Jazz-Szene New York


New York war die erste Stadt in den USA, in der die neue Rockmusik — Punk und New Wave Fuß faßte. Eine ähnliche Entwicklung vollzieht sich derzeit in der Jazz-Szene: Auch hier ist New York der Ort, an dem neue, alternative Entwicklungen sichtbar werden. Werner Panke flog für den Musik Express in die riesige Metropole an der amerikanischen Ostküste und entdeckte Musiker, die nicht in etablierten Clubs oder Konzerthallen auftreten, sondern auf den Dachböden schäbiger Mietshäuser. In New York steht für Dachboden das Wort“.loft“. Und „Loft-Scene“ heißt deshalb auch der musikalische Untergrund, der sich schon bald als Zukunft des Jazz entpuppen könnte.

Wilde Blumen einer ganz eigenen Gattung sprießen in den heißen Straßenschluchten von Manhattan. Im unteren Teil der Felseninsel, wo die City am bedrohlichsten, aber auch am aufregendsten ist. Hier sorgen Hausbesitzergefräßigkeit und auswuchernde Urbanität im „dikken Apfel“, wie New York gerne appetitlich angepriesen wird, für täglich absterbende Zellen in einer faulenden Stadt. Diese toten Zellen einer Gesellschaft mit höllischem Existenzkampf, aber auch nahezu unbegrenzter Toleranz, diese Zellen füllen einige Dutzend Musiker mit frischem Blut, mit neuem Leben auf. Inzwischen ist die Loft-Scene zu einem Markenzeichen von einzigartiger Qualität gediehen. Die Jazz-Lofts sind erquickende Oasen im „Drive-in-Babylon“ von New York City.

Hier trifft man auf schöpferische Persönlichkeiten, wie man sie in den etabüerten Jazzclubs, etwa im „Vollage Vanguar“ oder „Village Gate“, bei „Sweet Basü“ oder im „Storyville“ nicht zu hören bekommt. Als so fruchtbar hat sich die Zellteilung herumgesprochen, daß Musiker aus allen amerikanischen Bundesstaaten sich wie Bienen zur Vollblüte angezogen fühlen. Sämtlich sind sie hochkarätige Vertreter der improvisierten Musik Nordamerikas, ja der ganzen Welt. Sie summieren sich zu einer geballten Ladung kreativer Energie.

Raus aus den Kellern, rauf auf die Dachböden, lautet die Devise, auch wenn mancher Loft in der Parterre liegt. Downtown, im East Village vorzugsweise und an der Lower East Side, finden sich diese Lokalitäten. Meist verlassen von kleinen Gewerbetreibenden, die aus der mit hohen Steuern belegten City in kostengünstigere Außenbezirke flüchten oder ganz einfach kapitulieren. Zwar nicht sehr komfortabel, aber sonst wie geschaffen für Musiker auf Reviersuche; ausnehmend geräumig zumeist, oft sogar mehrstöckig und — vor allem — preiswert.

In den Lofts spielt der Uhrzeiger keine Rolle mehr

Mit diesen Lofts übernehmen die Musiker — erstmals in der Jazzgeschichte – die Produktionsmittel selber: losgelöst vom profitgierigen Rasseln der Registrierkassen und unbehelligt vom Tickern des Uhrzeigers, der an Pünktlichkeit beim Job im herkömmlichen Nachtklub erinnert. Frei sind die Musiker zum Spiel in relaxter Stimmung, frei für Experimente auch. Befreit sind die Besucher von hohen Getränkepreisen; das Bier kostet vielleicht 65 Cent (1,75 Dollar in kommerziellen Läden); der Eintritt, oft schamhaft als „Donation“ versteckt, übersteigt selten 2,50 Dollar. Schon solche Äußerlichkeiten schaffen der zeitgenössischen Musik die Bedingungen, um weiter und vor allem angemessen verbreitet zu werden.

Jeder Stil der Jazzgeschichte hatte seine soziographischen Bezugspunkte. In New Orleans war es der „Red Light District“ zwischen Schuhputzstand und Bordell, in Chicago die „Speakeasies“ illegaler Distillen; Bigbands swingten in vornehmen Ballsälen, hetzende Bebop-Phrasen wurden in der 52.Straße gehaspelt, kühle Studioatmosphäre begünstige den Cool Jazz. Heute nun sind die Lofts von New York der Platz, an dem sich etwas tut.

Ziemlich zwanglos geht es drinnen zu — „Pleeze take Ya shoes uf!“ -, zu spät kommt man fast nie. Schwierigkeiten gibt es hier und da wegen der Lautstärke mit den Nachbarn. Toleranter sind zwar die Bewohner von Harlem, doch die fahren eher auf die Commodores und Aretha Franklin ab. Hier aber, in diesen Lofts, spielt sich zur Zeit die Weiterentwicklung der zeitgenössischen improvisierten Musik ab.

Besonders interessant ist dabei die ungeheure Vielfalt dieser zweiten Jazz-Generation nach dem Free-Jazz. Da knüpft der Flötist Henry Threatgill vom Trio „Air“ duftige Klanggewebe und der Bassist Bob Reid schreit mit seinem „Emergency Sound‘ blutigen Free Jazz heraus. Typisch sind Philip Wilson, ein Schlagzeuger, der zurückhaltend bis zu kauip noch wahrnehmbaren Tupfern und dennoch kraftvoll trommelt. Und Michael Jackson, der die Gitarrentöne so sanft anschneidet, daß man sich wundert, wie eigentlich sie entstehen, der aber dennoch vital „losgeht“. Der Ausdruck der Musiker gewinnt also an Nuancenreichtum und Bandbreite.

Übrigens war Ornette Coleman einer der ersten Jazz-Musiker mit eigenem Podium. In der Price Street 131 nämlich, wo er 1969 sein Album mit „Friends And Neighbours“ live auf der Straße einspielte. Jetzt will er seinen Loft abstoßen.

Eigentlich hat der Hausherr Geburtstag; was an Dollars in der Kasse klimpert, vermacht er der jazzfreundlichen Radiostation WKCR. Gäste und Musiker entspannen sich, irgendwann setzt die Musik ein, alles braucht seine Zeit. Dort oben glaubt man nicht, daß unten Asphalt und Verbrechen brodeln . Selbst das Klo hat seine Attraktion: von dort aus genießt man nämlich eines der atemberaubensten Panoramas über die glitzernde Skyline.

800 Dollar Miete zahlt John Fischer für die fast 400 Quadratmeter; die Räume hat er von den Brubeck-Söhnen übernommen. An städtischen Subventionen hatte er heuer 4.000 Dollar; voriges Jahr waren’s noch 5.000. Auflagen dazu werden keine erhoben, nur ein non-Profit-Unternehmen muß es sein.

John Fischer, in Belgien geboren und aufgewachsen (erst 1954 kam er nach New York) ist eine der augenblicklichsten Hautpfiguren der Loft Scene, wie man auch zu seinem Klavierspiel stehen mag. Er hat gute Beziehungen zum „National Endowment of the Arts“, denn er hat als bildender Künstler einen Namen errungen, indem er sein Publikum beim Kneten von Plastiken aus Brot selber Hand anlegen ließ. Das Publikum im „Environ“ klassifiziert Fischer als junge, gebildete Leute der Mittelschicht, mitnichten Proletarier und fast ausschließlich Weiße.

Anteilmäßig mehr Schwarze sieht man im „Studio Rivbea“, 24 Bond Street. Früher war hier ein Einzelhandelsgeschäft, das Schaufenster erinnert noch daran. In den Anfangsjahren konzertierte Eigentümer Sam Rivers im Keller, heute zu ebener Erde, weshalb der Begriff Loft hier nicht ganz zutrifft. Seine hübsche Frau heißt Bea, daher die Namenskonstruktion. Seit dem 1. Januar 1970 wohnt und spielt Rivers hier; 1.000 Dollar Miete zahlt er monatlich, bis zu 200 Gäste passen ins „Studio“.

Weiter oben auf dem Stadtplan, wo die Straßen nummeriert sind, liegt in der 21. Straße, westlich vom Broadway, Nr. 151, das „Studio WIS“, im kleinsten aller Lofts. Für gut 70 Quadratmeter im dritten Stock, eher eine Wohnung eigentlich, zahlt Warren Smith nur 150 Dollar; mehr darf ihm laut Gesetz nicht abverlangt werden, weil er schon über zehn Jahre hier haust. Früher war hier eine Jeans-Näherei, nebenan rattern die Nähmaschinen noch. Einen hinderlichen Nachteil hat dieser Loft: Um 23 Uhr wollen die Nachbarn Ruhe haben.

In der fast vornehmen Gegend des Madison Square Parks liegt an der 23. Straße das von dem Saxophonisten Mike Morgenstern für 400 Dollar geheuerte „Jazzmania“ im vierten Stock mit Atelierfenstern. Es ist der wohl gepflegteste und am geschmackvollsten eingerichtete Loft; eine warme Atmosphäre lullt den Besucher ein. Man gewinnt den Eindruck, dies sei eher die Spielstube eines Millionärssöhnchens. Doch Mike versichert, daß er lediglich in angenehmer Umgebung musizieren will – gezähmter Bebop wird hier gepflegt. Zuschüsse kriegt er nicht, will er auch nicht. Seine Veranstaltungen umschreibt er, immer kultiviert, als „Jazzparties“.

Matratzen im achten Stock, ein mieses Klavier und eine hervorragende Klimaanlage

Im achten Stock an der 17. Straße, Nummer 40 West, bei schon mal streikendem Lift, hat der Baritonsaxophonist Charles Tyler „The Brook“ eingerichtet, 750 Dollar Monatsmiete. Große Matratzen laden zu entspannter Liegehaltung beim Zuhören ein. Dann gibt es noch das „Ladie’s Fort“ des Sängers Joe Lee Wilson in der Bond Street mit einem katastrophalen Klavier, aber funktionierender Klimaanlage, „Barabara’s Room“ in der 3. Straße, das „Sunrise“, „The Kitchen“ und „La Mama Appendix“, ein Wurmfortsatz der Theatertruppe gleichen Namens. Praktisch sind all diese Lokalitäten zu Fuß abzuklappern.

Eine Außenseiterrolle in mancher Beziehung stellte das „Studio WE“ dar. Seit 1967 existiert es in der Eldridge Street 193, in einerGegend, wo während desjüngsten „Blackouts katastrophale Plünderungsschäden angerichtet wurden. Hier lang trauen sich selbst Ortskundige kaum, auch ich wurde nach einem Besuch des „Studio WE“ zusammengeschlagen. Gerade in diesem ruinösen Notstandsgebiet aber scheint solch ein „kommunales Musikprojekt“ am nötigsten. Von Etage zu Etage nahm die Kommune mit der Zeit alle sechs Stockwerke des Hauses in Beschlag. Fünfmal die Woche wird hier gejazzt. James du Boise, Trompeter und Direktor des Studios, weiß sich mit bis zu 200 Musikern assoziiert, darunter drei kompletten Bigbands. Und sie aktivieren etwas, was man hier „Stadtteilarbeit“ nennen würde, in Parks, in den Vororten Queens, Bronx und Brooklyn, mit ganzen Serien, auch in Schulen und Gefängnissen. Von dieser furchterregend vergammelten Straßenecke geht eine Regsamkeit aus, die andere Lofts erblassen lassen könnte vor Neid und es wohl auch tut, denn wie anders wären abfällige Tuscheleien und Ignoranz zu verstehen. Unschätzbar sind die Arbeiten der „WE“-Aktivisten. Darum auch scheint die Subvention, mindestens 10.000 Dollar jährlich (von drei Behörden), angemessen und begrüßenswert.

Bei allen positiven Eindrücken ist allerdings nicht zu übersehen, daß die augenblickliche Entwicklung der Loft-Musik in Eklektizismus stagniert. Alte Bebopthemen werden unverhohlen wieder eingeübt und Parker-Soli studiert. Sänger haben seltsamerweise Hochkonjunktur.

Das „Studio WE“ erstreckt sich über sechs Stockwerke — ein Loft für Musik und soziale Aktivitäten in drei Stadtteilen Nach dem letzten – etablierten – Newport-Festival lag die Loft Scene beträchtlich darnieder. Einige Läden schlössen vorübergehend. Einerseits war die Szene konsterniert nach dem Erfolg des Hochkömmlings John Fischer. Klar ist andererseits, daß der allmächtige lmpressario George Wein jetzt auch Loftmusiker in sein Jazz-Imperium zu locken versucht, was viele verunsichert. Gleichwohl meldete die Jazz-Zeitschrift „Down Beat“ noch im August, die Loftjazz-Bewegung sei „weiter im Wachsen“.

John Fischer wünscht sich eine Organisation aller Loftbesitzer, um schädliche Übergriffen abzuwehren und wichtigere Ziele anzugehen. Vieles könnte erleichtert werden, hofft er: gemeinsame Inserate, Programmkoordination, Newcomerförderung, Subventionsforderungen und dergleichen. Auch derSchlagzeuger und Jazz-Ideologe Stanley Crouch meint: „Kannst du dir vorstellen, daß Charlie Parker vormittags Plakate geklebt und nachmittags Pamphlete verfaßt hätte?“ Darin sind den amerikanischen Kollegen europäische, antikapitalistisch motivierte Musiker voraus, in Schweden etwa, in Holland und, im Keim wenigstens, auch in Westdeutschland.

Dokumentiert ist die Loft Scene übrigens auf fünf Langspielplatten (Douglas NBLP 7045 -49) mit 60 Musikern aus 22 Konzerten im „Studio Rivbea“ vom Mai 1976. Und die Berliner Jazztage widmeten der Loft Scene Anfang November ein allerdings ganz und gar nicht repräsentatives Konzert mit den Gruppen von Sam Rivers und John Fischer.

W.P.