auf dem Dach des Gebäudes ihres Plattenlabels Apple ein „Konzert“. Augenzeugen: Yoko Ono, Ringo Starrs Ehefrau Maureen, ein paar Apple-Angestellte und ein Filmteam, für das das Spektakel in erster Linie veranstaltet wird. Ohrenzeugen: einige hundert Nachbarn rund um den Picadilly Circus. Innerhalb kürzester Zeit kommt der Verkehr in der Gegend zum Stillstand, Geschäftsleute in den umliegenden Gebäuden hängen an den Fenstern und wundern sich, woher die Musik kommt von dieser Band, die sie nicht sehen können. Dann zieht der Polizist den Stecker. Die Bilder sind Höhe- und Schlusspunkt des Beatles-Films „Let It Be“, aber auch Dokument einer im Verfall begriffenen Band, der verzweifelte Versuch, „wieder wie früher“ sein zu wollen, Stimmungen zu erzeugen, die sich längst verflüchtigt haben, Beziehungen zubeschwören, die seit langem in die Brüche gegangen sind.

Der Anfang vom Ende der Beatles lässt sich schwer datieren, wird aber immer wieder mit den Aufnahmen zum „Weißen Album“ im Sommer vor dem legendären „Rooftop Concert“ in Verbindung gebracht. Während der enervierenden Sessions zu dem Doppelalbum, das eher eine Ansammlung von Solostücken als ein geschlossenes Gruppenwerk war, kamen erste Konflikte in der heilen Beatles-Welt an die Oberfläche. Aus einer Gruppe wurden Individuen mit individuellen Ansprüchen.

Paul McCartney, der sich in jenen Tagen zum heimlichen Band-Chef aufgeschwungen hatte, wollte dieser Entwicklung entgegensteuern, und ein bisschen Spannung in die eingerostete Beziehung bringen. Bei einem Band-Treffen Ende 1968 befand er, dass John Lennon, George Harrison und Ringo Starr „richtig glücklich darüber [waren], nicht arbeiten zu müssen, weil sie lieber die Früchte des Erfolgs ernteten“, und erwiderte: „Hey, Jungs!Wir können doch nicht einfach so rumhängen, wir sind die Beatles! „Am liebsten wäre McCartney mit den Beatles auf Tournee gegangen, aber davon wollten die anderen nichts wissen. Schließlich fanden sie einen Kompromiss: ein einziger Auftritt sollte es sein, ein spektakuläres Konzert. Vielleicht in einem römischen Amphitheater, vielleicht in der Sahara, vielleicht mitten im Meer auf einem Schiff. Konzert und Proben sollten für eine TV-Show gefilmt werden. Lennon bestand darauf, dass die Songs für das Projekt so einfach wie möglich gehalten sein sollten, ohne den Studioschnickschnack, den die Beatles selbst zwei Jahre vorher mit SGT. pepper’s lonely hearts club band in die Popwelt eingeführt hatten. Alles sollte so „live“ wie möglich klingen. Motto und Arbeitstitel: „Get Back“.

Am 2. Januar 1969 trafen sich die Beatles in den Twickenham Filmstudios im Südosten Londons mit einem Filmteam um Regisseur Michael Lindsay-Hogg. Als Toningenieur wurde Glyn Johns verpflichtet, der zu dieser Zeit bereits mit den Rolling Stones,

den Who, den Small Faces und den Kinks gearbeitet hatte. In Wirklichkeit ging Johns Rolle aber weit über die eines Toningenieurs hinaus. Er war der heimliche Produzent der Aufnahmen, aus denen schließlich das LET IT be-Album werden sollte. Welchen Part Beatles-Produzent George Martin bei diesem Drama spielte, war ihm selbst unklar: „Ich glaube, im Grunde suchten sie einen neuen Produzenten, aber niemand hat mir gegenüber so etwas auch nur angedeutet, und deswegen war ich immer noch dabei.“

In den folgenden 29 Tagen entstanden mehr als go Stunden Filmaufnahmen, die die Beatles bei wenig inspirierten, mehrheitlich grauenhaften Proben zeigten. Dabei wurden mehrere hundert Songs aufgenommen, die teilweise nur skizzenhaft angerissen wurden, um dann in die nächste Skizze überzugehen. Coverversionen von „Baby, Come Back“ (The

Equals), „Going Up The Country“ und „On The Road Again“ (Canned Heat), „Cocaine Blues“ (Johnny Cash), Rock’n’Roll-Standards („Whole Lotta Shakin‘ Goin On“ „Crackin‘ Up“, „Blue Suede Shoes“ „That’ll Be The Day‘, „Johnny B. Goode“ „Sweet Little Sixteen“), immer wieder Bob Dylan („1 Shall Be Released“, „Mighty Quinn“, „I Want You“, „It Ain’t Me Babe“), ganz frühe („Please Please Me“) und ganz neue Beatles. Die Musik im Filmstudio wurde nicht mit professionellem Equipment mitgeschnitten. Es lief lediglich eine 2-Spur-Bandmaschine des Filmteams. Die Aufnahmen der Filmcrew waren die Hauptquelle für unzählige Bootleg-Alben, auf denen in den folgenden 35 Jahren nahezu jeder Ton, der bei den „Get Back Sessions“gespielt und jedes Gespräch, das geführt wurde, veröffentlicht wurde.

Die Raumtemperatur in Twickenham glich der Atmosphäre: frostig. Ringo sprach später vom Filmstudio als „zu groß geratener Scheune“. Und McCartney sagte das, was ohnehin schon jeder wusste: „Zujener Zeit herrschte bereits keine besonders gute Stimmung mehr zwischen uns. Wir waren schon zu lange zusammen, und es zeigten sich erste Risse“. Eine Auseinandersetzung zwischen McCartney und Harrison führte am 10. Januar sogar zum zeitweiligen Ausstieg Harrisons bei den Beatles. Als der Chef seinem Angestellten vorschreiben wollte, wie er einen bestimmten Part zu spielen hatte, entgegnete Harrison: „Ich spielealles, wasdu von mirhaben willst. Und wenn du nichts von mir hören willst, dann spiele ich eben nichts. Was immer dir Freude macht, ich tu ’s.“ Harrison verließ anschließend die Studios und kam erst wieder zurück, nachdem die anderen drei ihn zu Hause besucht und versichert hatten, wie furchtbar lieb sie ihn hätten. MitHarrisons Rückkehr ging der Abschied von den Ursprungsplänen einher. Die Idee von der Fernsehshow und das „spektakuläre“ Konzert wurden zunächst auf Eis gelegt. Das Filmteam um Lindsay-Hogg sollte jetzt einfach die Beatles bei den Aufnahmen eines neuen Albums porträtieren. Am 16. Januar endeten die Sessions in Twickenham. Band und Kameras zogen vier Tage später nach Central London um. In den Keller des Apple-Hauptquartiers in 3 Savile Row, in dem die Beatles gerade ein neues Aufnahmestudio installieren ließen. Mit dabei: ein zweiter Toningenieur namens Alan Parsons und ein junger Keyboarder: Billy Preston, ein Bekannter aus Hamburger Tagen der Beatles, der auf Betreiben Harrisons als Gast eingeladen wurde, um die Spannung zwischen den Fab Four herauszunehmen.

Als zehn Tage später mit dem „Rooftop Concert“ die „Get Back Sessions“ endeten, verloren die Beatles schnell das Interesse an den Aufnahmen. Glyn Johns erhielt Tonbänder mit 29 Stunden verwertbarer Musik und der Order „mach was draus“. Erstmals seit ihrem Debüt please please ME wollten die Beatles nichts mit der Nachbearbeitung einer ihrer Platten zu tun haben. Johns machte im Mai 1969 „was draus „. Ein Album mit folgender Tracklist: „One After 909“, „Rocker“ „SaveThe Last Dance For Me““Don’t Let Me Down“ „Dig A Pony“ „I’ve Got A Feeling“ „Get Back“ „For You Blue“ „Teddy Boy“, „Two Of Us“, „Maggie Mae“, „Dig It“, „Let It Be“, „The Long And Winding Road“, „Get Back (Reprise)“.

Das MOttO „Get Back sollte schon beim Coverartwork anfangen. Dafür wurde das Motiv des ersten Beatles-Albums please please me nachgestellt. Original-Fotograf Angus McBean lichtete die Beatles in derselben Pose aus demselben Blickwinkel im Treppenhaus des EMI-Gebäudes in London ab wie sieben Jahre zuvor. Auch wenn das „Get Back“-Album nie erschienen ist, das Geld für das Coverfoto war nicht verschwendet. Das Motiv wurde später für die beiden Compilations 1962-1966 und 1967-1970 benutzt. Apple schickte Testpressungen von „Get Back“ an verschiedene Radiostationen. Der Sender WBCN in Boston spielte im September 1969 das komplette AIbum. Was wiederum eine hübsche Quelle für Bootlegger darstellte. Die Beatles allerdings konnten sich immer noch nicht entscheiden, ob sie das Album gut finden sollten oder nicht. Für den subversiven Lennon hatte die Veröffentlichung der „elendsten Session aller Zeiten“ in der Rohform allerdings einen diabolischen Reiz, weil sich damit „der Mythos der Beatles zerstören ließ. ,So sehen wir mit herunter gelassenen Hosen aus. Würdet ihr jetzt bitte das Spiel abblasen?'“

Aber vorerst wurde das Spiel nicht abgeblasen. Im Sommer 1969 nahmen die Beatles schnell mal das Meisterwerk ABBEY ROAD auf. Das letzte Beatles-Album, das aber als vorletztes veröffentlicht wurde, bevor man sich wieder an „Get Back“ erinnerte. Michael Lindsay-Hoggs Film brauchte schließlich einen Soundtrack. Anfang Januar 1970 legte Glyn Johns ein alternatives „G et Back“-Album vor. M it leicht veränderter Tracklist: „Teddy Boy“ wurde heruntergenommen, weil McCartney den Song für sein erstes Soloalbum einspielen wollte, Harrisons „I Me Mine“ und Lennons zwei Jahre altes „Across The Universe“ kamen dazu. Wieder waren sich die Beatles uneins. Und Lennon wollte partout nicht einsehen, wieso Glyn Johns mittlerweile einen Credit als Produzent beanspruchte.

Auftritt Phil Spector. Es ist nicht ganz klar, wieso ausgerechnet der legendäre Produzent (The Ronettes,The Crystals) damit beauftragt wurde, die Bänder zu überarbeiten. George Harrison erinnerte sich später daran, dass die Idee auf den damaligen Beatles-Manager Alan Klein zurückging. Spec tor ging in die Popgeschichte als Erfinder des „Wall Of Sound“ ein. Ein Mensch mit dem leichten Hang zur Exzentrik, ein Produzent mit dem schweren Hang zum Kitsch. Er überarbeitete die Bänder, fügte bei „Let It Be“ „The Long And Winding Road“ und „Across The Universe“ Streicher und Chorgesang dazu, beschäftigte insgesamt 50 Musiker -18 Violinen, vier Bratschen, vier Celli, eine Harfe, drei Trompeten, drei Posaunen, ein Schlagzeuger, zwei Gitarristen und ein 14-köpfiger Chor- und präsentierte der Beatles-Plattenfirma eine saftige Rechnung. Spector arbeitete teilweise mit radikalen Mitteln. Weil für Chor und Orchester auf dem Band für „The Long And Winding Road“ keine Tonspur mehr frei war, fackelte er nicht lange und löschte einfach eine der beiden Gesangsspuren McCartneys.

Als schließlich am 8. Mai 1970 das Album let IT be veröffentlicht wurde (der Film kam weltweit fünf Tage später in die Kinos) gingen die Meinungen der Beatles auch über die Spector-Version des Albums auseinander. Paul McCartney warf dem Produzenten vor, das Album „verkitscht“zu haben. „Für mich war LET IT BE die Platte, wie Glyn Johns sie gemixt hatte-ohne Overduhs, ohne Orchester undsonstiges Zeugs.“Umso mehr verwundert es, dass die aktuelle Neuauflage des Albums, let IT BE… N aked, eben nicht die Platte ist, die Glyn Johns gemixt hatte, sondern ein mit Zustimmung McCartneys von heutigen Apple-Mitarbeitern mutwillig zusammengestellter Sampler.

Die anderen Beatles waren damals von der Spector-Version relativ angetan. Harrison hielt die Beteiligung des Produzenten für „eine ausgezeichnete Idee“. Ringo lobte Spectoi, als jemanden, der es verstand, „Musik in ganz neue Sphären zufuhren“. UndLennon sprach sogar von einer „wunderbaren Arbeit“: „Ererhielt den beschissensten Haufen von schlecht aufgenommenem Müll. Und er hat etwas daraus gemacht“.

Doch die Beatles waren da schon längst Vergangenheit. Paul McCartney hatte am 10. April 1970 seinen Ausstieg verkündet und damit das Ende der berühmtesten Band der Welt besiegelt.