Jenseits von Afrika


Mit "Yé Ké Yé Ké" landete zum ersten Mal ein Afrikaner einen Top-Hit in den europäsichen Chats. Für ME/Sound sprach Thomas Küng mit Mory Kanté, der mehr sein will als ein exotischer Farbtupfer für trendgeile Pop-Yuppies.

Wer glaubt, das sei Zufall, kann keine Zeichen lesen“, sagt er vielsagend. „Daß ich heute hier in Montreux auf dem Jazzfestival spiele, an dem Tag, da ich zum ersten Mal mit meinem Album an der Spitze einer europäischen Hitparade siehe, solche ‚Zufälle‘ erzählen mir sehr viel. Und daß ich mir gestern den Fuß verletzt habe, zeigt mir, daß ich endlich wieder ein wenig ruhiger werden muß. In letzter Zeit ist alles ziemlich schnell gegangen für mich.“

Mory Kanté wirkt in der Tat müde, abgekämpft. Nicht nur weil er gerade von der Bühne kommt. Die immer schneller laufende Maschinerie aus Interviews, Fernsehauftritten, Video-Produktionen, Sound-Checks und kräfteraubenden Konzerten hat ihn seit Monaten fest im Griff.

Doch kaum auf seine Herkunft und Heimat angesprochen, springt er mich förmlich an, will alles auf einmal erklären: „Ich bin ein ‚Griot‘. In meinem Volk der Mandingos sind die Griots das Blut in den Adern der Gesellschaft. Einerseils sind wir Künstler, Musiker, Unterhalter, aber wir sind auch für das Spirituelle verantwortlich. Wir sind überall, durchfließen das Volk, reisen viel, überbringen Gedanken —- wir stellen die Kommunikation unter den verschiedensten Völkern her.“

Diese Mission hat ihn vor vier Jahren auch nach Paris geführt. „17 Jahre habe ich dafür gekämpft, bis mir meine Eltern endlich sagten: ‚Geh‘ Mory, jetzt wirst du es schaffen.‘ Das hat mir die Kraft gegeben, hierher zu kommen. Ohne die Unterstützung meiner Familie wäre ich nie so weit gekommen.“

Und Morys Familie ist groß. 37 Geschwister hat er, sein Vater war 70, als Mory zur Welt kam, vor zwei Jahren ist er über hundertjährig gestorben. „Wir sind eine Familie von Griots. Meine Mutter ist in meiner Heimat ein bekannter Star, eine großartige Sängerin. Vielleicht habe ich eine so hohe Stimme, weil ich sie immer imitieren wollte. Ich trage den Namen ihres Vaters, der ungekrönter ‚König‘ in dieser Region war.“

Das Stammesgebiet der Mandingos ist durch die (von Kolonialisten gezogenen) Grenzen von Mali, Guinea und Senegal zerschnitten. Geboren in Guinea, trat Morv als 7jähriger zum ersten Mal öffentlich auf, reiste l7jährig nach Bamako, der Hauptstadt von Mali, und entwickelte sich zu einem meisterhaften Kora-Spieler. Dieses 2Osaitige Instrument zwischen Harfe und Laute bestimmt auch maßgeblich den Sound seines Superhits „Yé Ké Yé Ké“ — neben dem elektrisch/elektrisierenden Beat, der fast von einer High-Energy-Disco-Produktion stammen könnte. Ist der kommende Dritte-Welt-Star also doch nicht so ursprünglich und buschig, wie wir uns die Afrikaner immer gerne vorstellen?

„Ich bin hierhergekommen, um zu informieren und informiert zu werden. Natürlich bin ich in Europa ein Botschafter Afrikas. Aber gleichzeitig bin ich in Afrika ein Botschafter Europas.“

Jetzt kommt er voll in Fahrt, neigt sich vor, packt mich dann und wann an den Schultern, blickt mich mit weit geöffneten Augen an und hebt immer wieder den Zeigefinger, auf daß ich keines seiner Worte verpasse:

„Die Kolonisationen, die Deportationen, all das, was ihr uns Afrikanern in den letzten Jahrhunderten angetan habt, sind nicht vergessen. Trotzdem sind wir bereit, mit euch zusammenzugehen. Wer sich abkapselt, kann nicht wirklich reifen. Europa hat aber nichts unternommen, um die afrikanische Lebensfreude zu entdecken. Ihr geht nach Afrika, filmt die Wilden, die Krankheiten, den Hunger, die Epidemien, die trauen mit den Holzscheiben in Lippen und Ohrläppchen, so daß sie aussehen wie Elefantenohren. Ihr seht uns noch immer als Wilde. Aber die Freude und Innigkeit in diesem Kontinent kennt ihr nicht.

Wollt ihr wirklich Afrika entdecken? Bis jetzt nicht. Ihr meint, ihr wärt so entwickelt und uns so weit voraus. Die Barriere zwischen uns ist, daß ihr noch nicht unser großes Herz und unsere starke Seele gespürt habt. Diese Barrieren will ich niederreißen. Dafür mußte ich nach Europa kommen und Erfolg haben, damit Türen zwischen Afrika und Europa sich auftun. Der Tag, an dem Europa unsere Sensibilität entdeckt, wird der Menschheit in Erinnerung bleiben.“

Mory Kantés Charisma wirkte auf der Bühne charmant und locker. Jetzt ist er der Kämpfer, Prediger und Lehrer. Er sucht meinen Widerspruch, um seine durchdachten Argumente besser platzieren und bildhaft vortragen zu können. Seit Bob Marley ist wohl keinem Musiker aus der sogenannten Dritten Welt mehr so aufmerksam zugehört worden.

„Der Friede, was ist das? Der Haß, was ist das? Die Liebe, was ist das?“

Der geübte Redner liebt es, längere Antworten mit einer rhetorischen Frage zu beginnen.

„Gegenseitiges Verstehen, was ist das?“ hebt der 38jährige wieder an.

„Begreift doch endlich, daß ihr in Europa nicht allein seid! Man kann dir dein Herz herausschneiden und mir einpflanzen. Ich kann dir mein Blut geben und dir so dein Leben retten. Wir müssen versuchen, miteinander zu reden, die Menschheit zu vereinen! Wenn uns das nicht gelingt, werden wir zerstören, was nicht wir erschaffen haben: unsere Mutter, die Erde.“

Über seine Erfahrungen in Europa mag er allerdings nicht gerne reden. Er wird wortkarg, blickt in der engen Garderobe umher, streicht sich über die noch immer nasse Stirn. „Es gab und gibt viele bittere Momente in meinem Leben. Aber es macht wenig Sinn zu verbittern. Als Afrikaner in Europa — das ist sehr, sehr hart. In Afrika bin ich nie unglücklich.“

Nach dem dreiviertelstündigen Gespräch merke ich, daß ich kein einziges Mal dazu kam, auf mein Blatt mit den vorbereiteten Fragen zu blicken. Diese Griots…