Holger Czukay im Interview: „Viele junge Leute sind innerlich sehr alt“


Ein ME-Interview mit dem verstorbenen Can-Gründungsmitglied Holger Czukay aus dem Jahr 2003.

Can-Mitbegründer und –Bassist Holger Czukay ist im Alter von 79 Jahren gestorben. Im Frühjahr 2003 führte Musikexpress-Chefredakteur Albert Koch ein Interview mit dem Musiker. Das Interview diente als Grundlage für einen Text über Czukay und wurde bis jetzt noch nicht im Wortlaut veröffentlicht. Kurz vor dem Interviewtermin hatten Can den „Echo“ für ihr Lebenswerk erhalten.

ME: Can haben den „Echo“ für ihr Lebenswerk bekommen. Wie fühlt man sich als lebende Legende?

Holger Czukay: Ein Award für das Lebenswerk hat immer so etwas Abschließendes. Das bedeutet Abschiebung in die Leichenhalle. Man muss das nicht so sehen, man kann es aber so sehen. Alle Leute, die mit Can zu tun hatten, stellen ausgesprochene kreative Zellen dar, und das findet man nicht oft. Ich merke immer, wenn ich mit ganz jungen Leuten zusammenkomme, wie jetzt bei der Echo-Verleihung, dass ich mich jünger fühle als sie. Viele junge Leute sind innerlich sehr alt. Mein physischer Zustand ist exzellent und erstaunlicherweise ist meine Kreativität noch nie so stark gewesen wie jetzt.

Wie war die Veranstaltung für dich?

Ich war völlig fasziniert von der Exotik der ganzen Sache. Eine Boy- oder Girl-Group nach der anderen kam auf die Bühne. Ich hatte den Eindruck, ich bin auf dem Mars. Nichts ist wirklich beim „Echo“. Wen ich aber total unterschätzt habe, ist Robbie Williams. Bei ihm erkenne ich sofort an der Körpersprache, der Mann hat gekämpft für etwas und kämpft immer noch. Er ist ein richtiger, ausgewachsener Sänger. Da habe ich mir gedacht, Junge, da kannst du dir eine Scheibe davon abschneiden.

Seit den späten 70er-Jahren und wieder verstärkt seit den 90er-Jahren berufen sich zahlreiche internationale Bands auf Can.

Ich finde es toll, dass sich so viel Musiker an Can orientieren. Warum? Junge Leute versuchen eine eigene Identität zu finden. Das ist ihr Problem. Normalerweise fängst du als junger Mensch an, dein Vorbild zu kopieren. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Can hat dafür eine Rezeptur gehabt für die Nachwelt, die sich viele zunutze gemacht haben. Indem sie sagen, wir fangen mal ganz von vorne an und vergessen alles, was vor uns gewesen ist.

Du hast in den 60ern zusammen mit Irmin Schmidt bei Karlheinz Stockhausen Komposition studiert. Wie war Stockhausen?

Er war zu mir wie ein Vater. Streng und unheimlich großzügig. Ich habe zu mir gesagt: „Holger, es ist ganz klar: Was du mal machen willst, bringt kein Geld. Aber wenn du es machst wie er, dann machst du es richtig.” Und ich habe es auch genauso gemacht. Ich habe Stockhausen erzählt, dass ich bei allen Aufnahmeprüfungen durchgefallen bin, und da sagte er: „Das gefällt mir, ich nehme Sie“. Im zweiten Jahr hat er mir gesagt, er hätte nie geglaubt, dass ich wiederkommen würde. Er sagte zu mir: „Czukay, ich habe den Eindruck, Sie denken zu viel, Sie sind zu intellektuell“. Darauf sagte ich: „Herr Professor Stockhausen, das spricht aber nicht für Ihre Menschenkenntnis“. Stockhausen hat mir von dem belgischen Komponisten Karel Goeyvaerts erzählt. Das war ein sehr begabter Komponist in den 50er-Jahren. Aufgrund der kompositorischen Zwänge hatte er so viele Fragen an die Noten gestellt, dass er nicht mehr in der Lage war, überhaupt nur eine Note zu Papier zu bringen. Dann hat er für eine belgische Fluggesellschaft gearbeitet. Stockhausen gab mir den Rat, einfach meinen Weg zu gehen. Daraufhin stieg ich in den Zug nach Duisburg und habe total geheult, weil er mir einen so großen Stein von der Seele genommen hatte. Im dritten Jahr sagte er zu mir: „Wenn der Vogel flügge wird, dann fliegt er davon“.

Wäre Can ohne Stockhausen möglich gewesen?

Stockhausen war für Can verantwortlich. Das Kompositionsstudium ist ein Studium der strategischen Künste. Stockhausen war ein regelrechter Traditionalist. Er notierte alles und andere Leute führen das dann aus. Bei Can ging es eher um Spontaneität. Ich persönlich hasse das Schreiben. Ich möchte Musik hören, nicht schreiben. Bei Can habe ich mich für den Bass entschieden, weil ich sehr schüchtern war und dachte, auf den Bass würde keiner hören. Dann machten wir die ersten Aufnahmen.

Wie haben Can den Gegensatz von Komposition und Improvisation unter einen Hut bekommen?

Das Wort Improvisation ist im Zusammenhang mit Can schon falsch. Das gilt für eine Jazzband. Wir haben nie entlang einer roten Linie improvisiert, was man normalerweise im Jazz macht. Wir verstanden uns als Team, bei dem es eine Grundregel gab: Ball abgeben und Ball annehmen und nicht lange bei sich behalten und auf diese Weise Räume schaffen – ähnlich wie beim Fußball. Und dem Ball eine Richtung verschaffen. Das war die Can-Strategie. Komponiert waren gut und gern 50 Prozent, alles wurde spontan aufgenommen. Was man dann braucht, ist Zeit, um über die Dinge mal nachzudenken. Musik ist nicht das, was man spielt, Musik ist die Summe aller Entscheidungen, die man trifft. Und die trifft jeder anders. Es wird ja immer wieder behauptet, dass in der elektronischen Musik die Maschinen die Musik bestimmen. Das stimmt nicht. Es sind nach wie vor die Menschen, die das machen. Die Maschinen sind nachgerade zweitrangig.

Was hat Can bewogen, keine „normale“ Rockmusik zu machen? Ihr hättet ja auch wie die Lords klingen können.

Stimmt. Aber wir konnten es einfach nicht. Wenn wir einmal den Versuch unternommen haben, endete das in einer einzigen lächerlichen Katastrophe. Can hatte gar keine andere Wahl. Wir mussten das machen, das war unsere einzige Chance.

Du zerstörst gerade eine Legende.

Nein. Es ist wirklich so. Stockhausen hat einmal gesagt, „Sie haben den Weg gewählt.“ Ich sagte: „Nein, ich hatte gar keine Wahl. Ich musste das machen.“ Auch die Aufnahmetechnik von Can, die ja heute noch als revolutionär gilt, war nichts anderes als der Zwang von Notwendigkeiten. Wir hatten keine andere Wahl.

Eigentlich lehnt Stockhausen populäre Musik ab.

Stockhausen hat ein Problem mit Rhythmen, ganz besonders mit periodischen Rhythmen. Weil er Musik ganz anders begreift und einen Beat fast als Schwäche ansieht. Der Unterschied zwischen mir und Stockhausen ist der: Ich selber kann wirklich nichts, aber ich weiß, was ich in die Hand nehme, kriegt absolut mein Gesicht. Wenn ich nur vier Töne auf der Gitarre spielen kann, begnüge ich mich mit dreien und ich weiß, diese drei wird mir so schnell keiner nachspielen.

„Wenn wir live auftraten, schrien alle nach ‚Spoon‘. Und wenn wir es spielten, erkannten es die Leute gar nicht.“

Wie erklärst du dir, dass Can anfangs im Ausland viel erfolgreicher waren als in Deutschland?

Zunächst einmal hat das Ausland mehr Erfahrung im Umgang mit solcher Musik, die jenseits des großen Anspruchs liegt. Zudem hatten wir diesen großen Bruch gehabt während der Nazi-Diktatur. Das Selbstwertgefühl der Deutschen war ganz unten. Da wurde das Kulturgut von denen angenommen, von denen wir besetzt waren. Als das Ausland mit dieser Musik in Kontakt kam, wurde damit viel souveräner umgegangen als in Deutschland. Hier bei uns gab es dieses Selbstvertrauen nicht.

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Die Can-Single „Spoon“ kam 1971 bis auf Platz 6 der deutschen Singles-Charts und hielt sich dort 16 Wochen. Es war die Titelmelodie des Durbridge-Krimiserie „Das Messer“. Can wurden damit in Deutschland zu Stars.

Das war viel Arbeit. Wir mussten zum Beispiel Autogramme schreiben. Es war nervend. Auf der anderen Seite haben wir einen neuen Mercedes-Bandbus bekommen. Vorher hatten wir einen Opel Blitz, der ständig stehenblieb. Nach dem Hit wurde wieder eine eigenartige Erwartungshaltung an Can geknüpft. Die Leute hatten diesen Hit im Ohr, und wenn wir live auftraten, schrien alle nach „Spoon“. Und wenn wir es spielten, erkannten es die Leute gar nicht. In England war es kein Hit. Ich weiß nicht, was mit „Spoon“ geworden wäre, wenn es nicht die Titelmelodie zu „Das Messer“ gewesen wäre. Es wäre genauso ein Stück geworden, wie jedes andere Can-Stück auch. Es hätte Beachtung gefunden, aber nicht so hohe Verkaufszahlen erreicht. Die Erwartungshaltung des Hitpublikums konnte Can überhaupt nicht erfüllen. Robbie Williams kann das.

Was ist der Unterschied zwischen guter und schlechter Musik?

Bei allen theoretischen Überlegungen, wird immer unter dem Strich stehen bleiben: Ich mag es, oder ich mag es nicht. Es hat etwas mit dir als Mensch zu tun. Und es hat etwas damit zu tun, ob du es liebst, einen Kaugummi, den andere ausgespuckt haben, wieder weiter zu kauen, oder ob du lieber Frischgemüse zu dir nimmst. Für mich hat Musik etwas mit einer Erlebnisreise zu tun. Die Emotionen müssen angesprochen werden.