Immer anders, immer gleich


Über 100 EPs, Studio-, Live- und Compilationalben von 1976 bis heute. Das Gesamtwerk der archetypischen Post- Punk-Band The Fall ist so durchschaubar wie ihre einzige personelle Konstante: Mark B. Smith. Kettenraucher, Trinker, Sänger, Texter, Zyniker, Zeitkritiker. Es folgen zwölf Alben-Empfehlungen zum Einstieg in die wunderbare Welt von The Fall, auch um das Urteil des wahrscheinlich bekanntesten Fans der Band, John Peel, zu überprüfen: "The Fall - always different, always the same!"

LIVE AT THE WITCH TRIALS (1979) Auftritt Mark Edward Smith. Nicht das beste Album der Frühphase, aber die Eintrittskarte in die wunderbare Welt von The Fall. Dieses Debütalbum ist noch sehr Punk-beeinflusst, aber schon rudimentär mit den Merkmalen ausgestattet, die in den kommenden drei Jahrzehnten die Musik der Band bestimmen und unverwechselbar machen werden: Mark E. Smiths affektierter Nichtgesang, Punk-beeinflusste, hektische, semi-aggressive Musik, in der Smiths Vorliebe für Krautrock und archaischen Rock’n’Roll bereits durchschimmert. 4

GROTESQUE (AFTER THE GRAMME) (1980) Ein Rockabilly-Art-Rock-Captain-Beefheart-Punk-Song („Pay Your Rates“) eröffnet dieses erste Meisterstück der Band (hier erstmals mit dem Schlagzeuger Paul Hanley, der damals 16 Jahre alt war). Mark E. Smith begründet auf grotesque (after the Gramme) seine Kunst als beißender, sarkastischer und surrealistischer zeit- und sozialkritischer Texter. Musikalisch gibt es stolpernden, minimalistischen Post-Punk, hart an der Grenze zur Avantgarde, gerne auch ausufernd instrumental („New Face In Hell“, „C’n’C-S Mithering“). Ein paar Jahre früher hat man so was noch naserümpfend „Jam“ genannt. 5,5

HEX ENDUCTION HOUR (1982) Die Fortführung von grotesque (after the Gramme) mit anderen Mitteln. Hier schleicht sich der Pop in die Melodien ein, die freilich immer noch von einem unvorhersehbaren, jederzeit an den Seiten ausbrechenden Maelstrotn aus Gitarren, Keyboards und Sounds aus manipulierten Tapes begleitet werden. Der Anti-Rockkritiker-Song „Hip Priest“ mit seinem atmosphärischen Minimalismus taucht neun Jahre später auf dem Soundtrack von „Das Schweigen der Lämmer“ wieder auf. Das erste Fall-Album, das in die britischen Charts kommt. Immerhin bis Platz 71. 5,5

THE WONDERFUL AND FRIGHTENING WORLD OF THE FALL (1984) Vielleicht das Verdienst von Überproduzent John Leckie, dass die Musik auf the wonderFUL AND FRIGHTENING WORLD OF THE FALL in „geordneteren Bahnen“ verläuft, ohne dass ihr grantiger Charme dabei verloren geht. Die Hälfte der Songs wurde von Smiths damaliger Ehefrau Brix mitgeschrieben. Der Punkabilly-Wahnsinn „Lay Of The Land“ weist den Weg zu einer Platte voller Hits. Darunter: „Elves“, ein morbides Songdrama, das um das Riff von „I Wanna Be Your Dog“ der Stooges kreist. Gastauftritt: Gavin Friday (Virgin Prunes) auf „Copped It“. 5,5

THIS NATION’S SAVING GRACE (1985) Nicht nur die Lieblings-Fail-Platte von James Murphy (LCD Soundsystern). Eine kakophonische Urgewalt aus verzerrten Gitarren, Brüchen, Tempo- und Stimmungswechseln, aber auch die Andeutung erster Diversifikationstendenzen: das progig-bombastische Instrumental-Intro „Mansion“, das lyrisch-milde „L.A.“, „To Nkroachment: Yarbles“, die vokale Umarbeitung des ersten Songs. Brix Smith liefert den besonderen Twang auf der Gitarre, während sich MES vor Can verbeugt: „I Am Damo Suzuki“. The Fall – always different, always the same. 6

THE FRENZ EXPERIMENT (1988) Der Aufstieg auf das nächsthöhere musikalische Level: Minimalistische Arrangements und bis zum Exzess wiederholte musikalische Figuren bestimmten das Bild von the Frenz Experiment. „Athlete Cured“ „leiht“ sich das Riff aus „Tonight I’m Gonna Rock You Tonight“ von Spinal Tap. Die Kinks-Coverversion „Victoria“ strahlt in schludriger Charmanz. Und „Bremen Nacht“ inklusive Saxophonbegleitung (!) klingt wie die Vorahnung von zeitgenössischem Electro Funk. Das erste Top-20-Album von The Fall in den britischen Charts (Platz 19). 4,5

EXTRICATE (1990) Die Scheidung von Brix und ihr Ausscheiden aus der Band fordert zwangsläufig eine Änderung des Fall-Sounds: mehr Synthesizer, weniger (verzerrte) Gitarren. „Telephone Thing“ ist ein (heute wieder hochaktuelles) Tribut an den Manchester-Rave. „Bill Is Dead“, eine Ballade, ein Liebeslied (!), stand damals auf Platz 1 von John Peels Jahrescharts. Dazu; „Black Monk Theme“, eine Coverversion der Monks gut 15 Jahre vor ihrer hip-priesterlichen Wiederentdeckung. Oder anders: extricate ist das beste Fall-Album aus den 90er-Jahren. 5

IT’S THE NEW THING! THE STEP FORWARD YEARS (2003) Eine Compilation mit Tracks von den vier Non-Album-Singles („Bingo-Master’s Breakout!“, „It’s The New Thing“, „Rowche Rumble“, „Fiery Jack“) und den zwei Alben, die The Fall von 1978 bis 1980 für das Step-Forward-Label aufgenommen haben. Eine gute Möglichkeit, um zu erfahren, wie die frühen The Fall in der Zeit vor ihrem ersten Album geklungen haben. 4

THE REAL NEW FALL L.P. (FORMERLY COUNTRY ON THE CLICK) (2003) Der Beginn einer Serie von exzellenten Fall-Platten in den ooer-Jahren. Der Albumtitel bezieht sich darauf, dass Mark E. Smith die Urversion der Platte zurückgezogen, die Songs teilweise remixt und neu aufgenommen hatte, nachdem sie im Internet aufgetaucht waren. Elena Poulou, neue Keyboarderin, neue Backingsängerin und neue Mrs. Smith, tut der Sache gut. Zum Beispiel in „Theme From Sparta F.C.“, dem besten Fußball-Song aller Zeiten. Ein giftiges, scharfkantiges, hochexplosives Album aus Punk-infiziertem Fall-Sound („Contraflow“) und flirrenden elektronischen Beigaben („Green Eyed-Loco-Man“), das auch für die Konkurrenz ein Referenzmodell darstellt. Im Jahr eins nach The Libertines. 5

THE COMPLETE PEEL SESSIONS 1978-2004 (2005) Keine andere Band hat so viele Radiosessions für den britischen DJ John Peel (1939-2004) aufgenommen wie The Fall. Hier sind sie alle 24 in einer handlichen Box. Sechs CDs, 97 Songs, Wunderbares und Wundersames aus 26 Jahren The Fall. Jeder „wichtige“ Fall-Song (teils in dramatisch unterschiedlichen Versionen) plus Coverversionen von Lee „Scratch“ Perry, Monks, Lee Hazlewood, Captain Beefheart, The Saints. 6

FALL HEADS ROLL (2005) Manche werden später besser, fall heads roll ist Electro-Rock ohne Electro, mit teil weise zwar schmerzhafter, aber karthartischer Wirkung. Hypnotisch, repetitiv, latent aggressiv und giftig. Elena Poulous quietschender Vintage-Synthesizer gibt der Fall-Musik eine neue Nebenwirkung. „I Can Hear The Grass Grow“, der Lobgesang auf halluzinogene Drogen von The Move aus den 60ern, kommt hier als angepsychter Punk-Song. „What About Us“ „Blindness“ und „Early Days Of Channel Führer“ sind drei Songs für die ewige Fall-Top-20. 5,5

REFORMATION POST TLC (2007) Album Nummer 26 in Jahr 31 bleibt stellenweise im Fahrwasser des Vorgängers fall heads roll („Reformation!“, „Fall Sound“), öffnet sich aber auch wieder den verschiedensten musikalischen Wunderlichkeiten: die von Can beeinflusste Kakophonie „Das Boat“; das countryfolkige Cover von Merle Haggards „White Line Fever“. Der „Insult Song“ klingt nach Captain Beefheart und thematisiert den Rausschmiss dreier Bandmitgiieder mitten in einer US-Tournee, die Smith als „traitors, litars and cunts“ (= TLC) diffamiert. Das Lied steht exemplarisch für Mark E. Smiths hohe Kunst der assoziativen Lyrik. 5 a

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