Kommentar

Was wir brauchen, ist ein neuer Kanon der Popmusik


Ein erster Schritt ist die ME-Liste der 100 wichtigsten Frauen im Pop.

In unserem neuen MUSIKEXPRESS liefern wir dieses Mal eine Liste der 100 wichtigsten Frauen im Pop. Einen fein sortierten Flashmob an Impulsgeberinnen, eine Reise durch Female-Pop gestern und heute. Doch bevor wir so nach und nach auch online unser Ranking mit euch teilen wollen, wagen wir hier einmal eine Annäherung an das Thema Frauen im Pop.

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Bald haben wir März. Und März ist Frauenmonat. Das soll aber nicht so bleiben. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, dass bald alle Monate Frauenmonate sind. Damit es solcher Behelfsanlässe nicht mehr bedarf und tatsächlich Gleichberechtigung herrscht. Ein Mittel dazu ist das Sichtbarmachen. Unsere Liste soll das Scheinwerferlicht auf 100 Frauen richten, die einen großen Einfluss auf den Pop hatten, die ihn vorangetrieben und zuvorderst: auf die Welt gebracht haben. Und damit meinen wir nicht nur den klassischen Pop, sondern auch HipHop und Rock. Vergleichen Sie nur mal die zentrale Tanzsequenz im 1957er-Elvis-Film „Jailhouse Rock“ mit der des ein halbes Jahr zuvor veröffentlichtem „Rock, Baby, Rock It“ – in der Hauptrolle: Kay Wheeler, später Gründerin des weltweit ersten Fanclubs von, genau, Elvis. Wir wünschen im Folgenden viele augen- und ohrenöffnende Momente!

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Pop: eine halberzählte Geschichte

Wir sind uns der Gefahr bewusst: Reflexhaft kann auf Listen wie der folgenden mit dem Vorwurf der Ghettoisierung reagiert werden. Doch nichts könnte unserem Anliegen ferner sein. Denn wer nach Inklusion strebt, der muss zunächst für Sichtbarkeit – oder eher: Hörbarkeit – sorgen. Also Spot an auf die Musikerinnen, Sängerinnen, Produzentinnen, Rapperinnen, die unsere Popkultur prägten. Weibliche Errungenschaften präsentieren, Erfolge feiern und historische Weichenstellungen aufzeigen. Ladies first!

Es gibt eine Geschichte aus Joni Mitchells Tagen in Laurel Canyon. 1968 arbeitete die noch unbekannte Folkmusikerin mit David Crosby an ihrem ersten, selbstbetitelten Album. Zusammen besuchten die beiden oft Partys in den Häusern von Freunden wie Cass Elliot oder Drehbuchautor Carl Gottlieb. Gottlieb erzählte später davon, wie Crosby Mitchell immer erst in einem anderen Raum warten ließ, bis er sie dann später dazu holte. Mitchell kam heraus, spielte ein paar Lieder und zog sich wieder zurück. Zwar gab es auch andere Frauen auf diesen Partys, aber die meisten der aufstrebenden Stars, die sich dort versammelten, waren Männer. Einige wurden bald Mitchells Kreativpartner, andere Liebhaber – Graham Nash, James Taylor, Jackson Browne. Sie hörten in Mitchells Liedern etwas völlig Neues: ihre einzigartigen Gitarrenstimmungen, die die Folkmusik in Richtung Jazz bog; ihre emotional scharfsinnigen Texte.

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„Nach diesen Auftritten haben wir uns angeschaut und uns gefragt: ‚Was war das? Haben wir uns das eingebildet?‘“, sagte Gottlieb. Mitchell war eine Ausnahmeerscheinung. Ein Genie. Drei Jahre später sollte sie – inspiriert von dieser Zeit in Laurel Canyon – das Meisterwerk BLUE schaffen. Und doch ist da etwas Seltsames an dieser Szene. Ein bitterer Nachgeschmack, der typisch ist für die Geschichte der Popmusik. Die Musikerin erscheint hier wie ein Traumbild, eine Überraschung, ein Störfaktor innerhalb der Norm. Sie tritt auf und für einen Moment steht sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der Raum gehört ihr. Der Ort aber, an den sie dann wieder zurückkehrt, ist der Nebenraum. Pophistorisch bedeutet das: der Rand der Geschehnisse. Als Frau fällt sie hinter die männlichen Zeitgenossen zurück. Wird von ihren Narrativen verdrängt und überdeckt. Besonders im Rückblick. Der Kanon der Folkmusik der 1960er ist um andere Figuren wie Bob Dylan herum gruppiert. Dabei bewegte Joni Mitchells Poesie die Zuhörer:innen ebenso sehr wie die von Dylan.

Solche Geschichten finden sich überall in der Popmusik. Trotz der entscheidenden Rolle, die Frauen bei der Entstehung der innovativsten und zukunftsweisendsten Musik der letzten hundert Jahre gespielt haben, werden ihr Einfluss und ihre Leistungen unterbewertet, kleingeredet oder ignoriert. Dafür gibt es viele Beispiele: Bis heute erzählen wir uns Geschichten über die Ursprünge des HipHop vor allem entlang männlicher Schlüsselfiguren (Kool Herc, Grandmaster Flash, Afrika Bambaataa). Den Namen Sylvia Robinson dagegen kennen nur die wenigsten. Dabei war Robinson nicht nur Gründerin und Geschäftsführerin des ers- ten HipHop-Plattenlabels Sugar Hill Records, sondern produzierte auch die erste Rap-Platte „Rapper‘s Delight“. Robinson war entscheidend für die Einfüh- rung von Rap in den weltweiten Mainstream. Ein drit- tes Beispiel ist Sister Rosetta Tharpe, deren Einfluss auf die Entwicklung des Rock’n’Roll und den jungen Elvis Presley man gar nicht genug betonen kann. In den Geschichten taucht sie trotzdem immer nur am Rande auf. Als Schwarze Musikerin kommt bei ihr die Hautfar- be als zweite, sich überlappende Diskriminierungsform dazu – wie oft in der Popgeschichte.

Frauen als Nebenrolle in der Pop-Geschichte?

Es ist kein Geheimnis, dass die Musikindustrie und Musikgeschichtsschreibung von (weißen) Männern domi­niert wird. Wie in anderen Bereichen des Lebens sind weibliche Künstlerinnen auf dem Weg zu Erfolg, Aner­kennung und Selbstver­wirklichung von jeher auf Hindernisse gestoßen. An Musikerinnen werden ande­re Maßstäbe angelegt als an ihre männlichen Kollegen. In der Geschichte der Pop­musik sind ihnen die Nebenrollen zugedacht.

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Das wirkt bis in unsere Gegenwart hinein. Und zwar obwohl Frauen längst der Motor hinter der zukunftswei­sendsten Musik der letzten 20 Jahre sind: Jeder bedeu­tende Trend, jede Innovation, neue Form der Selbstdar­stellung und politische Diskussion wird heute von Frauen getragen. Trotzdem waren von allen Nominier­ten der Grammy Awards zwischen 2013 und 2023 nur knapp 14 Prozent weiblich. Trotzdem sind Frauen in den Charts immer noch deutlich unterrepräsentiert (nur etwas mehr als 22 Prozent machten weibliche Künstle­ rinnen in den US­-Endjahrescharts von 2012 bis 2022 aus). Trotzdem wurde in der Rock and Roll Hall of Fame das Problem der erheblichen Unterrepräsentation von Frauen immer noch nicht behoben. Und trotzdem über­ wiegen auf Bestenlisten männliche Künstler – sogar auf denen, die nur das 21. Jahrhundert in den Blick nehmen. Egal auf welche Liste man guckt: In den Spitzenrängen finden sich selten Musikerinnen. Natürlich muss sich auch der ME da an die eigene Nase fassen. Warum also dieses große Special zum Einfluss der Frauen im Pop? Genau deshalb!

Wir möchten den Frauenmonat März dafür nutzen, die Musikerinnen, Songwriterinnen, Sängerinnen, Rap­perinnen, Produzentinnen und ihren Einfluss auf die Pop­musik in den Fokus zu stellen. Wenn wir Frauen sagen, meinen wir ausdrücklich: alle Künstler:innen, die sich als Frauen oder nicht­binär* identifizieren.

Ein Gegengewicht

Die Liste, die wir aufgestellt haben, ist als Gegengewicht gedacht. Zu all den anderen Listen, Artikeln, Büchern und Gesprächen, die sich auf den Ein­fluss von männlichen Künstlern konzentrieren. Wir wis­sen, dass wir diesen seit Ewigkeiten bestehenden Sexis­mus, die Vorurteile und Ungleichheit nicht so leicht und nicht so schnell korrigieren können. Aber wir wollen damit anfangen. Step by step, wie Whitney Houston einst sang. Vor allem wollen wir Anstoß dafür geben, über die Geschichte der Popmusik noch einmal neu nachzuden­ken. Was, wenn wir bisher die Hälfte vergessen haben? Die andere Hälfte muss genauso erzählt werden, wie die, die wir schon so oft gehört haben.

Wichtig ist uns als Redaktion und mir persönlich als Musikjournalistin dabei besonders folgende Unterschei­dung: Seit ich vor zehn Jahren anfing, als Musikkritikerin zu arbeiten, habe ich oft über Frauen in der Musik geschrieben. Oft wurde ich dabei darum gebeten, das Frausein zu thematisieren: als etwas Ungewöhnliches, als Besonderheit, oder gar als Trend. Und oft habe ich mir gewünscht, dass das gar nicht nötig ist. Dass es ein­fach nur um die Musik gehen kann. Ich halte es immer noch für wichtig, über Gender zu sprechen und zu schrei­ben – einfach, weil die Ungleichheit immer noch so groß ist. Aber irgendwann müssen wir auch mal aufhören, AUCH über Frauen zu schreiben und anfangen, darüber zu schreiben, was sie – unabhängig vom Geschlecht – in der Popmusik geleistet haben.

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Was ich damit sagen will: Es soll in unserem Special nicht darum gehen, Frauen in ihrer eigenen Kategorie zu betrachten. Nicht das Geschlecht ist die Kategorie, sondern die Popmusik als Ganzes. Keine klassischen „Frauenliste“ also. Keine „alternative“ Geschichte der Popmusik. Aretha Franklin ist also nicht die beste weib­liche Stimme des 20. Jahrhunderts. Sie ist die beste Stimme. Inhaltlich kann man darüber natürlich streiten. Aber das ist die Fallhöhe. Bei unserem Special soll es darum gehen, welchen enormen Einfluss Frauen auf Musik und Popkultur haben und hatten. Darum, wie sehr Missy Elliott und Lauryn Hill den klassischen HipHop­Sound ebenso sehr definiert haben wie Biggie und Tupac. Darum, dass Patti Smith die Attitüde des Rock vielleicht stärker verkörpert hat als jeder männliche Rocker der 70er. Darum, dass Nina Simone in den 60ern womöglich besser für den Aufbruch der Popmusik in die Moderne stand, als es die Beatles je getan haben. Darum, dass einem in Gesprächen über die Rock-­Renaissance der 90er nicht immer nur Nirvana oder Pearl einfallen sollten, sondern sofort auch Namen wie Alanis Morissette oder PJ Harvey. Darum, dass der größte Einfluss für den zeitgenössi­schen Country nicht Willie Nelson ist, sondern Shania Twain. Darum, dass Jay­-Z ohne Beyoncé längst keine so große Karriere mehr hätte. Und um so vieles mehr.

Was wir brauchen, ist ein neuer Kanon der Popmusik. Einer, der die Geschichte der Popmusik auch an den vie­len einflussreichen Musikerinnen entlang erzählt. Für diese neue Erzählung soll unsere Bestenliste eine Inspi­ration sein. Eine Brücke in die Zukunft, in der männliche, weibliche und nichtbinäre Künstler:innen selbstverständ­lich nebeneinanderstehen. Eine Zukunft ohne Diskrimi­nierung, in der wir so anstrengende und frustrierende Debatten wie heute nicht mehr führen müssen und so etwas wie Gender als Kategorie gar nicht mehr wichtig ist. Und großartige Musik einfach großartige Musik. Vielleicht fangen wir hier mit dieser Zukunft an.

+++ Unser aktuelles Heft ist ab dem 09. Februar im Handel. Darin gibt es die komplette Lister der 100 wichtigsten Frauen im Pop. +++