Ich war eine Platte


"Wieder mal ein Stück Autobahn asphaltiert", lacht der Händler —- und schickt die Ladenhüter an die Piattenfirma zurück. Von dort nämlich wanderte das Vinyl oft genug in den Asphalt. Doch selbst das ist in Zeiten eines geschärften Umweltbewußtseins keine Lösung mehr. Wohin also mit dem Vinyl-Müll? Wohin mit den CD-Halden? ME/Sdunds-Mitarbeiter Bob Lyng wühlte im Abfall.

Als ob wir nicht schon genug Müll hätten: Englische Umwelt-Gruppen haben ausgerechnet, daß bis zum Jahr 2000 allein in Großbritannien 9000 Tonnen unbrauchbarer, unverkäuflicher und nicht wiederverwertbarer CDs, MCs und LPs die Miillhalden des Landes zusätzlich belasten werden. Schuld daran sind nicht die Konsumenten; kaum ein Musik-Freund kommt schließlich auf die Idee, seine Platten in die Tonne zu schmeißen.

Der Musik-Müll vermehrt sich, weil immer mehr Müll-Musik veröffentlicht wird. Musik also, die keine Käufer findet. Keine andere Branche kann sich dies leisten: Nach der Statistik der Recording Industry Association of America (RIAA) erzielen Plattenfirmen mit nur 5 bis 7 Prozent aller veröffentlichten Platten einen Gewinn. Ein rundes Fünftel der Veröffentlichungen erreicht zwar den unkostendeckenden Breakeven-Punkt, kann aber nicht die Verluste ausgleichen, die durch die restlichen 75 Prozent der veröffentlichten Tonträger gemacht werden.

Im Klartext heißt das: Millionen Platten aller Art verlassen nicht mal das Lager oder werden als Ladenhüter von den Händlern retourniert. Und prompt wird damit auch der umweltbewegteste Protest-Sänger mit seinen Polit-PIatten selbst zum Umweltproblem.

Die Größenordung ist gewaltig. Allein bei der deutschen Firma EMI sammeln sich, so deren technischer Direktor Hans Herzog, jährlich etwa ¿

300 Tonnen unverkaufter Staubfänger an — darunter etwa zwei Millionen LPs.

Mit der Frage, was man mit diesem Berg von Ladenhütern tun kann, ohne die Umwelt zu belasten, setzt sich die Musikindustrie zwar schon seit Jahren auseinander, schließlich muß sie für die Entsorgung blechen. Bislang aber mit eher magerem Erfolg, denn der Stoff, aus dem die Töne sind, läßt sich so einfach nicht wiederverwerten.

Die verschiedenen Tonträgerarten werden aus sehr unterschiedlichen Kunststoffen hergestellt. Während die alten schwarzen Scheiben aus Vinyl oder, genauer gesagt. Polyvinylchlorid (PVC) gemacht werden, sind CDs aus Polycarbonat und MCs aus Polystyrol hergestellt. Im Grunde alles Materialien, die anderswo wiederverwertet werden können. Nur: „Die Probleme mit allen Arten von Recycling sind Probleme der Sortenreinheit, der Wirtschaftlichkeit und der Organisation“, erklärt Erwin Schadhauser, Fachgebietsleiter des Umwelt-Programms „PVC-Recycling“ beim Multi Wacker Chemie, Hersteller von drei Viertel allen PVCs, das in Deutschland für die Plattenherstellung gebraucht wird. „Diese PVC-Verbindung ist sehr innig, sie hält extrem lange, schließlich will kein Konsument, daß seine Schallplanen sich auflösen. Das Produkt bleibt, wie es ist, man kann PVC nicht kompostieren — und dadurch entsteht ein Mengeproblem. Die einzige Lösung ist die stoffliche Wiederverwertung; dafür ist PVC besonders gut geeignet.“

Nicht verkaufte Schokoladenosterhasen lassen sich prima umpressen und stehen Monate später in neuer Staniol-Hülle als Nikolaus wieder im Laden. Bei den LPs ist das nicht so einfach; mit dem Recycling der altbewährten Vinyl-Scheiben kommen Plattenfirmen bisher nur zum Teil zurecht. Rene Colegem, Product Control Manager beim Sony-Presswerk in Hilversum, Holland: „Bei der Pressung entsteht ein Quetschrand, der etwa 30% des Gesamt-Materials entspricht. Diesen Rand granulieren wir in einer Mühle und verwenden ihn wieder zur nächsten Pressung.“ Schwieriger ist die Wiederverwertung nicht verkaufter LPs. Diese werden, „wenn sie nicht verunreinigt sind, erst ausgestanzt und dann granuliert. Die ausgestanzten Innenteile, auf denen das Label klebt, gehen in den Scrubber, eine Art Waschanlage, die das Label entfernt, und dann in die Mühle.“

Bei EMI Electrola in Köln will man sich nun auch die Singles vorknöpfen:

„Das Ausstanzen von 1-Zoll-Platten war früher nicht wirtschaftlich“, meint EMls Hans Herzog. „Das Auspacken und Ausslanzen ist ein teurer Prozeß, der sich vom Materialwert her gar nicht lohnt, wenn man es mit normalen Arbeitskräften zu normalen Löhnen machen muß. Früher haben wir versucht, die ausgestanzten Innenteile und eingemahlenen Singles bei einem Hersteller von Fußbodenbelag unterzubringen. Er war aber nicht bereit, das PVC zu akzeptieren, weil es mit dem Karton der Labels verunreinigt war. Wir suchten eine vernünftigere Lösung.“

Diese Lösung ist um einiges raffinierter als Sonys Waschanlage, schafft sie doch gar zusätzliche Arbeitsplätze. EMI Electrola ersann gemeinsam mit Wacker Chemie und den Behinderten-Werkstätten Ruperti in Altötting ein neues Projekt. Erwin Schadhauser: „Mit unserem Plan, die Ruperti Werkstätten einen Teil der Arbeit übernehmen zu lassen, konnten wir nicht nur die Sortenreinheit des Kutiststoffs sichern und die Wirtschaftlichkeit verbessern, sondern auch bis jetzt 30 Arbeitsplätze ßr Behinderte in den Werkstätten schaffen. Wir haben ftir Ruperti ein besonderes Stanzgerät entworfen, und die Höchst AG stiftete den Werkstätten eine Mühle. Wir wollen auch Kontakte zu anderen PVCverarbeitenden Industrien herstellen und das Ganze begleiten, bis es im großen Rahmen funktioniert.“

Der Plan, der die Entsorgung von Vinylscheiben, CDs und MCs beinhaltet, sieht vor, daß EMI vorerst für zwei Jahre die noch verkaufsverpackten unverkäuflichen Tonträger zu den Ruperti Werkstätten transportiert, eine Art Entsorgungsgebühr bezahlt und sich verpflichtet, das von Ruperti gemahlene reine PVC-Granulat zurückzukaufen

Kreditkarten, Fuß- böden, Abflußrohre — beim Recyceln von Vinyl-LPs sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt

und wiederum direkt in die Herstellung von Platten zurückzuführen. Ihrerseits packen die Ruperti-Arbeiter die Tonträger aus, stanzen sie und schicken sie durch die Mühle oder suchen andere Möglichkeiten, um die Polycarbonatund Polystyrol-Produkte zu verarbeiten oder zu verwerten. Die Verpackung, die Hüllen, Innentaschen usw. versuchen Ruperti-Vertreter auf dem freien Markt wieder unterzubringen bzw. recyceln zu lassen. Wacker andererseits nimmt die ausgestanzten Innenteile an, um sie an Hersteller von Kreditkarten. Fußbodenbelägen, Möbel, Wegschilder, Röhren u.a. weiterzuleiten.

Früher lag das Rest-Vinyl sogar geradezu auf der Straße: Bis zu 30 Prozent-Granulaten, so die Vinyl-Veteranen, habe man dem Asphalt beimischen können; inzwischen sehen aber selbst die Straßenbauer beim Vinyl schwarz: Sie bevorzugen längst bessere Asphaltverbindungen. (Allenfalls in den Tartanbahnen der Sportarenen finden sich noch Vinyl-Reste — die Porosität des PVC-Granulats liefert hier die gewünschte Drainage.) Doch auch wenn das PVC-Granulat im Asphalt nicht mehr erwünscht ist — die Straßen sind noch immer mit Vinyl gepflastert, jedenfalls im Branchenjargon des Platten

Der bislang dickste Entsorgungsbrocken steht noch vor der Tür: CD-Müll ist weit hartnäckiger als Vinyl

handeis. Wird eine größere Menge unverkäuflicher Platten an den Hersteller retourniert. heißt es — nicht ohne Häme: ,Nun können sie ja wieder ein Stück Autobahn mit xyz asphaltieren!‘ Beim Vuiyl-Recychng sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Selbst Platten aus wiedergranuliertem PVC sind technisch ohne große Probleme herstellbar und klingen auch nicht schlechter. Einzig die Wirtschaftlichkeit ist entscheidend.

Mit der Vinyl-Problematik läßt es sich in der Gegenwart also ganz gut leben; ein weitaus dickerer Entsorgungs-Brocken steht aber schon vor der Tür. Die Zukunft ist, das steht fest, digital — und der CD-MüU ist wesentlich hartnäckiger. Bertelsmanns Dr. U. Swientek, Geschäftsbereichsleiter Speichermedien, in dessen Verantwortung auch die Sonopress in Gütersloh fällt, erwartet für sein Haus eine Steigerung des Umsatzanteils der CD von im Moment 40 Prozent auf 53 Prozent im Geschäftsjahr 93/94. Im selben Zeitraum wird nach seiner Einschätzung die Vinyl-Scheibe von 19 auf vier Prozent sinken, während MCs bei ca. 34 Prozent sowie andere Speichermedien bei 9 Prozent stabil bleiben werden. Dr. Harald Ahrens, Direktor Verfahrenstechnik bei Polygrams Tonträgerfabrik in Hannover, sieht deshalb einiges auf seine Firma zukommen:

„Eine direkte stoffliche Wiederverwertung des CD-Herstellungsprodukts Polycarbonat (PCB) isi im Moment noch nicht möglich. Wir können aus dem Granulat einzig die sogenannten Trays, also die grauen Träger im Inneren der Jewel-Box, herstellen, „

An dem Problem des geschlossenen Kreislaufs, also der Herstellung einer neuen aus einer alten CD, arbeiten nach Auskunft von Sevket Gäzalaan, in der Polygram-Geschäftsführung tätig, mehrere Firmen mit Hochdruck. „Polygram strebt nach einem übergreifenden Umweltmanagement. Dazu gehört auch die Mengenreduzierung. Wir arbeiten schon seit längerer Zeit an der direkten Wiederverwertung von Alt-CDs und sind auf diesem Weg schon ziemlich weit vorangekommen. Wahrscheinlich werden wir bereits im nächsten Jahr ein entsprechemies Verfahren vorstellen können.“

Auch an der Verpackungs-Menge kann gespart werden. In den USA, wo die CDs noch immer in zusätzliche „Longboxes“ eingeschweißt werden, wird der Widerstand gegen den Verpackungs-Wahn immer lauter. U2s ACHTUNG BA-BY wird denn auch schon in einer Longbox aus Umwelt-Pappe verkauft, die sich zu einem Booklet zusammenfalten läßt. In Deutschland versucht sich die Firma Metronome an umweltfreundlicheren CD-Hüllen — sie bietet in der „Nature“-Serie Silberlinge in einer Verpackung aus recycletem Altpapier an, nur noch der Tray-Clip ist aus Plastik.

Um einiges komplizierter liegt der Fall bei den Musikcassetten: Neben den Kunststoffanteilen aus Polystyrol enthalten diese ja das beschichtete Ton-Band sowie die aufgeklebten Labels. Derzeit, berichten die meisten Firmen, enden MCs mangels technischer Möglichkeiten im Verbrennungsofen. Abhilfe könnte hier eine Idee der oben erwähnten Ruperti-Werkstätten schaffen, die versuchen, gelöschte Bänder zur Weiterverwertung kommerziell nutzbar zu machen und so den geschlossenen Kreislauf auch bei MCs herzustellen.

Peter Zombik, Geschäftsführer des Bundesverbandes der phonographischen Wirtschaft, unterstützt die Bemühungen vieler Firmen auf diesem Gebiet, nachdem auch die Umwelt-Gesetze einen sparsameren Umgang mit Rohstoffen vorschreiben: „Die neuen Verordnungen zwingen nicht nur zur Rücknahme, sondern auch zur stofflichen Wiederverwertung.“

Und bei aller Umwelt-Forschung sind einige Wiederverwertungs-Ideen für die gescheiterten Erfolgsträume der Pop- und Rock-Sternchen noch nicht einmal an-gedacht. Dabei würde schon ein kleiner Blick durch die häusliche Wohnung genügen: Die alten CDs geben dekorative Glas-Untersetzer oder ein hübsches Mobile über dem Eßtisch ab, 30 übereinandergeklebte Singles dienen als schicker Kerzenständer, und mit Muttis Fön läßt sich die olle New Kids-LP kinderleicht zu einer prima Obstschale umbiegen.