Im reiferen Alter haben die vier von Sonic Youth in erster Linie die Selbstverwirklichung im Sinn


Die Murray Street in Manhattan. Restaurants, Tabakläden und-das Hauptquartier von Sonic Youth. Ein weitläufiger Komplex, der als Büro, Studio, Proberaum und Ersatzteillager dient. „Früher hatten wir fürchterliche Räume, die wir uns mit anderen Bands teilen mußten, richtige Drecklöcher‘, erinnert sich Kim Gordon, die Frontfrau des Noise-Rock. Jetzt ist sie stolze Mitbesitzerin einer veritablen Firmenetage von mehreren hundert Quadratmetern Fläche. Kims Lieblingsraum ist das sogenannte Klavierzimmer, in dem ein schwarzer, leicht verstimmter Klimperkasten steht, das aber in Wirklichkeit als Ruhezone für schonungsbedürftige Musiker dient. Denn Schonungsbedarf ist im Hause Sonic Youth durchaus vorhanden. „Schließlich erledigen wir alles alleine“, erklärt Kim Gordon die schlichte Notwendigkeit, von Zeit zu Zeit auch mal zu entspannen. „Wir buchen unsere Tourneen, wählen die Vorgruppen aus und veröffentlichen, was wir wollen.“

Obwohl selbst bei einer großen Plattenfirma unter Vertrag, suchen Sonic Youth bis heute bewußt die Abgrenzung zur Musikindustrie. „Schau Dir nur an, was derzeit bei den Major-Labels erscheint“, ereifert Kim Gordon sich, „der völlige Einheitsbrei. Wirklich interessante Musik kommt nur noch aus dem Underground.“ Kein Wunder also, daß jedes Mitglied von Sonic Youth zugleich auch sein eigener Talentscout und Labelbetreiber ist-was sich letztlich wieder auf den Sound der ganzen Gruppe auswirkt. So wird die experimentelle Ausrichtung des aktuellen Albums von Sonic Youth („AThousand Leaves“) lediglich von der Single „Sunday“ aufgefangen.“Wir haben einfach das Interesse am Rock verloren“, gesteht Kim Gordon, „dabei hat jeder von uns erwartet, daß wir die zweiten Nirvana würden.“

Inzwischen nutzen Sonic Youth jede sich bietende Gelegenheit, um ihre Andersartigkeit unter Beweis zu stellen. Dazu zählen auch drei unscheinbar verpackte EPs, die unlängst auf dem SYR-Label von Gitarrist Thurston Moore erschienen sind. Die Platten sind Teil einer losen Serie von Veröffentlichungen mit teils wundersamem Charakter. Da ist zum Beispiel der Track mit dem holländischen Titel „Slaapkamers Met Slagroom“ („Schlafzimmer mit Schlagsahne“) oder auch eine Nummer in Esperanto. „Zum Abwaschen und Bügeln ist diese Musik geradezu ideal“, scherzt Kim Gordon, „zum morgendlichen Fitness-Training aber eher ungeeignet. Eine charmante Umschreibung für sphärische Klanggebilde fernab konventioneller Songstrukturen, für diffuse Geräuschpartikel und ohrenbetäubendes Feedback.

Dagegen mutet der eigene Albumneuling von Sonic Youth bei aller Experimentierfreudigkeit geradezu versöhnlich an. Was an „A Thousand Leaves“ besonders auffällt: Die Songs klingen ungewohnt melancholisch. „Diese Stimmung hat mir eigentlich schon immer gefallen“, erzählt Kim und verweist auf eine Coverversion von Leonard Cohens „Dress Rehearsal Rag“, die Gordon und die Ihren erst vor wenigen Tagen aufgenommen haben. Überhaupt hält der Trend zur Selbstverwirklichung, zu einem selbstbestimmten Leben zwischen Klang, Kunst und Krach, bei Sonic Youth unvermindert an.So plant Thurston Moore, der bereits als Remixer für Blur, Can und Yoko Ono arbeitete, nicht nur weitere Aktivitäten als Produzent, sondern zudem auch noch ein Sonic Youth-Fanzine namens „New Grass“. Zuvor allerdings tritt er im Filmdebüt von Michael Stipe (R.E.M.) auf. In dem Streifen „Velvet Goldmine“ gibt Moore den Gitarristen einer Glamrockband aus den 70er Jahren: „Wir heißen The Loud Rats und spielen die ersten beiden Stooges-Alben nach. Leider kommen wir in dem Film nur ganze fünf Sekunden zum Einsatz. Von daher haben wir uns entschieden, den Rest des Materials in Eigenregie herauszubringen.“

Zunächst aber gilt die Aufmerksamkeit von Sonic Youth der Veröffentlichung von „A Thousand Leaves“ mit seinen teils sperrigen Klängen. „Klar, diese Platte könnte sich als kommerzieller Selbstmord erweisen“, meint Moore, der eine Vorliebe hat für deutsche Bands wie Can, Kraftwerk und Faust. Doch Sekunden später hat er bereits die Lösung des möglichen Problems parat: „Las Vegas-Rock können wir immer noch spielen.“