„Ich vermisse Oasis“


Er wollte für immer bei seiner Band bleiben. Aber mit seinem Bruder Liam hielt er es keinen Tag länger aus. NOEL GALLAGHER verließ Oasis und nahm gleich zwei Alben auf. Doch seinem neuen Dasein als Solokünstler kann das Großmaul der Neunziger noch nicht viel abgewinnen.

Ein kleines Büro im Herzen von London, fernab von den Ausschreitungen, die die englische Hauptstadt seit Tagen und vor allem Nächten in Atem halten. Keine geplünderten Elektromärkte, keine ausgebrannten Autos. Nur Backsteinhäuser und Rauchverbotsschilder. Die Türen stehen weit offen. Gibt ja nichts zu sehen, liegen ja nur die Artworkentwürfe für das mit größter Spannung erwartete Solodebüt des laut Beatles-Produzent George Martin „größten Songwriters seiner Generation“ herum. Noel Gallaghers Label Sour Mash lädt zur Listening-Session von Noel Gallagher’s High Flying Birds. Vor einer Box in der Abhörkammer steht eine Postkarte mit Beatles-Motiv, hinter einem Sofa gerahmte Titelbilder von „NME“ und „Melody Maker“, die Liam Gallagher zeigen. „Absicht?“, fragt man den Ansprechpartner vom Label. „Nein, Zufall“, sagt der, „Liam kann ja jeden Moment hier hereinkommen.“ Das Büro ist auch der Sitz von Ignition, dem Management von sowohl Noel als auch Beady Eye. „Laufen sich Liam und Noel hier auch mal über den Weg?“ „Nein“, sagt der Labelmensch bestimmt, „da passen wir schon auf.“ Nach einem Hörgang durch ein Album, das Gallagher keine neuen Fans bescheren, ihn aber problemlos als elder statesman des Britpop etablieren wird, geht es ins nahe Landmark Hotel, einen Upperclass-Kitschpalast. Mit großzügiger Verspätung erscheint der Mann, der der Working Class der Neunziger ihren Mut zurückgab. Natürlich in Sonnenbrille. Er reicht die linke Hand.

Seit über zehn Jahren kündigen Sie Ihr angebliches Meisterwerk „Stop The Clocks“ an. Jetzt endlich wird das Stück veröffentlicht, als Abschluss Ihres Solo-Debüts. Was hat die finale Version, was all die Demos davor nicht hatten?

Zunächst mal: „Stop The Clocks“ ist nicht mein bester Song. Ich habe nach ihm noch bessere geschrieben. Ich bin auch noch nicht so ganz zufrieden mit ihm, aber ich wollte ihn nicht noch länger mit mir herumschleppen. Nachdem mir endlich ein Outro eingefallen war, das so wild ist, wie ich es immer haben wollte, dachte ich mir: „Scheiß drauf, jetzt oder nie.“ Dass der Song seinem Hype nicht gerecht werden kann, ist mir aber klar.

Wie viele der Songs aus Ihrem Album stammen noch aus Oasis-Zeiten?

„(I Wanna Live In A Dream In My) Record Machine“ war für unser letztes Album Dig Out Your Soul geplant, aber ich wurde mit den Aufnahmen nicht fertig. „If I Had A Gun …“ schrieb ich nach einem Soundcheck auf unserer letzten Tour. Eine höchst inspirierende Art, Songs zu schreiben: mit einer Akustikgitarre vor einem leeren Stadion. Da kommst du dir wie Jesus vor. So ganz leer sind die Stadien natürlich nie. Ein Jahr später fragte mich jemand: „Hast du einen neuen Song, der ‚If I Had A Gun …‘ heißt?“ Da gab es noch nicht mal ein Demo von dem Stück! Es stellte sich heraus, dass irgendein Typ meinen Soundcheck mit seinem Handy gefilmt und bei YouTube hochgeladen hatte. Dann sahen sich irgendwelche Leute diesen halbfertigen Song an, komponierten ihn selbst zu Ende und stellten ihre Versionen ins Netz. Meine Songs werden gecovert, bevor sie geschrieben sind! Diese Entdeckung war für mich Anlass, mir endlich einen Computer zuzulegen.

Auch auf dem Album von Beady Eye finden sich fertiggestellte Oasis-Demos.

„The Morning Son“, „Millionaire“, „The Roller“: alle uralt. Als ich „The Roller“ zum ersten Mal hörte, dachte ich, wir hätten eine sichere Nummer eins. Dass er in seiner Beady-Eye-Version dann auf Platz 31 einstieg, alarmierte mich: Wird mich auch so eine Bauchlandung erwarten? Wollen die Leute uns nur als Ganzes? (Gallaghers Debütsingle „The Death Of You And Me“ steigt zwei Wochen nach dem Interview tatsächlich nur auf Platz 15 der UK-Charts ein; seit Oasis‘ erster Single „Supersonic“ war keine Single der Band niedriger in der Hitliste platziert; Anm.)

Was halten Sie von Beady Eye?

Ich habe mir ihr Album nie angehört. Aber ich habe mir Auftritte von ihnen im Fernsehen angeschaut. Schon ganz in Ordnung, was sie machen, oder? Ich wünsche ihnen wirklich alles Gute.

Liam Gallagher behauptete, Beady Eye würden größer als Oasis werden.

Er behauptet viel, wenn der Tag lang ist. Ich würde so etwas nie sagen. Es wird keine Rockband mehr geben, die so groß wie Oasis wird. Niemals. Und als Solokünstler erreichst du solche Höhen erst recht nicht. Welcher Solokünstler spielt denn schon im Wembley-Stadion? George Michael?

Jedes neue Oasis-Album hat immer auch ein Spiel eröffnet: Wer entdeckt die meisten abgekupferten Ideen? Wovon hat Noel dieses Riff geklaut? Habe ich es nur nicht bemerkt, oder kommen Sie auf Ihrem Soloalbum zum ersten Mal ohne fremde Ideen aus?

Es tut mir leid, sollte ich Ihr Spiel verdorben haben. (lacht) Ich habe nie bewusst Ideen geklaut. Das passiert einfach, wenn du Rockmusik schreibst. Man hat was von Bowie oder den Stooges im Kopf, arbeitet an einem Song und auf einmal fließt das zusammen. Diesmal ist es offenbar nicht passiert. Wahrscheinlich habe ich einfach nicht viel gute Musik die letzte Zeit gehört.

Wie finden Sie denn Ihre Platte?

Ich hätte nicht gedacht, dass sie so universell klingt. Die Ur-Version klang noch sehr britisch, sehr nach den Kinks. Die schickte ich dann meinem Produzenten Dave Sardy (der auch die letzten beiden Oasis-Platten produzierte; Anm.) nach Los Angeles. Er rief mich an und sagte: „Hör zu, wie müssen uns treffen.“ Er kam zu mir nach London und sagte mir, dass er die Platte scheiße findet – nicht die Songs, aber die Produktion. Das passiert eben, wenn du deine Songs selbst produzierst. Also bin ich für drei Monate zu ihm nach L. A. und wir spielten alles noch mal ein.

Seit Definitely Maybe 1994 zum am schnellsten verkauften Debüt der britischen Charts-Geschichte wurde, dürften Ihnen nur noch sehr wenige Menschen direkt gesagt haben, dass sie Ihre Arbeit scheiße finden.

Stimmt, aber es ist verdammt hilfreich, wenn dir jemand mal den Kopf wäscht. Ich habe ja noch ein zweites Album aufgenommen, das erscheint 2012 und ist eine Zusammenarbeit mit den Experimentalmusikern Amorphous Androgynous (ein Alias von The Future Sound Of London; Anm.). Deren Chef, Gaz Cobain, behandelte mich wie einen Lehrjungen. Einmal ließ er mich eine Gitarrenfigur fünf Stunden und zehn Minuten lang spielen. Dann gab er mir Anweisungen wie: „Spiel das orange!“ Wenn ich etwas vorschlug, hieß es, er sei nicht interessiert an den Ideen anderer. Das musst du erst mal schlucken. Aber ich liebe Gaz. Der Mann, der zu viel redet. Sein Partner übrigens, Brian Dougans, sagt nie etwas. Man darf ihn noch nicht mal ansprechen! „Niemand spricht mit Brian“, fiel mir Gaz ins Wort, als ich Brian etwas fragen wollte. Eine faszinierende Dynamik, die die beiden da haben.

Zum ersten Mal nahmen Sie Platten ohne feste Band auf. War es Ihnen deswegen wichtig, den Appendix High Flying Birds Ihrem Namen hintanzustellen? Damit man sich nicht so ganz allein fühlt?

Die Leute, die mit mir diese Platte aufgenommen haben, sind keine Band, das ist ein loses Kollektiv aus Bekannten, dir mir einen Gefallen getan haben. Aber ja, ich möchte wieder in einer Band spielen, mit festen Mitgliedern. Und diese Band soll dann „High Flying Birds“ heißen. Ich finde den Namen kolossal! Ich würde sogar auf das „Noel Gallagher’s“ verzichten, so gut finde ich ihn. Als er mir einfiel, war ich mir sicher, dass das der beste Gedanke meines Lebens war. (lacht) Ich bin sofort zu meiner Frau und sagte: „Ich hatte grade die beste Idee aller Zeiten.“ Und was soll ich sagen? Sie gab mir recht.

Es wirkt immer so, als wäre Ihre Frau Ihr größter Kritiker.

Nein, sie hat mich von Anfang an in allem, was ich tue, unterstützt. Gut, sie ist kein großer Freund von „Stop The Clocks“. Aber das muss man schon verstehen: Das arme Ding hat mir zehn Jahre dabei zugehört, wie ich an diesem Song gebastelt habe. Sie wollte einfach, dass das Scheißding endlich abgeschlossen wird. Sonst mag sie meine Songs. Das ist in unserem Ehevertrag auch so festgesetzt: Wenn du mit Noel Gallagher verheiratet bist, musst du jeden einzelnen seiner verdammten Songs auswendig können.

Das Album klingt recht bedeutungsvoll. Die Zeit der Nonsens-Texte scheint vorbei zu sein.

Nun ja, „Dream On“ ist textlich zum Beispiel kompletter Unfug. Aber die Melodie war einfach so gut, dass ein guter Text den Song zum Explodieren gebracht hätte. Also sang ich einfach irgendwas drüber. Der Rest hat schon Bedeutung, es gibt fast so was wie ein Konzept, vielleicht ist die Platte mein persönliches The Dark Side Of The Moon (lacht): Es geht um zwei Personen, die in eine Sackgasse geraten sind – und, nein, diese zwei Personen sind nicht Liam und ich -, die weglaufen wollen. Davon handelt „The Death Of You And Me“. Sie rennen also los. Aber es ist ja nicht gesagt, dass man am Ende seiner Reise immer das findet, wonach man gesucht hat. Die zwei Leute stranden also an „The Wrong Beach“, wie der vorletzte Song heißt. Dann kommt „Stop The Clocks“ und die beiden wünschen sich, nie weggerannt zu sein. Weil ihr ursprüngliches Dilemma nicht so schlimm wie ihre Reise war.

Die alte Oasis-Weisheit: Man muss sich und sein Leben einfach akzeptieren und weitermachen. Akzeptieren Sie Ihr neues Leben?

Ich akzeptiere es und ich mache weiter. Aber es ist schwer, weil ich eigentlich keine Lust drauf habe. Ich stehe kurz vor einer Tour – Gott weiß, wie wir all die Chöre, Streicher und Bläserensembles auf der Platte live umsetzen wollen, aber es ist mir auch egal, ich war schon in einer der besten Livebands aller Zeiten, ich mach‘ es einfach, so gut ich kann. Was noch viel schlimmer für mich ist: Ich soll da auf einmal den Frontmann spielen? Wie soll ich denn das Publikum begrüßen? „Guten Abend, fucking Köln?“ Was soll ich zwischen den Songs sagen? Soll ich Witze erzählen? Ich habe keine auf Lager. Ich werde auch keine große Show auffahren. Ich bin kein Frontmann, überhaupt nicht. Ich habe meine Rolle als der, der links hinter dem Frontmann auf der Bühne steht, Gitarre spielt, ab und an was einwirft und den ein und anderen Song singt, perfektioniert. Aber jetzt allein im Rampenlicht zu stehen … wollen die Leute das überhaupt sehen?

Wie lange hat es noch mal gedauert, bis Ihre beiden Solokonzerte vergangenes Jahr in London ausverkauft waren?

Zwei Minuten.

Na also.

Da habe ich ja die Oasis-Sachen gespielt. Natürlich werde ich auch auf meinen Solokonzerten vier oder fünf Oasis-Songs spielen, wer will schon ausgebuht werden? Der Rest besteht aber aus meinem neuen Material. Ob die Leute das wirklich einen ganzen Abend lang hören wollen?

Herr Gallagher! Was ist aus dem Mann geworden, der das Großmaul seiner Generation war?

Ach, ich habe einfach keine Lust darauf, Solokünstler zu sein. Ich vermisse meine Band. Ich vermisse Oasis.

Sie bereuen es, Oasis verlassen zu haben?

Ich hätte nach dem Streit mit Liam spazieren gehen, das Konzert in Paris spielen und mich danach etwas zurückziehen sollen. Aber ich bin Ire und wenn wir rot sehen, gibt’s kein Halten mehr.

Was ist damals in Paris wirklich passiert?

Es hatte sich einfach viel Mist angesammelt: Drei Monate vor unserer letzten Tour waren Liam, unser älterer Bruder Paul und ich auf der Hochzeit eines Freundes. Um sechs Uhr morgens eröffnete mir Liam, dass er nach der Tour aussteigen wird. Nachdem ich das schon tausendmal davor gehört hatte, dachte ich mir nur: „Soll er doch!“ Dann begann die Tour und Liam wollte, dass wir sein verficktes Modelabel (Pretty Green; Anm.) in unserem Tourprogramm bewerben. Ich sagte ihm: „Wenn Coca-Cola bei uns werben will, dann sagen wir: ‚Was zahlt ihr uns?‘ Also, Liam, was zahlst du mir?“ Da ist er ausgerastet. Danach hinterließ er bedrohliche, unheimliche Botschaften auf meinem Anrufbeantworter. Als ich ihn danach fragte, behauptete er, er wisse nicht, wovon ich spreche. Ich ließ also meine Telefonnummer ändern. Daraufhin müllte er die Mailbox meiner Frau voll. Dann ließ er unseren Auftritt beim „V Festival“ platzen, sagte, er habe eine Kehlkopfentzündung. Ich unterstellte ihm, er sei nur verkatert. In Paris kam’s dann backstage zum Eklat: Er warf eine Pflaume nach mir und ich betete zum Himmel: Bitte, lass das nicht das Ende sein. Eine Pflaume wirft eine Pflaume nach mir. Dann griff Liam sich eine Gitarre und schwang sie wie eine Axt. Ich zerschlug die Gitarre, worauf ich nicht stolz bin, aber sie hätte mir echt das Gesicht wegfetzen können. Während all dem sitzt unser Bassist Andy Bell doof in der Gegend herum, starrt zu Boden und zählt pausenlos, wie viele Schuhe er trägt. Oasis gingen zu Ende und niemand schritt ein! Mit einem „Fickt euch, ich bin raus hier“ verzog ich mich, ließ mich ins Hotel fahren, rief meinen Manager an und sagte: „Das war’s!“

Bis zum endgültigen Ende standen Oasis mehrfach vor der Trennung. Haben Sie sich während dieser Zeit jemals ausgemalt, wie das perfekte Ende von Oasis aussehen müsste?

Um unsere Legende perfekt zu machen, hätten wir uns nach unseren Auftritten in Knebworth im Sommer 1996 auflösen sollen. Wir konnten unsere Popularität danach zwar beibehalten, aber wir wurden nicht mehr größer oder besser. Und wer ist schon so supercool, auf dem Höhepunkt des Erfolgs aufzuhören? Außerdem waren wir immer auf Drogen. Ich war viel zu high, um eine solche Entscheidung überhaupt treffen zu können. Ich hatte damals überhaupt keine Vorstellung davon, wie groß wir wirklich waren. Hätte ich es kapiert, wäre ich wahrscheinlich zusammengebrochen.

Kurze Zwischenfrage: Warum wurden diese legendären Konzerte in Knebworth noch nicht auf DVD veröffentlicht? Sie wurden doch professionell mitgeschnitten.

Ich weiß was, was Sie nicht wissen! Ich kann nur so viel sagen: 2015 steht der 20. Geburtstag von … Morning Glory? an.

Der mit einer fetten Deluxe-Wiederveröffentlichung inklusive einer Live-DVD gefeiert wird?

(grinst) Um auf die Frage zurückzukommen: Ich habe nie über das Ende der Band nachgedacht. Alles, was ich je wollte, war, in dieser Band zu sein. Ich wollte nie, dass es zu Ende geht.

Zunächst sah es so aus, als würde der Rest der Band unter dem Namen Oasis weitermachen.

Meinen Segen hätten Sie gehabt! Schließlich gab es Oasis schon, bevor ich dazustieß. Außerdem war der Name Liams Idee. Ich hätte kein Recht gehabt, sie von diesem Plan abzubringen.

Stellen Sie sich vor, das Beady-Eye-Album wäre unter dem Namen Oasis erschienen. Hätte das nicht die Marke Oasis beschädigt?

Unsere Fans sind doch keine Vollidioten! Die hätten den Unterschied gemerkt und klar zwischen den alten und den neuen Oasis unterscheiden können. Selbst wenn man mich mit einem Gitarristen namens Neil ersetzt hätte.

Haben Sie jemals bereut, Ihr Songwriter-Monopol bei Oasis aufgegeben zu haben?

Nein, ich habe die anderen schließlich dazu ermutigt, Songs beizusteuern. Ich wusste damals nicht mehr, worüber ich noch schreiben kann. Außerdem brachten die anderen auch ein paar wirklich gute Songs zustande: „Songbird“, „A Bell Will Ring“, „Turn Up The Sun“.

Ihnen ist vermutlich bewusst, dass Ihre Fans Zitate von Ihnen fast genauso sehr lieben wie Ihre Musik.

Ich weiß, dass Leute meine Sprüche lustig finden.

Haben Sie jemals daran gedacht, professionell zu schreiben? Ihr Tagebuch-Blog zur letzten Oasis-Tour wurde sogar ausgezeichnet.

Ich habe ja erst seit Kurzem einen Computer – Sie sollten mal sehen, wie ich eine Tastatur bediene: wie ein Höhlenmensch, der Feuer entdeckt! Den Blog habe ich auf meinem Handy geschrieben. Es würde Jahre dauern, bis ich ein Buch fertig hätte. Außerdem mag ich keine Fiktion. Harry Potter? Fuck off! Ich mag Geschichten aus dem Leben.

Sie könnten ja eine Autobiografie schreiben – oder sie jemandem, der tippen kann, diktieren. Sogar Ihr erster Drummer hat kürzlich seine Memoiren veröffentlicht.

Ein Buch über mein Leben wäre einen halben Meter dick und auf der letzten Seite würde stehen: „Und dann trat ich einer Band namens Oasis bei. Fortsetzung folgt.“ Danach müsste ich ein noch viel Dickeres schreiben. Und das hätte kein Happy End. Außerdem stehe ich grade am Anfang von etwas ganz Neuem. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ich bin erst 44. Vor meinem 65. Geburtstag möchte ich nicht zurückblicken. Und hoffentlich habe ich mit 65 bessere Dinge zu tun, als zurückzublicken. Man hat mir schon viele Angebote gemacht, über mein Leben zu schreiben, aber ich habe das nie ernsthaft in Erwägung gezogen (nimmt seine Tasse Tee und murmelt in sie hinein) … aber ich bezweifle keine Sekunde, dass meine Memoiren ein Bestseller werden würden.

Auf dem Cover von „The Death Of You And Me“ ist ein Theater zu sehen, an dem in großen Leuchtbuchstaben steht: „It’s Never Too Late To Be What U Might Have Been“.

Der Spruch passt einfach so gut: Ich bin 44 und muss noch mal von vorne anfangen. Wo wird die Reise hingehen? Es gibt zwei Möglichkeiten: Nach ungefähr zwölf Shows werde ich backstage sitzen und entweder davon überzeugt sein, dass ich besser als Elvis bin oder ich werde irgendjemanden darum bitten, mir die Finger zu brechen, damit ich nicht weiter auftreten muss. Oder ich täusche meinen Tod vor und verschwinde.

Was ist wahrscheinlicher?

Ich bin eine faule Sau. Songs schreiben, das ist keine Arbeit. Auf Tour gehen schon. Wenn mein Manager jetzt hereinkäme und mir sagte: „Pass auf, das war alles ein großes Missverständnis, es wird keine Tour geben“, dann wäre ich über alle Maßen erleichtert. Ich gehe davon aus, dass mich das Alleinsein fertigmachen wird.

Haben Sie Liams Stimme im Kopf, wenn Sie heute Lieder schreiben?

Nein, ich denke an meine Stimme. Und das ermöglicht es mir, persönlichere Texte zu schreiben. Niemand kann deine Gefühle so gut ausdrücken wie du selbst. Mit Liam war es außerdem immer so, dass ich ihm einen Song gab und erklärte, wie er ihn singen solle. Worauf er immer entgegnete: „Mir doch egal, ich singe ihn so, wie ich will.“ Aber das ist ja auch okay, schließlich ist er ein Sänger. Ich bin kein Sänger. Ich singe nicht gern. Ich kann meine Stimme nicht über längere Zeit ertragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es den Leuten damit anders geht.

„Don’t Look Back In Anger“ und „The Importance Of Being Idle“, zwei von Ihnen gesungene Oasis-Singles, waren Nummer eins.

Das waren einzelne Songs. Aber einen ganzen Abend nur meine Stimme zu hören? Puh…

Vielleicht fehlt Ihnen einfach Liams Stimme?

(Pause) Ich vermisse keine Details bei Oasis, ich vermisse Oasis als Ganzes. Oasis waren mein Sprungtuch, mein Regenschirm. Sie gaben mir Sicherheit und boten mir ein Versteck. Ich bin kein Performer. Ich wollte immer nur E-Gitarre spielen, eine Lederjacke tragen, rauchen, Drogen nehmen, mich betrinken, vögeln und in einer Rockband sein. Ich habe das alles getan. Heute tue ich nur eins von diesen Dingen: Ich rauche. Das war’s! Der Traum ist vorbei! (lacht)

So lassen wir dieses Gespräch aber nicht stehen!

Wie gesagt: Momentan fühle ich mich unwohl, vielleicht kommt ja auf der Bühne die große Erleuchtung. Aber das hängt auch von den Reaktionen ab. Wo wohnen Sie?

In Berlin.

Vielleicht kommen Sie nach meinem ersten Berlin-Konzert auf mich zu und sagen: „Wow, das war besser als fucking Elvis!“, oder eben: „Weißt du was, Noel? Ruf Liam an.“

Danke für das Gespräch.

Klar, danke Ihnen. (gibt die rechte Hand)

Vorhin gaben Sie mir die linke Hand.

Stimmt, ich hab‘ echt viele Talente. Wahrscheinlich wird alles doch nicht so schlimm.

Noel Thomas David Gallagher kam am 29. Mai 1967 als zweites Kind seiner irischen Eltern Peggy und Thomas in Longsight, Manchester zur Welt. Mit 24 stieß er zur Band seines jüngeren Bruders Liam, Oasis. Er übernahm die kreative Kontrolle und brachte die Band innerhalb von vier Jahren mit Songs wie „Live Forever“, „Wonderwall“ und „Don’t Look Back In Anger“ zu Weltruhm. 1996 spielten Oasis im englischen Knebworth an zwei aufeinanderfolgenden Tagen vor insgesamt 250.000 Menschen die bis dato größten Konzerte auf europäischem Boden. Die anhaltenden Streitigkeiten mit Liam brachten Noel Gallagher am 28. August 2009 dazu, Oasis wenige Minuten vor einem Auftritt in Paris zu verlassen. Während der Rest der Band als Beady Eye ein für Oasis‘ Verhältnisse mäßig erfolgreiches Album aufnahm und auf Tournee ging, zog sich Noel Gallagher aus der Öffentlichkeit zurück, stellte zwei Alben fertig, die nun innerhalb eines Jahres erscheinen sollen, heiratete seine langjährige Freundin Sara MacDonald und wurde zum dritten Mal Vater.