Hirnflimmern


Meet me on the desertshore. Ich muß mal was klarstellen, „aus gegebenem Anlaß“, wie man sagt. Mir drängt sich nämlich der Verdacht auf, daß man mir die erstaunlichen, mitunter zugegebenermaßen vom Hauch des Übernatürlichen durchwehten Geschichten, die ich dann und wann hier ausbreite, nicht glaubt. Eine Frechheit! Ich lüg hier doch nicht das Blaue vom Himmel herunter! Okay, sagen wir: Wenn ich hin und wieder ein bisschen was Blaues vom Himmel herunterlüge, dann mache ich das durch Überspitzung kenntlich. Wenn jetzt zum Beispiel Paul McCartney zur Tür reinkäme, mir auf die Schulter haute und sagte: „Sepp, alte Sumpftrompete. Hast du gestern noch lang gemacht?“, dann wäre das plump überspitzt. Ansonsten ist alles immer wahr. Ich sage das nur, weil ich da schon wieder eine vom Hauch des Übernatürlichen durchwehte Seschichte auf Lager hätte. Folgendes: Nachdem ich vor Jahren schon einmal einen dahingehenden Anlauf unternommen hatte (Hirnflimmern berichtete), aber auf dem falschen Friedhof gelandet war, versuchte ich jüngst im Rahmen eines Berlin-Ausfluges noch einmal eine Pilgerreise zum Grab von Nico. Ich bin ganzfroh, daß das beim ersten Mal nicht geklappt hat, war ich doch damals zwar bezaubert von Nicos Solodebüt Chelsea Girl (sowie selbstverständlich seit frühem Säuglingsaltervon ihren Beiträgen auf dem ersten Velvet-Underground-Album), kannte aber ihre drei ziemlich unglaublich großartigen Platten The Marble Index (1969), Deserthore (1970) und The End (1974) nicht und war insofern noch überhaupt gar nicht würdig, mich als Fan zu gerieren. Zuletzt war ich diesen Alben schier verfallen. So stieg ich am milden Frühherbstsamstagnachmittag in die S-Bahn, das Nico-Gesamtwerk auf dem MP3-Gerät und ließ mich einmal mehr einspinnen von dieser fremdartigen, spukigen, verstörenden, abgründigen und tiefschönen Musik. Wir näherten uns meinem Zielbahnhof Grunewald, als Nico im Kopfhörer zu ihrer gänsehautmachenden Coverversion von „The End“ von den Doors anhob, und just in dem Moment, da ich der Bahn entstieg und mich fragte, wohin es nun weitergehen sollte, sang Frau Päffgen: „Ride the king’s highway, baby“, und: „Ride the highway west“. Ich blickte nach oben, die Wegweisertafel am Bahnsteig hatte vier Straßennamen in zwei Richtungen im Angebot, rechts raus: Königsweg. Ich war einigermaßen fassungslos, zögerte aber nicht lang und folgte Nicos Rat, und nach einer Dreiviertelstunde Waldspaziergang allein unter Nordic Walkern -in Richtung Westen hatte ich den versteckten kleinen Friedhof Grunewald-Forst erreicht. Da stand ich dann an dem unscheinbaren Stein, unter dem Nicos Asche neben der ihrer Mutter Margarete Päffgen ruht und schämte mich ein wenig, weil ich nicht mal eine Blume mitgebracht hatte. Fühlte mich aber doch willkommen, schließlich hatte sie mich persönlich hergelotst. Keine größ’re Ehre ist mir widerfahren in der letzten Zeit. Was ich eigentlich sagen will: Hört mehr Nico-Platten.