Joni Mitchell


An einem Herbstabend des Jahres 1966 ging der Organist AI Kooper nach einem Club-Auftritt seiner Band Blues Project mit einem blonden Mädchen nach Hause. Als sie dort am frühen Morgen ankamen, spielte die 22-jährige Kanadierin dem Gastgeber auf Piano und Gitarre Selbstkomponiertes vor. AI Kooper war so überrascht und begeistert, daß er noch um 5 Uhr morgens ein Ferngespräch mit Judy Collins führte und ihr von seiner "Entdeckung" erzählte. Kooper zu Collins: "Sie heißt Joni Mitchell, merk dir das."

Nun, den Namen Joni Mitchell merkten sich Mitte der 60er Jahre nicht wenige, so erfrischend, ehrlich und geistreich waren ihre Lieder, „die sie so sorgfältig wie einen Liebesbrief auf feinstem Papier entfaltet. Kein anderer Songschreiber kann eine Poesie erfinden, die der ihren an Zartheit und Unschuld auch nur im entferntesten gleicht“ (MELODY MAKER).Die nahtlose Karriere der heutigen „Königin der Sänger-Songschreiber“ (MUSIC WEEK) war eingeläutet.

„Ich glaubte, meine Songs seien furchtbar.“

Roberta Joan Anderson, Tochter eines Air-Force-Soldaten, wurde am 7. 11. 1943 in Fort McLeod, Kanada, geboren. Am Alberta College of Art studierte sie Grafik und Kunstgeschichte (und verwandte später diese Kenntnisse bei der Gestaltung ihrer eigenen Platten-Cover). 1965, nach einiger Tingelei durch Kaffee-Häuser und Folk-Clubs (ihr erster Auftritt war im „The Depression“, Alberta), heiratete sie den Folkloristen Chuck Mitchell und folgte ihm nach Detroit. Zwar wurde die Ehe nach reichlich einem Jahr geschieden, Joni Mitchell kehrte jedoch nicht wieder nach Kanada zurück. Vielmehr zog sie mit Gitarre durch die Folk-Clubs des Staates Michigan. Dort traf sie auf Tom Rush: „Er überredete mich, aus Michigan rauszugehen, und verschaffte mir einen Job im New Yorker „Gaslight Club“. Und eines Tages bekam ich einen Brief von ihm, in dem er schrieb, „ich werde ‚Urge For Going‘ singen – ich glaube nicht, daß es ein Song für mich ist, aber ich werde es jedenfalls versuchen“. Und er hatte großartigen Erfolg damit. So bereitete er wirklich den Weg — er öffnete Türen. „Tom half mir wirklich sehr, denn zu der Zeit war ich schrecklich unsicher, was meine Songs betraf – ich glaubte wirklich, sie seien furchtbar.“

Eigenartigerweise sprach man zunächst nicht von der Interpretin, sondern von der Komponistin Joni Mitchell. Tom Rush stellte ihr „Urge For Going“, Dave Van Ronk ihr „Both Sides Now“ vor. Letzterer Song wurde inzwischen von gut und gern 50 Interpreten übernommen, so u.a. von Judy Collins, Frank Sinatra und Bing Crosby.

Warum es immerhin bis zum Frühjahr 1968 dauerte, ehe die erste Joni Mitchell-Platte erschien, erklärte sie in einem „Broadside Magazine“-Interview: „Der Grund, daß ich so lange mit einem eigenen Album gewartet habe, war der, daß ich in einer guten Verhandlungsposition sein wollte. Judy Collins‘ Album („Wild Flowers“, Judy Collins übernahm hier einige Mitchell-Kompositionen) verhalf mir dann zu der Position, in der ich mich durchsetzen konnte. Meine Wünsche waren nicht unmäßig — aber ich wollte komplette und totale künstlerische Kontrolle über alles — was alle anderen ausschloß, einschließlich Grafiker und Texter. Man gestand mir zu, meine eigenen Hüllen zu machen.“

Bei der ersten LP halfen David Crosby und Stephen Stills

„Joni Mitchell“, die erste Langspielplatte, wurde von David Crosby produziert und mit Stephen Stills (am Baß!) eingespielt. Spätestens nach „Clouds“, ihrem zweiten, ein Jahr später erschienenen Werk, das neben „Both Sides Now“ auch „Songs To Ageing Children Come“ enthält – das im Film „Alice’s Restaurant“ Verwendung fand —, schrieben Kritiker und Rezensenten wahre Lobeshymnen über das kompositorische und lyrische Talent Joni Mitchells: „Von Anfang an“, analysierte der NEW MUSICAL EXPRESS, „war Joni Mitchell eine Romantikerin, ohne Scham sentimental.“ Ihre Songs haben schließlich immer eine analytische Perspektive und einen außergewöhnlichen Blick für Details, die niemals funktionslos sind, welche Rolle auch immer ihre Emotionen dabei spielen. Jonis Komposition und Vortrag kombinieren unfehlbar große Zärtlichkeit und eine trügerische Zerbrechlichkeit mit enormer Stärke und Würde.

Das legendäre Woodstock´

Mit „Clouds“, das auf Platz 31 der amerikanischen LP-Charts landete, begann auch der sichtbare Aufstieg der Interpretin Joni Mitchell. „Ladies Of The Canyon“, Album Nr. 3, rückte immerhin schon auf Platz 27 vor. Die im April 1970 veröffentlichte LP enthält mit „Big Yellow Taxi“ und „Woodstock“ auch zwei respektable Single-Hits. Wieder einmal glänzte sie mit dichterischen Metaphern, in denen sich Bomber am Himmel über Woodstock in Schmetterlinge verwandeln, wo Paradiese verschleudert werden, um Parkplätze daraus zu machen („Big Yellow Taxi“). „Woodstock“ komponierte sie in New York am Fernsehapparat, „weil ich durch sieben Kilometer lange Autoschlangen nicht zum Festival kam“. Von einem Londoner Straßenmusikanten (wahrscheinlich Lol Coxhill) erzählt sie in „For Free“; „Willie“, der ihr „wie ein Kind und ein Vater“ war, ist die musikalische Bilanz einer intimen Freundschaft (mit Graham Nash?) „Ihre Anziehungskraft“, schreibt der ROLLING STONE, „liegt in dem subtilen Gewebe ihrer Zähigkeit, ihrer Bereitschaft, Geheimnisse mitzuteilen und verborgene, komplizierte Gefühle deutlich und mitteilbar zu machen. Sie bricht einem das Herz und hilft einem, wieder ein Lächeln zu versuchen.“

Auf „Blue“, ihrem letzten „Reprise“-AIbum, das Mitte des Jahres ’71 auf den Markt kam und mit Stephen Stills, James Taylor, Sneeky Pete Kleinow und Russ Kunkel eingespielt wurde, sind „Musik und Lyrik noch komplexer als jemals zuvor“ (NEW MUSICAL EXPRESS), da heißt es in „A Case Of You“: „I could drink a case of you / and still be on my feet“ und in „The Last Time I Saw Richard“: „The last time I saw Richard was Detroit in ’68 / and he told me all romantics meet the same fate someday / cynical and drunk and boring someone in some dark cafe.“ Stephen Davis kommentierte im ROLLING STONE: „Die Poesie ihrer Liebeslieder versetzt sie beinahe auf einen anderen Planeten, eine neue Ebene, in der es keine Verbote göttlicher Arroganz, keine Gewissensbisse darüber gibt, ihr Innerstes zu zeigen.“ Das Album „Blue“ rückte bis auf Platz 15 der BILLBOARD-Charts vor. In „For The Roses“, der 72er Langspielplatte, entdeckte nicht nur der ROLLING STONE Kompositionen, die „konstruiert sind wie die ausgefeiltesten Novellen: Erzählungen innerhalb Erzählungen innerhalb Erzählungen“; steigende Verkaufszahlen hievten ihr Werk auf Chart-Position 11. Zum absoluten Höhepunkt, der Traumposition 1, gelangte schließlich das im Januar 1974 veröffentlichte „Asylum“-Album „Court And Spark“.

Mit dem Repertoire ihres „bisher reifsten Werkes“ (MELODY MAKER) und einer neuen Begleitband stellte sich die „First Lady of the acoustic guitar“ zunächst in den USA, später auch in Europa live vor. Die Begleitmusiker, Tom Scott and his LA Express, „ein Harem von Blues-, Jazz- und Rock-Veteranen“ (NEW MUSICAL EXPRESS), halfen auch schon bei der Produktion der „Court And Spark“-LP. Neben dem Modern-Jazz-Fan Tom Scott gehören noch Robin Ford (Lead-Gitarre, früher bei Jimmy Witherspoon), der Schlagzeuger John Guerin, der Bassist Max Bennet und der Organist Roger Calloway dazu.

„Ihre Musik“, meint Begleiter Scott, „ist sehr feinfühlig und muß sehr vorsichtig behandelt werden, ihre Lyrik ist nicht so leicht zugänglich wie die Dylans.“ Wie vorsichtig, nuancenreich und zudem wirkungsvoll Scott und der LA Express solches Liedgut zu interpretieren verstehen und trotzdem allen Glanz auf dem Haupte der Autorin belassen, zeigte sich an den Kommentaren zu der jüngsten Konzert-Tournee. So schrieb der MELODY MAKER nach einer Vorstellung im Londoner „New Victoria“ Theater: „Sie ist einfach die faszinierendste und bewegendste Künstlerin unserer Zeit. Sie hat einen einzigartigen persönlichen Weg gefunden, über die Sprache des Rock hinauszugelangen und gleichzeitig das Rock-Publikum zu halten. Und mehr noch, sie ist unbestritten eine Künstlerin der Zukunft.“