Mercury Rising


Das Quintett aus New Jersey setzt mit seinem vierten Album auf exzentrischen Wohlklang: Mercury Rev über Bier, Bienen und Harmonien.

Irgendwie muß der Flug nicht so ganz das Wahre gewesen sein. Die Mitreisenden zu langweilig, die Sitze zu eng, das Essen zu fad. Gut möglich, daß es so gewesen ist. Fakt ist auf jeden Fall, daß Grasshopper nichts Anständiges zu trinken bekommen hat: Die Stewardessen wollten ihm nichts Hochprozentiges servieren. Deshalb ist der Gitarrist von Mercury Revjetzt sauer und hat, zurück auf dem Boden, erst mal Nachholbedarf. Es dürstet ihn nach Stoff mit hoher Drehzahl, und so stellt er im Büro der Plattenfirma klar, wie er sich das Procedere des weiteren vorstellt: „No gin – no talk.“ Knapper kann man es wohl nicht sagen – und weil aus dem Tag ja ein Interviewtag werden soll, ist die Ginflasche schon bald zu einem guten Viertel geleert. Dafür redet Grashopper aber auch. Und was der Mann, der eigentlich Sean Machowiak heißt, sagt, hat Hand und Fuß. „So wie die Bienen das mit dem Honig machen, so machen Mercury Rev das mit der Musik.“ Das klingt schwer süßlich und nach gewußt wie. Auf „Deserter’s Songs“ aber, das mittlerweile vierte Album von Mercury Rev, trifft das es zu. Da gibt es eine ganze Badewanne voller Harmonien, alles ist auf Wohlklang getrimmt, und die Songs sind schwelgerisch bis zum Gehtnichtmehr. Die Orgeln wummern, eine singende Säge säuselt herzzerreißend, die Gitarren sind in Watte gepackt – und in einem Song spielen Mercury Rev sogar eine Akkordfolge aus „Stille Nacht, heilige Nacht“. Keine Frage: Dieses Album ist Eskapismus pur – oder, wie es Grashopper formuliert: „‚Deserter’s Songs‘ ist der Versuch, mit Musik Mädchen zu erreichen.‘ Nach Bienenart mit Musik an Mädchen rankommen – nicht immer ging es so stringent zu bei Mercury Rev. Gegründet wurde die Band nämlich bereits Ende der 8oer Jahre in Hudson Valley, einem Ort im Groiiraum New York. Und auf Platten wie „Yerself Is Steam“ und in Liedern wie „Chasing A Bee“ hatten es Mercury Rev zwar auch schon früher mit dem Insekt, aber eher kakophonisch. Die Songs waren oft dissonant, der Gitarrensound verzerrt und mit allerlei Störgeräuschen gespickt. Zum einheitlichen Wohlklang der aktuellen Platte fanden Mercury Rev erst nach einem Beinahe-Split und mehreren Besetzungswechseln. Zu den „Deserter’s Songs“ sind nun alle Gründungsmitglieder wieder vereint, und das findet Jonathan Donahue einigermaßen erstaunlich. Richtig: Der Sänger von Mercury Rev sitzt auch dabei, war aber bisher mehr mit seinem Bier beschäftigt. Mittlerweile beim achten angekommen, will er jetzt so richtig loslegen. Aber er kann nicht. Mit der korrekten Artikulation hapert es doch erheblich, was vor allem für die Kollegen vom Radio nicht so schön ist.Trunkenes Gebrabbel gibt nun mal keine sendefähigen O-7öne her. Mercury Rev sind eben eine Band, die sich konventionellen Vorstellungen konsequent verschließt. Ähnlich konsequent geht es übrigens im Video zur Single „Goddess On A Hiway“ zu. Keine schnellen Schnitte, keine hektischen Kamerafahrten, statt dessen junge Männer beim Angeln, die definitiv die Ruhe weg haben. Reichlich Zeit muß auch vor dem Kölner Konzert der Band investiert worden sein, denn alles ist bis aufs I-Tüpfelchen vorbereitet: Auf der Bühne hängen mehrere Lichterketten, dazu flackert eine ganze Armee weißer Kerzen, und zwischen den Boxen glimmen Räucherstäbchen mit Patchouli-Duft. Zur Feier des Tages hat Jonathan Donahue ein bißchen Kajal aufgelegt und sich Glitter unter die Augen geschmiert. Und dann spielen Mercury Rev einen Set, daß einem ganz schwupps im Schädel wird. Herrlich verhuscht, melodieverliebt und einfach schön. In „Holes“ singt Jonathan dann diese denkwürdige Zeile: „Bands, those funny little plans, that never work quite right“. Wer die „Deserter’s Songs“ gehört hat, weiß, daß das kompletter Humbug ist. Es sei denn, die Stewardessen servieren mal wieder keinen Alkohol.