Hoffentlich Wird Unser Sohn Ein Rock-Gitarrist


Pop aus Skandinavien ist nicht mehr nur das Ding der Saison. Er ist längst eine Klasse für sich. Zeit, sich ein paar Gedanken darüber zu machen, warum die Musik aus dem Norden uns längst erobert hat und morgen vielleicht auch Britannien und die USA erobern wird. Dieses Dossier bietet Thesen und Argumente an, keine Erklärungen. Denn die sind doof, sagt der Pop.

Das ist kein Trend mehr, das ist zum Dauerzustand geworden. Niemand wundert sich mehr, wenn neue Lieblingsbands aus Göteborg oder Bergen kommen, auch Kopenhagener gelten nicht länger als Exoten. Allerdings stellt sich die Frage: Was unterscheidet diese Länder von den anderen, ja auch gerne und leidenschaftlich rockenden in Kontinentaleuropa, daß sie zu solchen Popexportweltmeistern wurden? Bevor wir hierzu ein paar gewagte Theorien in den Raum stellen können, müssen wir ein paar Dinge klarstellen. Zunächst: Auch wenn es bequem ist, Norwegen, Schweden und Dänemark als das „Rockphänomen Skandinavien“ zusammenzufassen, unterscheiden sich deren Szenen doch in wichtigen Details.

Trotz der geographischen Nähe: Die Kopenhagener Swan Lee, die ihr letztes Album in Eggstones Tambourine Studios in Malmö aufnahmen und dafür täglich über den Belt pendelten, sind eine der wenigen Ausnahmen interskandinavischer Zusammenarbeit. Nur: Auch Franz Ferdinand haben in Malmö aufgenommen, Ed Harcourt arbeitete beim letzten Album mit Concretes-Produzent Jaari Haappalainen in Stockholm, wohin es auch The Robocop Kraus zu Hives-Produzent Pelle Gunnerfeldt verschlug. Immerhin, schwedisch singende Superstars wie Kent und Hakan Hellström feiern auch in Dänemark und Norwegen Erfolge. Umgekehrt funktioniert das nicht – so findet Norwegens Nummer eins, das Kaizers Orchestra, in Schweden sogar weniger Beachtung als bei uns.

Kommen wir zu den einzelnen Szenen und beginnen mit Dänemark. „Es ist eine prima Zeit für dänische Bands findet Simon Kvamm, Sänger der Indierocker Nephew: „Dänische Kids sehen andere Dänen, die Erfolg haben und das inspiriert sie natürlich. Für dänische Kids ist es gerade ziemlich hip, eine Gitarre zu kaufen und eine eigene Band zu gründen.“ Das war nicht immer so. Die dänische Gitanenmusikszene lag zur Jahrtausend wende fast brach. Das kann man sich sogar auf Film anschauen: Die Dokumentation „Stjernekigger“ (Sterngucker) aus dem Jahr 2001 begleitet die Newcomer Swan Lee bei der vergeblichen Suche nach einer Plattenfirma. Niemand will ihren mit atmosphärischen Portisheadismen angereicherten Edelpop verstehen, es gibt nur Absagen und Ratschläge an Sängerin Pernille Rosendahl, die Band zu feuern und ein Solosternchen zu werden.

Was nicht bedeutet, daß es gar keine Unterstützung gab. Es gibt ein Fördersystem des Staates in Dänemark. Allerdings fallen auch immer wieder Bands durchs Raster: „Weil alles so frustrierend war, haben die Bands Eigeninitiative ergriffen „erzählt Pernille. „Die Raveonettes sind in die Staaten gegangen. Dort haben sie ihrenVertrag mit Sony unterschrieben. Mew sind nach London gezogen.“ Swan Lee wiederum gründeten ihr eigenes Label Gogo Records, die Ausstrahlung von „Stjernekigger“ im Fernsehen katapultierte ihr Debüt enter an die Spitze der Charts. Pernille: „Wirgehen jetzt auch zu keinem Majormehr, Gogo hat ja prächtigfunktioniert. Wir haben sogar mit unserem ersten Signing Claus Hempler eine weitere Nummer eins geschafft.“

Das Besondere an der dänischen Szene: Alle Acts klingen verschieden – es ist kein typischer Szene-Sound auszumachen – hören wir mal: Saybia (Coldplay Ute), Raveonettes (Retro galore), Figurines (Collegerock ä la Pavement/Superchunk), Tiger Tunes (Quirk-Synth), Diefenbach (Hochglanz-Shoegazerei), Claus Hempler (Crooning zwischen Cave und Wainwright), Mew (pittoresker Komplexrock zwischen Muse und Sigur Ros), UnderByen (Björk-Pop), Lake Placid(Neo-80s), Carpark North (Placeb-o-matisch). Das Hoch in Dänemark ist eine frische Entwicklung. Wie lange sie anhält, bleibt abzuwarten. Simon Kvamm jedenfalls ist sich der Gefahr, daß alles wieder platzt, bewußt: .Auf den Festivals undAward-Showssah man immer die gleichen Gesichter. Das sind heute die Etablierten, Neuankömmlinge werden bereits etwas abschätzig beäugt.“

In Norwegen scheint der Zenit bereits überschritten. Zum Höhepunkt der Begeisterung für Folk und Pop aus dem Land der Fjorde gegen 2001/2002 wurden beinahe im Wochentakt neue Acts präsentiert, doch einige sind inzwischen auch auf der Strecke geblieben. Trotz ansehnlicher Achtungserfolge: Zu Megastarruhm konnte es freilich nicht reichen für Kaizers Orchestra, Röyksopp, St. Thomas, Kings Of Convenience, Sondre Lerche und Co. Andererseits hat die Demontage des Norwegen-Hypes auch spürbar zu einer Sondierung und Gesundung geführt. Heute ist das Land sehr stolz auf seinen popkulturellen Output.

Eine Besonderheit Norwegens: Fast alles konzentriert sich auf Bergen und Oslo. Dabei charakterisiert Sievert Höyem von Madrugada, der Band, die inzwischen auf der Schwelle zum Stadionrock steht, das Osloer Umfeld sehr kritisch: „Hier herrscht viel Neid. Wenn eine Band in die Charts kommt, ärgert sich die andere gleich: .Warum nicht wir?'“ In Bergen hingegen scheint in Höyems Auge alles ganz anders zu sein: „Da greift man sich gegenseitig unter die Arme. Egal, welches Genre- die Musiker leihen sich Instrumente, helfen live und im Studio mit“, schwärmt er mit Blick auf die dortigen Kollaborationen, z.B. von Röyksopp mit Erlend Öye von den Kings Of Convenience.

Im Popland Schweden ist man in vielen dieser Dinge weitaus abgeklärter. Schon lange vor Abba machten schwedische Bands international von sich reden (in den 6os mit Acts wie The Spotnicks, Lill Lindfors, Hep Stars u.a.). Ein Besuch in einem CD-Shop in Stockholm oder Göteborg offenbart Beeindruckendes: Das „Svensk Artister“-Fach besteht oft aus ganzen Regalwänden. Denn neben der enormen Zahl international bekannter Acts floriert auch die Musik aufs Heimatland beschränkter Szenen, in der es Megastars gibt, von denen diesseits der Ostsee noch keiner was gehört hat (Gyllene Tider, Hakan Hellström, Lisa Ekdahl etc.). Allerdings ist auch hier kein gemeinsamer Sound auszumachen, schon alleine aufgrund der unüberschaubaren Menge. Neben den unsbekannten Gitarrenbands (Mando Diao, TSOOL, The Hives, The Cardigans, Caesars, Shout Out Louds etc.) finden wir HipHop (Looptroop, Fattaru), Hardcore und Metal (In Flames, Katatonia), der freilich beim Nachbarn Norwegen noch eine weitaus dominantere Rolle spielt, Punkrock (Millencollin, 59 TTP), Pop von der Stange (Bosson, NG3, Mendez), Eurodance (Alcazar, E-Type, A-Teens) und sogar „Schlager“. Dieses Wort hat man aus dem Deutschen übernommen, und die Brandsta City Släckers und Markoolio muß man gesehen haben, um zu glauben, wie weit die Artenvielfalt der schwedischen U-Musik reicht.

Die Tradition schwedischer Popmusik ist über 40 Jahre alt, die Infrastruktur der Musikindustrie heute hochprofessionell. Die Erfolge im Ausland haben Musik zum substantiellen Wirtschaftsfaktor gemacht, was sich gleich mehrfach auswirkt: So orientieren sich sowohl Künstler als auch Musikindustrie nicht selten von vornherein international. Zweitens: Der Beruf des Musikers ist vom sozialen Stigma befreit. Eltern, die ihrem Sohn den Berufswunsch Musiker austreiben wollen, sind eher selten.

Grundsätzlich: Musik hat einen hohen Stellenwert in diesem Land, der mit dem in Deutschland nicht vergleichbar ist. Indizien hierfür findet man im Alltag: Selbst in den Einkaufsstraßen der Kleinstädte gibt es Instrumenten- und Plattenläden wie bei uns Schuhgeschäfte. Aus den Schuhgeschäften wiederum dringt wie selbstverständlich die neue Kent oder die neue Cardigans auf die Straße. Mando-Diao-Organist Mads Bjerke bestätigt: „Ich kenne niemanden aus meinem Freundeskreis, der kein Instrument spielt.“ Schon in der Schule wird den meisten Kindern ein Instrument zugeteilt, im regelmäßigen Nachmittagsunterricht auch Musiktheorie gelehrt. Auch wenn Sänger Patrik Axelsson von Stockholms aufstrebenden Interpolesken United sich im Nachhinein celt, wenn er an seine Kinderzeit zurückdenkt: „Ich mußte Geige spielen undhabe es gehaßt,“ Es hinderte ihn nicht, später seine Band zu gründen. Bei aller Vielfalt des blau-gelben Musikmarktes gibt es dennoch ein genreübergreifendes Klischee: „Wieso gibt es unter ihnen so viele Bands, die fast als Epigonen durchgehen könnten, die Stil- und Spielarten komplett übernehmen?“, fragte auch die ME-Redaktion in Anbetracht von Acts wie – ziehen wir mal fünf aus dem Hut- den Hellacopters, The Radio Dept, The Ark, Club Killers und Melody Club, die sich ganz zweifellos in fest definierten musikalischen Genres bewegen (Rawk, Shoegazing, Glamrock, Rocksteady, 8os-Synthpop), diese aber bis zur Perfektion auf den Punkt bringen. Ein Prozeß, den ich „VoWoing“ nenne – der Volvo als das makellose Auto, dem immer nachgesagt wurde, keine persönlichen Eigenschaften zu haben, stattdessen die ideale Kombination der besten Einzelteile anderer Fahrzeuge zu sein.

Worauf will ich hinaus? Man unterstellt schwedischen Bands gerne, „nixEigenes“zu liefern. Was diese wiederum nicht als Kritik empfinden, nur als Mißverständnis. Gustaf Noren (Mando Diao): „Wenn ich einen Song in meinem Herzenflihle, soll ich ihn dann unterdrücken, bloß weil T. Rex ihn schon vor 30 Jahreti geschrieben haben ? “ Der fundamentale Unterschied zwischen der deutschen und der schwedischen Herangehensweise könnte einfach dieser sein: Man klaut nicht, man zitiert. Man pickt sich das Beste raus und rekreiert mit viel Liebe zum Detail. Diese ausgeprägte Liebe zum Zitat ist wiederum etwas, was es in Dänemark praktisch nicht gibt. In Norwegen tritt es in Einzelfällen auf, wie bei den Referenzen der Kings Of Convenience an Simon & Garfunkel.

Wenn also die drei Szenen so unterschiedlich gestaltet und gewachsen sind, gibt es überhaupt Gemeinsamkeiten? Zum einen sind die drei Länder relativ bevölkerungsarm, ihre Landessprache wird nur von wenigen Menschen gesprochen. Daraus folgt eine starke Orientierung zum Ausland. Fremdsprachen sind sehr viel geläufiger als in den USA oder Deutschland. Beispielhaftes Symptom und Ursache gleichzeitig: US-Filme und Fernsehserien werden im skandinavischen Fernsehen nicht synchronisiert, ergo lernen Kinder Englisch früh und spielerisch.

Gemeinsam ist diesen Ländern auch ein für kleine Staaten typisches Schneeball-System. Wenn eine Sache erst mal rollt, entsteht eine Eigendynamik, die sich bald auch in der Rezeption von außen widerspiegelt. „Schwedische Indiemusik“ ist zum Gütesiegel geworden, vergleichbar mit „Schwedischen Krimis“. Nach den Erfolgen von Mankell und Marklund empfangen Verlage und Leser einen neuen Autor aus Schweden mit offenen Armen. Die große Aufmerksamkeit verhilft zum Erfolg, der Erfolg wirkt als Motivation für neue Bands. Der Schneeball rollt.