Im Plattenschrank von Tom Schilling: Das sind seine Lieblingsalben
Tom Schilling hat uns verraten, was seine Lieblingsalben sind – und wie sie ihn geprägt haben.

Als Niko Fischer taumelte er in „Oh Boy“ einen Tag durch die Hauptstadt; in „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk“ rebellierte er im West-Berliner Underground der 80er gegen alles und nichts. Erich Kästners Fabian spielte er mit der gleichen Brillanz wie Gerhard Richter. Nur wenige kennen ihn hingegen als Musiker: Im April 2022 hat Tom Schilling mit seiner Band Die Andere Seite einen dunklen, fast todeslustigen Langspieler mit dem Titel EPITHYMIA veröffentlicht.
Die Uhr schlägt Nachmittag. Tom Schilling weilt in einer Domstadt am Rhein, trinkt Kölsch aus dem Brauhaus „Früh“. Gerade wartet er mit seiner Gruppe auf das letzte Konzert seiner Tour – außerdem hat er uns Anekdoten zu den wichtigsten sechs Alben aus seinem Plattenschrank mitgebracht.
Nick Cave – YOUR FUNERAL … MY TRIAL
Tom Schilling: Diese Platte von Nick Cave muss ich vorstellen! Es war die erste, die mir von ihm in die Hände gekommen ist. Ich habe sie mit 13 über eine Freundin mitgekriegt – und das Album hat mich total verändert. Ich weiß noch, wie ich ganz anders nach Hause gelaufen bin: Wie es geschneit hat und ich mich wahrscheinlich merkwürdig erwachsen gefühlt habe. Oder ich dachte, irgendein Geheimnis entdeckt zu haben.
Danach wurde ich ein richtiger Cave-Jünger; habe mich mit dem ganzen Universum befasst und dadurch noch viele andere Bands entdeckt: die Neubauten, Birthday Party – das waren dann die Sachen, die ich hoch und runter gehört habe.
Spannend, dass auch dieses Erwachsenengefühl eine Rolle gespielt hat – weil Nick Cave ja schon immer irgendwie eine alte Seele war. Konntest du dich dort wiederfinden?
Ja, wahrscheinlich. Aber in erster Linie fand ich es musikalisch, was die Harmonien und Produktion angeht, unfassbar düster. Und die Aura, die Nick Cave mit all diesen Geschichten, dem Heroin und mit Blut gemalten Cover … das hat natürlich auch viel zur Faszination beigetragen.
Leonard Cohen – SONGS OF LOVE AND HATE
Leonard Cohen lief immer bei meinen Eltern im Autoradio. Deren Musik war natürlich die erste, die ich bewusst wahrgenommen habe. Und ich kann mich erinnern, dass mir das von allem am besten gefallen hat. Diese Simplizität in der Aufnahme: Mit Kontrabass geht es bei „Avalanche“ los, dann die Gitarre und diese tiefe, warme Stimme.
Das ist ein wahnsinnig einfaches, aber sehr effektvolles Arrangement, hat mich total gekriegt. Das habe ich auf jeden Fall vielen anderen Sachen vorgezogen, die sonst so im Radio liefen. „Famous Blue Raincoat“ zählt auch zu den ersten Stücken, die ich auf der Gitarre gelernt habe.
Johnny Cash – AT FOLSOM PRISON
Das ist eine Platte, die ich sehr, sehr gut kenne: Als ich mal einen langen Urlaub gemacht habe, war sie die einzige, die ich im Auto dabei hatte. Deshalb ist sie mir total ans Herz gewachsen. Ich stehe auf Folkmusik und komme natürlich auch vom Storytelling. Ich mag Texte, die ich verstehe und die eine Geschichte erzählen. Und darin ist Johnny Cash der Meister.
Cash ist jemand gewesen, der sich in seinen Songs als Outlaw positioniert hat. Konntest du dich damit identifizieren?
So habe ich mich gar nicht gefühlt. Aber ich fand es natürlich toll, dass er von den Abhanden-Gekommenen singt. Was ich an Johnny Cash so mag, ist dieser Mut zur wirklich großen Erzählung, zur großen Geste und zu den tragischen Geschichten. Auf Deutsch wirken die oft klebrig, wenn man sie so erzählen würde – so Gunter-Gabriel-mäßig. Nichts gegen Gunter Gabriel, aber es verliert halt ein bisschen was von der Sexiness.
The Doors – STRANGE DAYS
Interessanterweise bündelt die STRANGE DAYS die übrig gebliebenen Stücke vom ersten Album. Und ich finde, die Platte ist viel besser als das Debüt. Experimenteller, besonderer, abgefahrener. Von den Sängern, die ich bis jetzt erwähnt habe, ist Jim Morrison für mich der Größte. Er hat eine unfassbare Range in seiner Stimme: Dieses Sanfte und dann ist er halt gleichzeitig auch ein Screamer. In der Chronologie der Alben sieht man, wie unterschiedlich er klingen kann. Und in jedem Feld wirkt es total glaubwürdig und schlüssig.
Haderst du als Schauspieler hin und wieder mit deinen Sangeskünsten?
Ja, aber es wird besser. Max Rieger hat einmal gesagt, dass er viel zu spät gemerkt hat, in welcher Range er gut klingt und welche Melodien zu ihm passen. Wenn man das herausfindet und letztlich seine Stimme findet – dann könnte ich mir vorstellen, meinen Frieden damit zu machen, wenn auch ein paar Blaue dabei sind.
Franz Schubert – WINTERREISE
Er ist ja so ein bisschen der Vater des gesungenen Konzeptalbums. Bevor ich darauf gestoßen bin, hatte ich eigentlich keinen wirklichen Zugang zu klassischer Musik. Aber nach dem Hören der WINTERREISE dachte ich: „Oh, das kann ja genauso viel wie Popmusik – und sogar noch mehr.“ Als ich den „Leiermann“ zum ersten Mal gehört habe, hat es mich total umgehauen. Ich habe mich oft gefragt: „Was ist wirklich das herzzerreißendste, traurigste und depressivste Stück, was ich kenne?“ Und da hatten natürlich Nick Cave und Leonard Cohen schon gut vorgelegt. Ich glaube, die waren auch alle von der deutschen Romantik beeinflusst. Auch ich habe die WINTERREISE gehört, als ich unser Album geschrieben habe. Das war so ein bisschen die Messlatte für mich – dass ich sehr, sehr traurige Musik schreiben würde.
Von allen Platten, die du bis jetzt vorgestellt hast, ist es zudem die erste in deutscher Sprache. Hat dich Schubert textlich geprägt?
Ja, auf jeden Fall. Ich rutsche immer wieder in diese Sprache der Romantik hinein. Das Versmaß, die Bilder, die Reimform – davon komme ich einfach nicht los.
Peter Doherty – GRACE/WASTELANDS
Peter Doherty halte ich für den größten lebenden Songwriter mit einem unfassbaren Talent zum Melodiebogen und zur Harmonik: Sehr einfach, manchmal twisted – aber er macht nie zu viel. Und dann singt er natürlich wie ein Engel. Sie ist auch unfassbar gut produziert, das darf man nicht vergessen: Die Streicher-Arrangements; wie alles ineinander gebaut ist – ganz große Kunst. Sehr french, es erinnert mich ein bisschen an die Klangästhetik von Jacques Dutronc oder Françoise Hardy, also Sixties French Pop. Auf dem Album ist kein Filler dabei. Nur Hits.
Ich habe ihn vor einigen Wochen interviewt. In unserem Gespräch hat er gesagt, er sei in der Produktionsphase auf dem Höhepunkt seiner Sucht gewesen. Er stand wirklich an der Klippe zum Tod.
Sehr interessant. Das Gleiche sagt man auch über TENDER PREY von Nick Cave. Irgendwie hört man es dann, dass jemand all in ist.
Kann man das verallgemeinern? Ist es dir wichtig, dass hinter der Kunst eine solche Geschichte oder Schwere steht?
Ja, ich glaube schon. Wenn ich es jetzt auf Film übertrage, dachte ich gerade: „Vielleicht stimmt das nicht.“ Weil es mir zum Beispiel bei so einem Film wie „Oh Boy“ total einfach gefallen ist, ihn zu drehen. Aber ich weiß, dass es für den Regisseur eine Matter of Life and Death war. Die Sachen, die mir richtig gut gefallen, sind meistens auf viel Widerstand und Reibung gestoßen, als sie entstanden sind.
Dieses Interview ist im MUSIKEXPRESS 08/2022 erschienen.