Jazzkantine – Großfamilie


37 Musiker aus acht Nationen haben nach einem Geheimrezept ihr ganz eigenes Süppchen gekocht. Es ist so lecker, daß in der Jazzkantine nun Hochbetrieb herrscht.

ORTSTERMIN IN BRAUNSCHWEIG. VOR EINEM unauffälligen Hinterhof steht das Schild „Monofon Produktionsgesellschaft“. Dahinter eine bestens renovierte Lagerhalle, hell und freundlich: die Jazzkantine. Oder besser: das Hauptquartier des Vorzeige-Fusion-Projekts aus Deutschland. Gepflegtes Chaos auf einem riesigen Schreibtisch, Pizzaschachteln auf dem Fußboden – das deutet auf viel Arbeit und wenig Zeit hin. Aus dem Aufnahmeraum heraus hört man Songs aus „Geheimrezept“, dem neuen Album der Jazzkantine. Einige Mitglieder der Stammbesetzung hören sich die gerade fertig gewordene CD noch einmal an. Außerdem stehen Proben für die Präsentation der Platte vor Publikum an. Doch jetzt, nachdem der Besuch eingetroffen ist, hält Chefkoch Christian Eitner erst mal eine kleine Führung für angebracht, denn der Umzug in die neuen Räume liegt noch gar nicht so lange zurück.

Bis es soweit war, mußten DJ Ole Sander, Multitalent Christian Eitner und Organisator Matthias Lanzer aber erst einen weiten Weg zurücklegen. Sander arbeitete als Hemdenverkäufer, bevor er Ende der achtziger Jahre DJ in der Braunschweiger HipHop-Disco „V“ wurde. Dort lernte er Eitner kennen, den Freund seiner Schwester. Matthias Lanzer, Macher des Magazins „Rap Nation“ und Mastermind des gleichnamigen Labels, war der Dritte im Bunde. Vertrauen baute sich auf, als Sander und Eitner ihr eigenes Studio gründeten und Lanzer der einzige war, der seine Rechnungen pünktlich bezahlte. Die Bands, die bei Sander und Eitner aufnahmen, hießen Phase 5 oder State Of Departmentz und zählten zur ersten Welle junger Rapper aus Deutschland. Doch Eitner, Sander und Lanzer hatten ihre eigenen Sound-Vorstellungen. Sie träumten von einer stimmigen Verbindung aus Jazz und Funk, Soul und Rap, vorgetragen am besten von einer veritablen Big Band. Im November 1993 nahm die Vision Gestalt an. Lanzer nutzte seine erstklassigen Verbindungen zur HipHop-Szene, Eitner kontaktierte Jazz-, Soulund Funk-Musiker. So landete schließlich ein Rapper wie Aleksey (Phase 5) neben dem gestandenen Chartbreaker Smudo und die Jazz-Koryphäe Gunter Hampel neben der Crossover-Band Such A Surge. Alle Beteiligten merkten schnell,daß der besondere Reiz ihres Zusammentreffens in ihren unterschiedlichen musikalischen Ansätzen lag. Auf diese Weise entstand ein musikalischer Mix, der bis dahin fast nur im Ausland gepflegt worden war.

Von Jazzmatazz zum Beispiel, jener Band, an der sich die Jazzkantine mißt, ohne das Projekt um den Musiker namens Guru kopieren zu wollen. Doch Eitners Anfänge als Musiker reichen viel weiter zurück: „Nachdem ich als Teenager ‚Hey Joe‘ von Hendrix gespielt hatte, veränderte sich mein Leben. Hinzu kam, daß mein Vater den Jazz

liebte. Dadurch wurde ich zwar kein Fachmann auf diesem Gebiet, aber immerhin ein Liebhaber der Musik. Jazz ist Sound, Lebensgefühl und Botschaft gleichermaßen, so ähnlich wie heute der HipHop.“ Bei allem Respekt vor den Helden des Herrn Papa ließ es der junge Christian Eitner natürlich auch kräftig krachen: „Bei einem Auftritt von Motörhead stand ich selbstverständlich ganz vorn.“ Auch sonst spielte Musik in Eitners Leben die erste Geige. So ließ er als Mitglied einer Band namens Sweet Glitter den Sound der Seventies hochleben: „Die Hauptsache war und ist doch immer, Spaß an der Sache zu haben.“

Später – als Teil von Sander, Lanzer und Eitner – wurde für Christian aus Spaß profesioneller Ernst. Und der bekam prompt einen Namen: Jazzkantine. Ein Plattenvertrag ließ nicht lange auf sich warten: „Wir trafen wohl den Nerv der Zeit“, meint Multi-Instrumentalist Eitner rückblickend, „denn selbst ohne Singlehit schafften wir den Einzug in die Albumcharts und verkauften über 100.000 Platten und jede Menge Konzerttickets.“ Auch die Kritiker spendeten reichlich Beifall, mal abgesehen von den Puristen aus Jazz und HipHop, die als Verfechter der jeweils reinen Lehre die schamlose Fusion der Jazzkantine als Frevel verteufelten. Das Fundament aber war gelegt, und die Chemie der Musiker – darunter etliche Gäste mit viel Freiraum für Improvisation – stimmte. Jazzelemente verbündeten sich auf fulminante Weise mit Funk, Scratches und Rap. Und so geriet auch Album Nr. 2 („Heiß und fettig“) zu einem beachtlichen Erfolg. Die Folge: mehr Konzerte in größeren Hallen. Fortan fuhren drei Musikergenerationen mit dem Bus durch Deutschland. Das Zusammengehörigkeitsgefühl, das dabei entstand, hält bis heute an. Cappuccino, der mit „Du fehlst mir“ gerade solo sehr erfolgreich ist, fast das gemeinschaftliche Feeling so zusammen: „Ich habe mich wahnsinnig gefreut, als es endlich wieder losging, denn die Truppe ist mittlerweile eine richtige Familie für mich.“

Dennoch: Nach den ersten 200 Konzerten und der Doppel-CD „Frisch gepreßt & live“ kehrte in der Jazzkantine erst mal Ruhe ein. „Wir waren ausgebrannt und mußten uns neu orientieren“, erinnert Christian Eitner sich. Also drehte man das Kantinenschild kurzerhand auf „Geschlossen“ und holte in aller Ruhe Luft – nur so lange jedoch, bis man sich auf das „Geheimrezept“ besann. Für ihr drittes Studioalbum verpflichteten Kantinenkopf Eitner und seine Braunschweiger Mitstreiter wieder eine Vielzahl von prominenten Gastköchen.“Dank seines Erfolges hat sich der Name Jazzkantine mittlerweile etabliert“, freut Eitner sich, „deshalb raten manche Plattenfirmen ihren Künstlern auch, bei uns mitzumachen.“ Auf diese Weise kam für die neue CD eine musikalische Mannschaft zusammen.die ihresgleichen sucht. Neben Stammgästen wie dem Jazzer Gunter Hampel und Smudo von den Fantastischen Vier statteten Technopionier Westbam und James Brown-Bläser Pee Wee Ellis der Jazzkantine einen Besuch ab. Doch damit nicht genug. Auch Helge Schneiders Hammond-Mann Buddy Casino war mit von der Partie, dazu Rapper wie der Japaner Gaku und Der Wolf aus Dortmund, die Jazzer Nils Landgren und Till Brönner sowie als very Special guest 01′ Dirty Bastard vom berühmt-berüchtigten Wu-Tang Clan. Insgesamt wurde das „Geheimrezept“ von 37 Musikern aus acht Nationen ersonnen.

Stand die Teilnahme etlicher Gastköche von Anfang an fest, so prangte hinter dem Namen 0l‘ Dirty Bastard längere Zeit ein fettes Fragezeichen. „Wir waren seit langem an ODB dran“, erinnert sich Kantinenproducer Christian Eitner, „und während der Deutschlandtour des Wu-Tang Clans sollte seine Teilnahme denn auch über die Bühne gehen. Aber dann kam keine Bestätigung, so daß wir gleichzeitig ein Studio in Berlin und eins in Hamburg buchen mußten. Plötzlich hieß es ‚Berlin‘. Also hasteten wir in den Zug und rasten ins Studio, um dann erst mal stundenlang zu warten. Zwischendurch kappten wir bis auf einen Anschluß alle Telefonverbindungen, weil wir gehört hatten, daß der Clan in nur einer Nacht 12.000 Mark vertelefoniert hatte.“

Gegen Mitternacht schließlich standen die Wu-Tangs dann endlich in der Tür – mit einer Hiobsbotschaft: Man wolle einen eigenen Song aufnehmen. Christian Eitner: „Zuerst wurde über den Preis verhandelt. Am Ende einigten wir uns in der Mitte. Dann wurden die Telefone ausprobiert. Dank unseres Schachzugs war allerdings bei 1.800 Mark Schluß.“ Im nachhinein zeigt Eitner sich vom Zusammentreffen mit den Wu-Tangs ganz angetan.“Die Stimmung war gut. Ab und zu fragte Ol‘ Dirty Bastard, wie es uns geht, um gleich darauf wieder über seinen Gedankenkosmos zu quasseln. Gegen halb zehn am nächsten Morgen waren wir schließlich fertig.“ Buchstäblich, denn zuvor hatte es noch eine saftige Schrecksekunde gegeben. Der Techniker hatte Musik und Gesang versehentlich auf eine Spur gelegt. Unter Aufbietung technischer Tricks konnte der Track am Ende aber doch noch gerettet werden.

Ein Aufatmen ging durch die Runde – das einzige Mal übrigens während der ganzen Zeit, in der das „Geheimrezept“ von Eitner und seinen Kollegen nach und nach zu Musik wurde. Denn von der Zusammenarbeit mit den Wu-Tangs mal abgesehen, liefen alle weiteren Gemeinschaftsunternehmen wie geschmiert. So entstand auf der Basis des Geheimrezepts letztlich ein musikalischer Zaubertrank, dem anzumerken ist, wieviel Energie für seine Entstehung freigesetzt worden ist. „Im Gegensatz zu den Platten davor haben wir die Rhythmusgruppe live aufgenommen, deshalb groovt sie auch viel intensiver“, erzählt Eitner.

Der Track „High“ kommt als Drum’n’Bass-Nummer daher und präsentiert Cappuccino als selbstsicheren,gereiften Meister am Mikro. „Bei uns kann sich jeder ausprobieren“, betont Eitner, „wobei die Grundtracks natürlich feststehen. Letztlich aber kann jeder spielen oder texten, wie es ihm gerade gefällt. Wir reden da nicht allzuviel rein. Außerdem muß ich PeeWee Ellis nicht erzählen, was er zu tun hat, oder?“ Wohl kaum. Andererseits bedarf auch die freieste Arbeitsweise einer gewissen Vorbereitung – die denn auch stattfand: „Mit unserer Stammbesetzung hatten wir uns eine Woche lang in einer Finca auf Mallorca auf die Aufnahmen vorbereitet. Dort schrieben wir die Arrangements und probten einzelne Tracks. Nur die Rapper mußten zu Hause bleiben, denn entweder wären sie vom Zoll gefilzt worden, oder sie hätten ihre Pässe vergessen – wie das bei HipHoppern eben so ist.“ Am Beispiel ihrer rappenden Kollegen läßt sich übrigens das Vorurteil entkräften, die Kantinenmusiker wollten partout bestehende Genregrenzen aufbrechen. „Nach all den Jahren hat sich keiner der Jungs auch nur eine einzige Miles Davis-Platte angehört“, meint Eitner und ergänzt: „Uns geht’s auch gar nicht um die Vermittlung von Musikgeschichte. Es ist nur verdammt cool, den Kids zu zeigen, daß eine Posaune nicht nur in der Volksmusik ihren Platz hat.“

Der unkonventionellen Arbeitsweise von Eitner und seiner Mannschaft zum Trotz: Auch in der Jazzkantine wird auf ein wirtschaftlich sinnvolles Vorgehen geachtet. Plattenverkäufe, Video- und Rundfunkeinsätze, all das spielt auch in Eitners Augen eine wichtige Rolle: „Wir sind doch keine Revoluzzer. Natürlich wollen wir mit unserer Musik in die Charts. Alleine unsere astronomischen Reisekosten müssen ja irgendwie gedeckt werden.“ Produzent, Komponist und Chefkoch Eitner, der seiner Haarfarbe wegen auch schon mal James Blond genannt wird, hat nach eigener Aussage „das Geschäft begriffen“. Aber: „Wir spielen nur so lange mit, wie die ganze Angelegenheit für uns ehrlich bleibt.“

Vorerst jedoch herrscht in der Jazzkantine Hochbetrieb. Erst mal steht eine Tournee ins Haus, dann eventuell ein Gastspiel beim Jazz-Festival in Montreux. Außerdem ist ein Projekt mit dem Braunschweiger Staatstheater geplant – und für das nächste Album ein Trip in die USA. Vielleicht sogar der Schulterschluß mit Jazzmatazz.“Ein Traum“, sagt Eitner,“aber davon lebt der Laden.“