Kiss dich selbst!


Als im Frühjahr der Songtitel „I Kissed A Girl“ herumflatterte und es hieß, das Lied entwickle sich gerade zu einem Hit, war ich überrascht. „I Kissed A Girl“? Das kenn ich doch? So ein hübsches Akustik-Pop-Songwriter-Lied, in dem eine sympathische Mädchenstimme einfühlsam, frisch und witzig über eine lesbische Erfahrung berichtet. Gibt’s das nicht schon länger? DAS ist jetzt ein Hit? Na, auf jeden Fall unterstützenswert. Wurde ja Zeit, dass Homosexualität mal ganz unverkrampft und ohne Right-Said-Fred-Witzischkeiten o.a. in einem Charts-Popsong möglich ist.

Dann wurde mir die Verwechslung klar. Natürlich hatte dieser (mittlerweile Welt-)Hit nichts mit dem Lied zu tun, das ich kannte. Das ist von 1995 und stammt von der Songwriterin Jill Sobule. Das neue „I Kissed A Girl“ kam von einer sich als sos-Pin-up inszenierenden Pastorentochter, für die es ganz wichtig ist, dass sie am Ende des überdreht sexy Videos neben ihrem braven Heterofreund aufwacht. Das Lied ist mit seinem abgeschmackten Naughty-Girl-Getue, der exploitativ-plumpen Geilmache-Lyrik und dem pumpenden Fickbeat etwa so pro-gay wie die Girl-on-Girl-Action-Rubrik auf der Free-Porn-Site von nebenan und transportiert die hinreißend liberale Botschaft: „Schwuler Sex? Super! Aber bitte nur, wenn’s zwei Weiber sind und ich zugucken darf!“ Und insofern überrascht es mich kein Stück mehr, dass es so ein großer Hit wurde.