Massive Attack: Sie können es doch noch


Da war doch was. Diese Band, die so wohltuend war wie ein Liter frischen Quellwassers nach einer durchfeierten Nacht, dann aber fremdging und uns bloßstellte. Nach Jahren der Enttäuschung melden sich MASSIVE ATTACK mit einem Album zurück, das verdächtig klingt, wie die Band, die wir einst so gerne mochten.

Es muss irgendwann 1997 gewesen sein. Gerade haben Zinedine Zidane, Patrick Kluivert, Alessandro Del Piero und David Beckham zum vierten Mal in wenigen Stunden meinen Fernsehabend gestört: Die Herren Weltfußballer schießen auf Tore, die wie von Warhol reproduziert, auf einem grauen Planeten unter düsteren Wolkenhaufen stehen. Man sieht Kluiverts Schuss, der Ball fliegt, doch er kommt nie im Tor an, obgleich sich das Netz am Ende des Clips wie von einem Phantomball getroffen nach außen beult. Ist Del Pieros Ball langsamer als sein Einschlag? Setzt Fußball die Energieerhaltungslehre außer Kraft? Sieht Zidane besser aus mit Stirnglatze als mit Haaren? Möglich wäre es!

Was der Turnbeutel-Hersteller uns jedoch wirklich mit diesen Bildern sagen wollte, verstehe ich bis heute nicht. Ich weiß jedoch noch sehr genau, was mich an diesem Werbefilm am meisten irritierte: Der Soundtrack, das Stück, das über den Toren schwebte – ein Lied, ebenso düster und menschenfeindlich wie der Planet, auf dem die millionenschweren Kicker ausgesetzt wurden.

Meine Freundin schaute mich an und sagte: „Schatz, das ist doch Massive Attack.“

Ich schaute zurück, antwortete „Quatsch, kann nicht sein.“

Sie hatte natürlich Recht. Auch wenn ich die Werbung noch drei Mal sehen musste, bis ich zugeben konnte, dass es mein Lied war, das da fremdgegeangen war. Die ganze Nacht nagte ein Ekel an mir. Am nächsten Tag traf ich Menschen, denen es genauso ging, die sich ebenfalls nicht zu erklären wussten, wie es soweit kommen konnte. Wie unsere Band, wie Massive Attack, ihre Single „Angel“ derart abgezockt und kaltschnäuzig an die Werbung verkaufen konnte. War es denn nicht schlimm, dass ihre Musik in jeder Agentur, jedem Hotel, jeder Boutique hoch und runter gespielt wurde?

Wir fühlten uns verraten von unserer alten Liebe. Sie hatte sich für ein Taschengeld, das sie angesichts millionenfach verkaufter Alben nicht einmal nötig hatte, und ihren Namen im Abspann mittelmäßiger Filme verkauft, ausgezogen und wer weiß was noch alles angestellt. Und trotz alledem, obwohl Massive Attack uns so enttäuscht hatte, hörten wir kurz in die belanglosen Alben hinein, die auf MEZZANINE folgten. Aber eben nur kurz. Und das war auch okay so. Irgendwann hatten wir uns damit abgefunden, dass Massive Attack Teil einer großartigen Zeit war, die immer weiter von uns rückte – dass sich auf unserer Erinnerung Staubkummelungen absetzten, genau wie auf den vier großartigen Alben, mit denen die Jungs aus Bristol uns einst beglückt hatten.

Doch wer dieser Tage zufällig beim Plattenhändler seines Vertrauens vorbeikommt, wer zufällig bei einem digitalen Musikhändler vorbeisurft, der sollte indes ein letztes Mal innehalten und sich fürwahr noch einmal die Zeit nehmen, in das neue Werk unserer alten Liebe hineinzuhören. Denn er wird feststellen, dass Massive Attack auf ihrem neuen, fünften Studioalbum HELIGOLAND so sehr nach TripHop klingen wie seit den frühen Neunziger Jahren nicht, als sie mit BLUE LINES die Blaupause für diesen Sound entwarfen. Man muss, dass kann ich Ihnen versprechen, sich nicht einmal dafür schämen. Nein, das Gegenteil ist der Fall: HELIGOLAND ist geradezu eine Erlösung, die man genauso dankbar annehmen sollte, wie man es tut, wenn man seiner ersten Liebe Jahre später zufällig an einem Kanal in Venedig über den Weg läuft und bei einem Prosecco feststellt, dass man vielleicht nicht mit dem neuen Partner an ihrer Seite tauschen, sich ihrer aber auch nicht schämen muss.

Robert Del Naja, der gute alte „3D“, und sein Sidekick Grant „Daddy G“ Marshall haben es, mit der Unterstützung ziemlich klanghafter Hilfsarbeiter wie Damon Albarn, Guy Garvey (Elbow), Tunde Adebimpe (TV On The Radio) und Adran Utley von Portishead hinbekommen, endlich wieder ein Album aufzunehmen, dass so klingt wie Massive Attack klingen muss. Del Naja hat es mit HELIGOLAND, dem ersten Album in sieben Jahren geschafft, den Kreis zu schließen.

„Das gilt nicht nur für uns und unsere Musik, sondern auch für die Politik“, sagt Del Naja, dem es sichtlich guttut, von Journalisten nach all den Jahren der Mittelmäßigkeit ein wenig gelobt zu werden. Er behauptet zwar, dass Massive Attack „keine politische Band“ sei, er aber sehr wohl „Bürger eines Landes“ sei.

Und als solcher unterstützt der 44-jährige Brite politische Organisationen wie die Hope Foundation, die Geld für Flüchtlingslager im Nahen Osten sammelt. Dass er mit seinem Engagement in der britischen Musiklandschaft ziemlich allein steht, musste Del Naja vor dem Irak-Krieg lernen. „Niemand hat der Regierung geglaubt, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitzt, aber es fand auch niemand wirklich schlimm, ohne triftigen Grund dort einzumarschieren.“ Am Ende finanzierten nur er und Damon Albarn die ganzseitigen Anzeigen im NME gegen die britische Beteiligung am Krieg.

Auch der Titel der neuen Platte soll politisch gelesen wissen. Helgoland, die mächtige Felseninsel in der Nordsee, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Briten für Bombentests missbraucht: „Dabei wurde die totale Zerstörung der Insel als mögliche Konsequenz akzeptiert. Das ist doch verrückt. Ich sehe da durchaus Parallelen zum Irak.“

Am offensichtlichsten wird der politische Anspruch der selbsterklärten Nicht-Politik-Band jedoch auf der Bühne. Wenn Massive Attack ihre Musik live darbieten, leuchtet hinter den Musikern ein zehn Meter breites und drei Meter hohes Band aus Leuchtdioden, über das unzählige Informationen und Botschaften laufen, nicht selten in der Sprache des Gastgeberlandes: „Die Gedanken sind frei“, „Jeder Anruf zählt“ „Ich bin keine Nummer, ich bin ein freier Mensch“. Dann steht da die Summe, die die Großbanken zuletzt in den Sand gesetzt haben. Ein absurd hoher Betrag, so abstrakt wie das schwarze Loch, in dem die Milliarden verschwunden sind. Entrückte Zahlen aus verrückten Zeiten.

Anfang der Neunziger Jahre waren Massive Attack ein Sound System aus Bristol, das Politik und diese dunklen Klänge aus Dub, Soul, HipHop, Jazz und Funk, die es selbst am meisten faszinierte, noch fein säuberlich trennte. Die erste Techno-Euphorie war vorrüber, der Kater wenigstens einigermaßen erträglich, der Blick in die Welt leicht bedröppelt. Massive Attack fassten das Lebensgefühl in melancholisch tröpfelnde Beats und Tiefseebässe. Und irgendwie hat „dieses Massive-Attack-Ding“, wie Grant Marshall es nennt, „den Zeitgeist besser eingefangen als sonst eine musikalische Strömung.“ Doch aus der Strömung wurde sehr schnell eine Welle, die ebenso schnell brach wie sie Massive Attack nach unten riss. „Zuerst war BLUE LINES nur das Album, zu dem man nach einer Nacht im Club chillen konnte“, erzählt Marshall, „aber später tauchte die Musik in jedem Film auf, in jedem TV-Beitrag. Man konnte TripHop nicht mehr entkommen. Es schmeichelte uns zu sehen, dass wir etwas Großes geschaffen hatten. Aber es war auch unglaublich frustrierend, anderen dabei zuzusehen, wie sie unseren Stil kopierten.“

Der Stil entglitt. Das, was bei Massive Attack noch eine gewisse Bedrohlichkeit und Sinnlichkeit ausstrahlte, wurde zu Lounge, Electronica, Downtempo, Nu-Jazz. Zuerst elegant, dann egal.

Natürlich spürte das auch Del Naja, doch was sollte er tun? Es war schließlich nicht seine Schuld, dass die Welt sich zu schlechten TripHop-Platten zu Tode chillte. Del Naja zog sich immer mehr zurück, seine Musik wurde harscher, geradezu klaustrophobisch. Und reagierte somit direkt auf die tiefer gelegte Ausgeruhtheit der Welt um ihn herum. Eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt in dem 2003 erschienenen 100TH WINDOW fand, das wie vertontes Self-Bondage klingt. Del Naja hatte das Album fast alleine aufgenommen, Marshall Massive Attack verlassen. 100TH WINDOW wurde ein Desaster.

Sieben Jahre später sind die Grabenkämpfe und Richtungsstreits der Massiven vergessen. Und es ist gut, dass Del Naja und Marshall wieder zusammengefunden haben. Man muss sich nicht mehr schämen, wenn man im Plattenladen nach HELIGOLAND fragt, übrigens die eingängigste Massive-Attack-Platte seit BLUE LINES. Del Naja behauptet sogar, „dieses Album ist fast schon aufgekratzt, optimistischer als alles, was wir je gemacht haben“. Das wiederum ist jedoch eine Frage des Standpunkts. Aber Immerhin ein Standpunkt, für den man sich nicht schämen muss.