Mit seinem Label Real World Records feiert Peter Gabriel zehnjähriges Jubiläum. Seine Solo-Alben stellt der Weltmusik-Fan derweil hinten an.


Südwest-England, eine halbe Stunde entfernt von Stonehenge. In idyllischen Hügeln liegt versteckt, malerisch neben einem Bach, das Real World Anwesen, aus einer 200 lahre alten Mühle errichtet. Das modern und nach baubiologischen Gesichtspunkten eingerichtete Studio hat Millionen gekostet, weil ganz in der Nähe eine Eisenbahnlinie vorbeifuhrt, und die Schalldämmung sehr teuer war. Außerdem hat Peter Gabriel, der Ästhet, einen Glasboden in das Studio einbauen lassen, damit man die Fische im Aquarium darunter sehen kann. Also optimale Voraussetzungen für Plattenaufnahmen. In den zu Einfachstudios umgebauten Ställen und Schuppen drum herum ist die Ausstattung wesentlich schlichter. Aber für die Recording Week, zu der Real World alle zwei Jahre um die 100 Musiker aus aller Welt lädt und bei der es jedesmal charmant-chaotisch-kreativ zugeht, reicht es allemal. Peter Gabriel gründete das Ethno-Label Real World vor zehn lahren, weil er und sein Kollege Thomas Brooman „nicht die Platten in den Läden fanden, die uns interessierten.“ Musik, die sie interessierte, das war Ethno Musik, wie sie schon seit 1980 auf dem von Gabriel mitgegründeten WOMAD (World Of Music, Ans and Dance) Festivals zu hören war. Mit dem Real World Label wollte man Musikern aus aller Welt die Gelegenheit geben, „ihre traditionelle Musik unter die Leute zu bringen und sich mit Kollegen aus anderen Erdteilen auszutauschen“, so Gabriel. Das Projekt sah zu Beginn nach einem teuren Hobby aus, hat sich aber inzwischen erstaunlich gut entwickelt. Insgesamt hat die kleine Plattenfirma in der vergangen Dekade rund drei Millionen Alben verkauft. Peter Gabriel hatte damit anfangs genausowenig gerechnet wie Real World Label Managerin Amanda Jones: „Wir dachten: Wir sind schon froh, wenn wir von jeder CD 2000 Stück verkaufen. Aber vom ersten Afro Celt Sound System-Album haben wir 200.000 Exemplare abgesetzt.“ Diese Combo hat sich mittlerweile zum Bestseller bei Real World entwickelt. Und siehe da: Madonna integriert indische Klänge, Sting baut plötzlich arabische Elemente in seine Musik ein. Der Ethno-Virus hat sich ausgebreitet, und daran ist Real World zum großen Teil schuld. Davon ist Peter Gabriel überzeugt. Lind auch Simon Emmerson von den Afro Celts fragt: „Was haben l’aithless und The Prodigy gemeinsam? Sie ließen sich alle von der indischen Real World Musikerin Sheila Chandra inspirieren. Zwar schreibt die Rockpresse lieber nicht darüber, Fakt ist aber: Mit der Rockmusik geht’s bergab. Etwas Neues muß her.“ Musiker landen auf ganz unterschiedlichen Wegen bei Real World: Durch persönliche Empfehlungen oder durch Kontakte, die auf den WOMAD-Festivals geknüpft werden. „Viele Künstler schicken uns auch einfach ein Tape“, sagt Peter Gabriel. Was sind die Auswahlkriterien für einen Vertrag bei Real World Records? „Wir entscheiden aus dem Bauch raus“, sagt Peter Gabriel. „Wir müssen die Musik auch privat mögen.“ Zu Peters derzeitigen Favoriten gehört das Werk der Inderin Sheila Chandra. Der mittlerweile glatzköpfige Gabriel, der seit zwei lahren mit seinem Soloalbum überfällig ist, bekennt neidisch: „Ich wünschte, ich hätte so viele Ideen wie Sheila.“

MARYAM MURSAL – Kufilaw (5:00)

In glücklicheren Tagen war Mursal die Stimme Somalias. Doch als 1991 Bürgerkriege das Land zerrissen, floh die Mutter von fünf Kindern mit ihrer Familie Monate lang durch Kenia und Äthiopien in die dänische Botschaft von Dschibuti.“Es war Zeit zu gehen, als ich Hunde sah, die auf den Straßen Menschenleichen fraßen“, erinnert sich Mursal,die heute in Dänemark wartet, bis sich die Verhältnisse zu Hause bessern. „Kufilaw“auf der CD im ME ist nicht nur Ausdruck der Hoffnung, die die leidgeprüfte Afrika-Blues Diva in sich trägt, sondern auch Dokument für die arabischen Einflüsse in der somalischen Kultur.

PETER GABRIEL – A Different Drum (4:40)

Der Meister selbst hat sein experimentellstes Solo-Projekt auf dem eigenen Label veröffentlicht: „Passion“ ist unter anderem die Musik zu dem umstrittenen Martin Scorsese Film „Die letzte Versuchung Christi“, insgesamt aber als unabhängiges Werk gedacht. Die Arbeit an den Tracks dauerte von 1983 bis nach Veröffentlichung des Films 1989. Nur wenige Titel haben Songstrulctur, der Großteil besteht aus Klanglandschaften, beeinflußt von Tradition und Kultur in Nordafrika. Die Gesänge von „A Different Drum“ wurden von Youssou N’Dour und Peter Gabriel in den Real World Studios aufgenommen.

NUSRAT FATEH ALI KHAN – Mustt Mustt (Lost In His Work) (5:15)

1997 starb mit Nusrat Fateh Ali Khan ein in jedem Sinne gewichtiger Weltmusiker an den Folgen eines Herzinfarkts. Der Mann aus Pakistan war ein außergewöhnlicher Sänger, durch seine Soundtrackarbeit zu „Natural Born Killers“ und „Dead Man Walking“ wurde er international zum Star, allerdings ohne jemals kommerzielle Kompromisse einzugehen. Peter Gabriel nennt ihn seine Hauptinspiration neben Otis Redding. „Mustt Mustt“auf der ME/Sounds-CD ist Dokument der unglaublichen Kraft des Stimmberges und war Vorlage für einen Massive Attack Remix.

PAPA WEMBA – Yolele (3:22)

Wemba wurde 1953 in Kasai in Zaire geboren und ist Zentralafrikas größter Popstar. Nachdem sein Heimatland 1960, nachdem es unabhängig wurde, zur eigenen Tradition zurückfand, erhielt sich Wemba seine Liebe für Otis Redding und unterzieht heute leichten, tanzbaren Pop einer afrikanischen Wurzelbehandlung. Die Stimmarbeft von Wemba ist beachtlich. Produziert wurde das Werk von Stephen Hague (u.a. Pet Shop Boys, Erasure). Der Künstler Papa Wemba lebt heute in Paris und hat sich mit einer Vorliebe für japanische Designer mittlerweile einen Namen als Model in der französischen Modeszene gemacht.

GEOFFREY ORYEMA – Miracle Man (2:46)

Aufgewachsen ist Oryema in einer Künstlerfamilie in Uganda, seit 1977 lebt er in Paris. In dieser europäischen Hauptstadt afrikanischer Kultur vermischt er in seiner Arbeit traditionellen Afro-Beat mit kommerziellen West-Einflüssen, was seine Musik solide in der heimischen Welt verwurzelt und doch leichtverdaulich macht. Seit seinem Auftritt beim Nelson Mandela Konzert ist er einer der erfolgreichsten afrikanischen Künstler. „Miracle Man“ beschreibt einen, so Oryema, „revolutionären Poeten, dessen Stift mächtiger ist als die Waffe, der mit Blut statt Tinte schreibt“.

JOI – Fingers (6:35)

„Fingers ist der Opener aus dem Debüt-Album „One and One is One“, das seit Jois 93er Single-Erfolg „Desert Storm sehnsüchtig erwartet wurde. Die Bengalen Farook und Haroon Shamsber haben sich zunächst als DJs im Londoner Blue Note Club einen Namen gemacht. Nach und nach arbeiteten sich die beiden zu einflußreicheren Soundbastlern und Musikern hoch. Joi vermischen Einflüsse aus ihrer inaischen Heimat mit den Clubrhythmen des Londoner East End, die Brüder gelten als Innovatoren des Fusion Breakbeats. Mit „One …“ haben die Shamshers ein Album vorgelegt, das ein großer Anfang zu sein schien und doch das Ende war: Kurz nach der Veröffentlichung verstarb Haroon (im Foto rechts) an einem Herzinfarkt.

SHEILA CHANDRA – Ever So Lonely/Eyes/Ocean (3:26)

„Eine der schönsten Stimmen der Welt“, urteilte das Billboard Magazin über die mutige Inderin, die in den 90ern Solo-Alben aufgenommen hat, auf denen allein ihre Stimme zu hören ist. Chandra ist die einzige asiatische Künstlerin, die in den 80ern in Europa Charterfolge hatte. Eine instrumentierte Version von „Ever So Lonely“ war bereits 1982 ein internationaler Hit für die damals 76jährige. In der aktuellen Aufnahme von „Ever So Lonely/Eyes/Ocean „wird sie lediglich von einer zurückhaltenden Basspfeife begleitet.

THE ANANDA SHANKAR EXPERIENCE & STATE OF BENGAL – Streets Of Calcutta (live) (4:44)

Kurz vor seinem Tod im März erfreute sich Ananda Shankar eines unerwarteten Höhepunktes seiner Karriere. Durch ein Revival von psychedelischem, indischem Discosound der 60er war der 55jährige letztes Jahr in der Lage, auf höchst erfolgreiche Tournee in England zu gehen, während die Preise von seinen raren Original-Vinylen in den Himmel schössen. Auf seinem letzten Album „Walking On“ verpaßt DJ Sam Zaman von State of Bengal Shankars West-Ost Fusionen Drum ‚N Bass Loops.das Ergebnis sollte jeder Untergrund-DJ in seiner DJ-Bag tragen. „Streets Of Calcutta“ wurde 1998 live in Manchester eingespielt.

AFRO CELT SOUND SYSTEM – Release (Single Edit) (4:13)

Die Afro Celts bewegen sich in einem kaum erforschten Terrain zwischen experimentellem Dance, Tribal und uralten Ethnotraditionen. Zusammengesetzt aus sechs Kreativen, denkt die Band musikalisch in irischen, keltischen und westafrikanischen Bahnen. Das Album „Release“ setzt im Weltmusikbereich Maßstäbe in der Gesamtproduktion-ein ganzes Jahr hat sich das Sextett allein für die Kompositionen Zeit gelassen. Auf „Release“ singen Sinead O’Connor mit larla O’Lionaird.

ABDELLI – Adarghal (The Blind In Spirit) (4:09)

Bevor der 17jährige Abdelli in die algerische Hauptstadt Algiers zog, war er in seinem Heimatdorf dafür bekannt, aus jedem erdenklichen Abfall musikalische Werkzeuge zu basteln: Aus alten Ölfässern wurden Trommeln, aus Angelschnüren Saiteninstrumente. Die Melodien, die er als Zwölfjähriger erfand, waren von solcher Reife, daß man zunächst an seiner Urheberschaft zweifelte, ihm später aber eine steile Karriere prophezeite, was sich nach einer Europareise 1987 bewahrheitete. Das durch Flöten und Streicher getragene „Adarghal“ entfaltet bei näherem Hinhören einen faszinierenden Groove.

TAMA – Ta’Aba (Radio Mix) (4:49)

„Nostalgie“, das aktuelle Album von Tama, ist das eher zufällige Produkt einer spontanen und multikulturellen Zusammenarbeit: 1997 trafen sich die Westafrikaner Tom Diakite (Mali) und Djanuno Dabo (Guinea-Bissau) mit dem Londoner Sam Mills bei einem Festival im englischen Reading. „Wir hatitr, MuJiozeit übrig und spielten ein paar Songs, die nicht geprobt waren, aber richtig gut klangen“, erzählt Mills. Das Album überzeugt mit einem komplexen Mix aus afrikanischen Melodien und den ausgefeilten Percussions von Dabo. Die Wärme der Aufnahme von „Ta‘ Aba“ ist das Ergebnis einer sample- und overdubfreien Aufnahme mit altem Analogequipment im Pariser La Salle Studio.

THE DHOL FOUNDATION & FUN^DA^MENTAL – Nothing Without You (Tery Bina Remix) (6:09)

Das hinterlassene Werk von Ali Khan ist bedeutend genug, um auf einem eigenen Album „Star Rise“ geremixt zu werden. „Nothing Without You ist im Original auf Khans „Mustt Mustt“ Album zu finden, im vorliegenden Mix haben sich die Dhol Foundation mit Fun A Da“Mental von den rhythmischen Elementen des Tracks inspirieren lassen und daraus ein experimentelles Klangbild von treibender Hypnotik gebastelt.

JOJI HIROTA – Komori Uta (6:02)

Der Multi-Instrumentalist aus Hokkaido lebt seit 1972 in England und ist einer der bedeutendsten Sewahrer japanischer Volksmusik. Auf der LP „The Gate“ dominieren traurige Klänge. Hirota mußte 1998 zunächst den Tod seines Vaters, dann den seines Schlagzeuglehrers verarbeiten. „Komori Uta“ ist ein Schlaflied aus dem Tokio des 17. bis 19. Jahrhunderts. Hirota ließ die hypnotische Melodie von der achtjährigen Eimi Mori einsingen. Der Song ist ein bewegendes Stück japanischer Geschichte und der Anfang eines ruhigen ostasiatischen Ausklangs der CD im ME.

YUNGCHEN LHAMO – Happiness Is … (5:06)

Freiheit ist das Lieblingsthema der Exiltibeterin, die unter chinesischer Fremdbestimmung und Unterdrückung aufwuchs, bis sie vor zehn Jahren zu Fuß über den Himalaja aus ihrer Heimat floh. Seither kämpft die Ausnahmekünstlerin im Rahmen der Tibetan Freedom- und Lilith Fair-Konzerte für Verständnis der Probleme Tibets. Das aktuelle Album „Coming Home“ ist dem Dalai Lama gewidmet und wurde zurückhaltend produziert von Hector Zazou (Björk, John Cale). „Happiness is…“ verbindet buddhistisch-meditativen Gesang mit sanften westlichen Klängen.