Massive Attack: Kraft hoch drei


Kraft, meinen auch heute noch viele Bands, sei gleich bedeutend mit Lautstärke. Falsch. Denn Massive Attack beweisen, daß Kraft viel mehr mit ausgeprägter Kreativität zu tun hat.

Die Wurzeln der Popmusik liegen im Blues, Jazz und Rock ’n’Roll, ursprünglich alles Töne afroamerikanischer Herkunft. Einflußreiche Bands jeglicher Couleur und Herkunft haben stets versucht, die Klänge, aus denen Popmusik sich speist, in ihren Sound zu intergrieren oder neu zu beleben. Und zwar schon lange vor Elvis und den Beatles. Moderne Musiker wie die von Massive Attack stellen da keine Ausnahme dar – auch wenn sie nicht aus den USA oder Afrika,sondern auch dem bristischen Bristol stammen. Sie übernehmen den eklektischen Ethos jamaikanischer Künstler und die Experimentierfreudigkeit früher Rapper und reichern die so entstandene Mixtur mit musikalischen Zitaten an, die von Isaac Hayes über Pink Floyd bis hin zu Public Image Limited reichen. Auf diese Weise kreieren sie einen Sound, der für jene Dämmerstunden geschaffen ist, „in denen du nach einer durchtanzten Nacht zu Hause bist und wieder atmen willst“, wie Massive Attack-Mitglied Daddy Gee es einmal ausdrückte. Schon bald nach der Veröffentlichung des Massive-Debüts „Blue Lines“ (1991) wurde diese Mischung aus symphonischem Pop und verträumtem Rap zur Blaupause eines Klangs.der von so unterschiedlichen Musikern wie Portishead, George Michael und Kruder & Dorfmeister aufgegriffen wurde. Das machte Massive Attack zur „vielleicht einflußreichsten Band der Neunziger“ (Süddeutsche Zeitung) und veranlaßte beim Millenium-Poll 36.000 britische Plattenkäufer,“Blue Lines“zu einer der populärsten Platten im Vereinigten Königreich zu wählen. So viel Aufsehen hat schon lange kein Erstlingswerk mehr erregt.

Aber auch schon vor dem jüngst veröffentlichten Poll-Ergebnis war klar, daß der Nachfolger von „Blue Lines“es nicht leicht haben würde. Doch Grant Marshall (Daddy Gee), Robert Del Naja (3D) und Andrew Vowles (Mushroom) alias Massive Attack räumten mit dem exellenten Follow-up alle Zweifel an ihrem kreativen Durchhaltevermögen aus dem Weg. „Protection“ steckte ein noch breiteres musikalisches Terrain ab als „Blue Lines“ und deutete zudem mit dem Dub-Mix von Mad Professor an, wo Massive Attack die eigenen Wurzeln sehen. Wer die klanglichen Kreationen des Trios dennoch auf ihre zweifelsfrei vorhandenen Qualitäten als Hintergrundmusik reduzieren wollte, mußte seine Meinung spätestens nach dem Besuch eines Konzerts von Marshall, Del Naja und Vowles revidieren. Hier brachten Massive Attack in bester Reggae-Tradition DJs, diverse singende und musizierende Gäste und überhaupt jede Menge Live-Feeling auf die Bühne. Improvisation wurde dabei großgeschrieben.“Das hat vor allem den Yuppies und College-Kids in den USA einen gehörigen Schrecken eingejagt“, freut der Brite Daddy Gee sich noch heute. „Daß wir eine solche Show auf die Bühne brachten, konnten die kaum fassen.“ So kommt es nicht von ungefähr, daß die positiven Reaktionen auf die Konzerte von Massive Attack die Entstehung des neuen Albums („Mezzanine“) hörbar beeinflußt haben. Zwar stellt die Platte keinen radikalen Bruch mit ihren Vorgängern dar. Doch die Titel sind vielfach tiefer, dunkler und härter, was auch an den erstmals von Massive Attack auf einer Platte verwendeten Gitarrensounds liegt (siehe ausführliche Plattenbesprechung auf Seite 47). Aber wie das bei Kreativen eben so ist: „Wir wußten einfach nie genau, wann wir einen Song für fertig erklären sollten. Immer wollte einer von uns noch etwas hinzufügen oder verändern.“ Cut so, denn wie schon „Blue Lines“ und „Protection“ klingt auch „Mezzanine“ wie ein Bericht aus einem Paralleluniversum, aus einer Galaxis, in der ausschließlich der Klang regiert.

Apropos regieren: Auf die Verantwortlichen ihrer Heimatstadt sind Massive Attack momentan nicht gerade gut zu sprechen.“Die Leute denken, Bristol sei ein multikulturelles Paradies mit einer lebendigen Jugendkultur. Dabei ist das genaue Gegenteil der Fall“, ereifert sich Daddy Gee .“Bristol ist ein ziemlich rassistischer Ort, und die Stadt scheint gar nicht daran interessiert, etwas für die musikalische Infrastruktur zu tun. Roni Size, Portishead und auch wir leben zwar noch in Bristol. Aber es gibt kaum Studios oder Clubs. Von einer intakten Szene kann also keine Rede sein.“

Doch Massive Attack sind bemüht, diesen Zustand zu ändern. Mit ihrem im letzten Jahr gegründeten Label Melankolic will die Gruppe vor allem lokale Talente fördern. Bereits erschienen ist das hörenswertes Debütalbum von Alpha sowie ein Longplayer von Craig Armstrong – der übrigens auch für die Streicherarrangements von Massive Attack verantwortlich zeichnet. Weitere Veröffentlichungen sind in Vorbereitung.

Als wären Album, Tourneen und ein eigenes Label nicht schon genug Arbeit für die drei Engländer, haben Daddy Gee,3D und Mushroom auch noch andere Pläne. Eine Platte mit Neubearbeitungen alter Songs ist ebenso in Vorbereitung wie die Veröffentlichung eines bereits fertiggestellten Soundtracks. Bis vor kurzem war sogar ein kompletter Remix von Radioheads Meisterwerk „OK Computer“ im Gespräch. „Wir haben uns bereits getroffen, und noch ist das Thema nicht ganz vom Tisch“, meint Daddy Gee dazu.“Aber selbst, wenn es mit dem Remix von ‚OK Computer‘ nicht klappen sollte, werden wir bestimmt bald mal mit Radiohead zusammenarbeiten. Ich glaube, wir haben einiges gemeinsam.“ Zuvor könnte es aber erst mal eine zeitlich begrenzte Auszeit für Massive Attack geben, in der sich die drei kreativen Köpfe mit anderen Projekten beschäftigen. „‚Mezzanine‘ ist von all unseren Aufnahmen noch am wenigsten ein wirkliches Gemeinschaftswerk. Sicher, wir alle haben zum Gelingen des Albums beigetragen. Aber wir waren kaum zusammen im Studio“, erzählt Daddy Gee ohne Umschweife. „Jeder hatte so seine Tracks, mit denen er beschäftigt war. Und vielleicht sollten wir uns erst mal Raum für Soloarbeiten geben.“ Was nicht heißt, daß Mushroom, 3D und Daddy Gee über das Ende von Massive Attack nachdenken. Im Gegenteil: Erst das lockere Bandgefüge ermöglicht es den drei Eigenbrötlern, ihre Talente als Trio zu verschmelzen.